Magazinrundschau - Archiv

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Magazinrundschau vom 21.08.2018 - Rue89

Der Anthropologe und Forensiker Philippe Charlier hat zusammen mit dem Zeichner Richard Guérineau einen Comic über Untote in Haiti geschrieben. Im jetzt online gestellten Interview Renée Greusard spricht er über die Zombis, die von den Hollywood-Zombies dadurch unterscheiden, dass es sie wirklich gibt: "Es gibt drei Arten von Zombis. Der erste ist der toxische Zombi, dessen Vergiftung von einer Geheimgesellschaft beschlossen wurde (von den Bizango oder den Cochons gris), weil man glaubt, dass er der Gesellschaft schade. Ein Vergewaltiger, ein Mörder, ein Erbschleicher, so was. Man sagt  ihm: 'Wenn Du nicht aufhörst, wird dir Schlimmeres als der Tod widerfahren.' Und ein Zombi sein, das ist schlimmer als der Tod. Es gibt auch diejenigen, die zum Beispiel von ihrer Schwiegermutter vergiftet werden, oder von jemanden, der ihnen Böses will. Aber das ist ein Missbrauch des 'legalen' Gifts, das im Voodoo benutzt wird (Tatsächlich bestraft das hatitianische Gesetz die Zombifizierung - Anm. d. Red.). Der zweite Typ Zombi ist der psychiatrische. Das sind die Leute, die glauben, sie hätten das Reich der Toten besucht. Sie haben, wie man sagt, mit Baron Samedi und Maman Brigitte gegessen. Das sind in der regel Fälle von Schizophrenie oder anderen Pathologien. Und schließlich gibt es den letzten Typ, den sozialen Zombi. Nach einer Naturkatastrophe (leider wird Haiti oft von Erdbeben, Flutwellen oder Zyklonen getroffen) ist der Vater, die Mutter oder jemand verschwunden, der für die Familie wichtig ist. Er wird ersetzt durch jemand anderes ersetzt. Und alle gaukeln sich was vor. Man tut so, als wäre die Person ein Zombi, wohlwissend, dass er weder die Person noch ein Zombi ist. Alle Welt weiß das, aber niemand sagt es. Es ist ein Spiel. Es ist ein wenig wie bei der 'Rückkehr des Martin Guerre'. Ziel ist, die Lücke der verschwundenen Person zu füllen."

Magazinrundschau vom 13.09.2016 - Rue89

Sind die Kommunikationsarchivalien von Handys und Facebook und Co. dabei, zur Grundlage von Literatur und wissenschaftlicher Forschung zu werden? Der Sozialwissenschaftler und Schriftsteller Ivan Jablonka jedenfalls arbeitet damit und erzählt in seinem Buch "Laëtitia ou la fin des hommes" die - wahre - Geschichte der brutalen Ermordung des Mädchens gleichen Namens im Jahr 2011. Quelle dafür sind ihre Facebookseite und ihre noch kurz vor ihrem Tod verschickten SMS. Im Gespräch mit Claire Richard erklärt der Autor, wie er vorging. "Man erschließt sich ein solches Dokument, indem man es in Kontexte stellt: einen persönlichen Kontext (Laëtitias Leben), einen soziologischen (ein junges Mädchen aus einer bestimmten Generation und einem bestimmten sozialen Milieu) und einen historischen (ein Mädchen, das sein 'Ich' in Szene setzt, wie andere vor ihm). Das ist die Methode der Erfassung. In diesem Sinne ist der Wissenschaftler ein Verwandter des Journalisten und des Ermittlungsrichters."

Magazinrundschau vom 30.08.2016 - Rue89

In einem langen Interview erklärt der Netz-Soziologe Antonio Casilli, warum man das Internet trotz Überwachung und der Milliardäre im Silicon Valley noch immer lieben kann. Allerdings müssen wir erst noch richtig seine Sprache verstehen: "Die Kommunikation im Internet reproduziert jene sprachlichen Elemente, die wir 'phatisch' nennen, all die Wörter wie 'Hallo', die keine andere Information transportieren, als Anwesenheit zu signalisieren und die Bereitschaft zu sprechen. Im Internet wimmelt es von solchen phatischen Elementen: das 'like', das 'poke'... Doch das Internet ist weniger ein Ort der aggressiven als vielmehr der mehrdeutigen, komplexen Kommunikation, die Missverständnisse schafft und für die wir noch nicht alle Codes haben." Eindeutig ausbeuterisch findet er allerdings, was unter der dem Label der Ökonomie des Teilens firmiert: "Wer kümmert sich um die Altersvorsorgen dieser Menschen? Ihre Sozialversicherung? Ihre Ausbildung? Das ist  Privatisierung unter dem Label des Teilens, dabei existiert eine echte Ökonomie des Teilens, die unter einer beschädigten Reputation leidet."

Magazinrundschau vom 14.06.2016 - Rue89

In einem Gespräch mit Delphine Cuny erläutert die amerikanische Mathematikerin Cathy O'Neil, Mitglied der Gruppe Occupy Finance, die These ihres Buchs "Weapons of math destruction", wonach Big Data Ungleichheiten verstärkt und die Demokratie gefährdet. Durchaus nicht alle Algorithmen seien "böse", viele würden jedoch in für den Menschen maßgeblichen und existenzrelevanten Bereichen wie Gefängnis, Arbeit oder Kreditvergabe eingesetzt: "Man muss gewährleisten, dass diese Algorithmen fair und gerecht verfahren. Es gibt keinerlei Anlass zu glauben, das wäre der jetzt Fall, denn im Code sind Urteile eingebaut. Mein Ziel ist es, auf die schlimmsten Beispiele hinzuweisen, etwa in der Bildung und in der Justiz, damit jeder diesem Problem mehr Aufmerksamkeit schenkt."

Magazinrundschau vom 16.02.2016 - Rue89

Alice Maruani hat einen der Islamisten besucht, die in Frankreich unter Hausarrest stehen, und lässt ihn unter dem Pseudonym Adam erzählen, was er seit drei Jahren den ganzen Tag so treibt. Denn arbeiten darf er nicht, sein einziger "Horizont" sind die sozialen Netze. "Adam kultiviert die Zweideutigkeit. Er prangert die 'Verwechslungen der Ignoranten' von IS und Scharia an, fragt sich jedoch, 'warum es illegale Dschihadisten gibt, wie die vom IS, und legale wie in Mali'. Als 'Autodidakt' hat er radikale Denker gelesen, keineswegs alle von der gleichen politischen Seite, wie etwa den anarchistischen Intellektuellen Noam Chomsky oder den Schriftsteller Marc-Edouard Nabe. Kurz, Adam mag es, den Schlaukopf zu geben, und sich in der Grauzone zu bewegen. Er teilt mir seinen Schocksatz mit: 'Nicht der IS hat die meisten Moslems getötet, sondern die amerikanischen Interventionskreuzzüge'."

Magazinrundschau vom 08.12.2015 - Rue89

Die Redaktion habe länger diskutiert, ob sie den Text eines Muslims bringt, der sehr persönlich über seinen Glauben und dessen Fundierungen schreibt; sie fand jedoch, auch diese Sätze sollten Gehör finden. Der Wahhabit Faouz bekennt in seinem Artikel, dass er durch die "Schule der Republik" zum Salafisten geworden sei, und erläutert, warum er die Taten der Attentäter strikt ablehnt. Er schreibt: "Ich bin nicht naiv, die Tatsache, dass ich den takfiristischen Terrorismus unmissverständlich ablehne, macht mich in den Augen meiner Mitbürger leider nicht liebenswerter. In Frankreich liegt das Übel viel tiefer: Man kassiert den Gesichtsschleier wie man die Pfarrer kassiert hat, Gott darf präsent sein, aber nicht zu sehr. Bekehrungseifer nervt, ob er nun von einem Moslem oder von einem Zeugen Jehovas kommt."

Magazinrundschau vom 21.07.2015 - Rue89

Bertrand Mialaret stellt den chinesischen Schriftsteller Murong Xuecun vor. Der 40-Jährige ist einer der bekanntesten chinesischen Autoren, was er dem Internet verdankt. Auf Weibo, dem chinesischen Twitter, hat er jedenfalls acht Millionen Follower. Auf die Frage, was er von den jungen chinesischen Autoren hält, anwortet er: "Das ist derzeit keine glückliche Zeit für Literatur in China. Wenn ich an Treffen von Schriftstellern, Journalisten und Intellektuellen teilnehme, wird dort meistens über die Börsenkurse geredet! Manche, die schon einen vielversprechenden Roman geschrieben haben, machen nicht weiter und gründen stattdessen lieber eine Firma, um Geld zu verdienen."

Magazinrundschau vom 14.04.2015 - Rue89

Müssen wir Angst vor künstlicher Intelligenz haben? Darüber unterhält sich Pierre Haski in einem langen Gespräch mit dem Straßburger Cyberanthropologen Michel Nachez. Science-fiction-Autoren seien jedenfalls nicht mehr die Einzigen, die eine Katastrophe zwischen uns und den Maschinen voraussagen, Warnungen kommen inzwischen auch etwa von Bill Gates, Stephen Hawking oder Technopropheten wie Ray Kurzweil. Nachez findet das nicht übertrieben: "Man sagt uns, dass 2050, das liegt schon sehr nah, aufgrund des Moorschen Gesetzes … die Maschine derartig leistungsfähig sein wird, dass sie ein Bewusstsein zeigt. Kurzweil sagt, es werde ein Punkt der technologischen Singularität sein, d.h. der Moment, in dem Bewusstsein in den Maschinen zutage tritt. Das ist beunruhigend ... da es ein globales Bewusstsein ist. Denn bei der Maschine handelt es sich nicht um eine irgendwo in einem Labor, sondern alles ist im Netz."

Magazinrundschau vom 31.03.2015 - Rue89

In einem totalitären System weiß man wenigstens, womit man es zu tun hat, erklärt die Juristin Antoinette Rouvroy in einem Gespräch über das Gesetz zum Einsatz von Algorithmen zur Aufspürung verdächtiger Verhaltensweisen. Sie sieht dahinter eine Big-Data-Ideologie walten, die uns möglicherweise zur Selbstzensur treibe, dabei jedoch mehr als deutliche Grenzen habe: "Ich habe Slavoj Zizek sagen hören: "Ich habe mit der Überwachung nichts zu schaffen, weil Algorithmen dumm sind." Dem stimme ich zu. Für ihn ist das, als lese man einer Kuh Hegels "Ethik" vor. Er fühlt sich durch die Überwachung nicht bedroht, weil das, was in seinem Kopf vorgeht, nie im gleichen Moment in eine digitale Fährte übertragbar ist. Und das glaube ich auch. Man will uns in dieser Big-Data-Ideologie glauben machen, alles wäre digitalisierbar, einschließlich unserer Absichten, die wir noch gar nicht formuliert haben. Ich denke, es ist eine Form von Renitenz, sich wirklich bewusst zu machen, dass keineswegs alles in der Maschine ist. Und dass es sehr wohl immer noch einen radikalen Unterschied zwischen der wirklichen und der digitalen Welt gibt."

Magazinrundschau vom 24.02.2015 - Rue89

"Die Technik besitzt Eigenschaften, die wir in der Religion suchen", meint der amerikanische Wissenschafts- und Technikhistoriker George Dyson, der auf die Frage, wann die Maschinen die Oberhand gewinnen werden, gerne antwortet, das hätten sie längst getan. Im Gespräch mit Antoine Viviani erklärt er: "Meine Theorie ist daher folgende: Es kann sein, dass der Teufel immer wartet und dass er die Computer will. Und unsere Aufgabe als Menschen besteht darin, uns davon zu überzeugen, dass die Computer nicht zum Werkzeug des Teufels werden, was, wie wir wissen, möglich ist. Sie können dazu dienen, Wissen für alle bereitzustellen - oder die ganze Welt zu beherrschen. Es ist unsere Aufgabe dazu beizutragen, diese Entscheidung zu treffen."
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