Magazinrundschau - Archiv

The New Yorker

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Magazinrundschau vom 21.11.2023 - New Yorker

Joyce Carol Oates ist eine ziemlich schreibwütige Autorin, stellt Rachel Aviv fest, mindestens ein Buch schreibt sie jedes Jahr - Schreiben ist auch Lebens- und Krisenbewältigung. Eine solche Krise hat Oates nach ihren ersten veröffentlichten Büchern erlebt und sich produktiv zu Nutzen gemacht: "Sie hat sich gefühlt sich als hätte sie eine Wolke im Kopf, die sich langsam ausbreitet, bis sie so schwer war wie Beton. Sie hat eine Reihe an Spezialisten konsultiert, um herauszufinden, ob etwas mit ihr falsch ist. Eines Tages hat sie im Bett liegend darüber nachgedacht, wie viel Zeit sie mit Arztterminen verbracht hat. 'Ich dachte mir - was für eine Zeitverschwendung, wirklich, aber warum nicht eine Geschichte darüber schreiben?', hat sie ihrer Freundin Gail Godwin geschildert und nahegelegt, dass die Symptome psychosomatischer Natur sind. Die Kurzgeschichte heißt 'Plot' und handelt von einem männlichen Autor, der kurz vor einem Nervenzusammenbruch steht und jede seiner Stimmungen in einen seiner Charaktere oder in eine Szene transformiert. Oates hat Godwin erzählt, dass Kunst die Bedingungen für einen gesunden Verstand schaffen kann. 'Wenn ich mich unruhig fühle, schreibe ich über eine unruhige Person', erklärt sie. 'Wenn mir danach ist mich aufzulösen, ist es nur natürlich, mich in etwas anderes aufzulösen.' Die gleiche Methode lässt sich anwenden, schreibt sie, bei dem Dilemma, eine 'umfassende, komplexe Seele' zu haben, die öffentlich aber nur als 'dünnes, fadenscheiniges Rinnsal' erscheint. Als Oates 'Plot', in der Paris Review erschienen, noch mal gelesen hat, dachte sie 'Mein Gott! - War ich das?', wie sie Godwin schrieb. 'Und habe ich das überstanden, habe ich die Sache besiegt? Oh ja.' Fiktion, hat sie in ihr Tagebuch geschrieben, kann als eine Art 'Gegen-Zusammenbruch' wirken."

Magazinrundschau vom 07.11.2023 - New Yorker

Den Schwierigkeiten, den Strippenziehern des Menschenhandels beizukommen, widmet sich Ed Caesar im New Yorker: Der Eritreer Kidane, ein ehemaliger Obst- und Gemüsehändler, den alle nur unter diesem Vornamen kennen, hat wohl Millionen Dollar damit verdient, Flüchtlinge auszubeuten, zu foltern und ihre Familien um Geld zu erpressen. Die Justiz ist damit überfordert: Der internationale Strafgerichtshof hat bislang keine Anklage gegen am Menschenhandel Beteiligte in Libyen erhoben. Bei einer Gerichtsverhandlung in Addis Abbeba gelang es ihm, mit Hilfe von Bestechung zu entfliehen. Das Ausmaß der Brutalität des Menschenhandels, der von Kidane und seinen Helfern praktiziert wird, verschlägt einem den Atem. "Nachdem der Arabische Frühling 2011 zu einer Revolution in Libyen geführt hatte, begann Kidane in diesem Land zu arbeiten - unter anderem in Misrata, einer Stadt am Mittelmeer, in der viele Migranten landeten, bevor sie das Meer überquerten. Bis 2014 hatte er genug Geld und Macht erlangt, um sich in der kriminellen Nahrungskette nach oben zu arbeiten. Er begann, in einer anderen Küstenstadt, Sabratha, ein Lager zu betreiben, in dem viele Migranten festgehalten und erpresst wurden, bis die Überfahrt für sie gebucht war. ... Kidane und die Wachen hielten die Migranten in einem Zustand ständiger Angst. Alle paar Tage wurden Menschen aus der Menge herausgezogen und aufgefordert, ein Familienmitglied auf einem Mobiltelefon anzurufen. Nachdem der Migrant seine Notlage geschildert hatte, wurde er brutal misshandelt, während seine Entführer das Familienmitglied um die Tausende von Dollar baten, die es kosten würde, ihn freizukaufen. Eine gängige Foltermethode bestand darin, das Fleisch der Gefangenen mit geschmolzenem Plastik zu versengen. ... Viele Migranten verbrachten Monate unter Kidanes Kontrolle. Ein Äthiopier, den ich traf, Seleshi Girma, verbrachte mehr als drei Jahre in dem Lager - seine Familie war bitterarm und brauchte so lange, um das Lösegeld zusammenzukratzen. Fast alle, mit denen ich über Kidane sprach, glaubten, dass er ein sadistisches Vergnügen an den Schlägen hatte. Sicherlich fügte er seinen Opfern mehr Schmerzen zu, als nötig war, und peitschte sie oft mit Gummischläuchen aus. Ein weibliches Opfer sagte gegenüber Le Monde, dass sie während ihrer sechsmonatigen Gefangenschaft wiederholt von Kidane vergewaltigt worden sei. Sie nannte ihn eine 'Hyäne, die beim Anblick von Blut erregt wird'. Die Migranten erinnern sich an von Kidane organisierte Fußballspiele, bei denen Spieler, die eine Torchance verpatzten, erschossen wurden. Die Siegermannschaft erhielt eine Migrantin zur Vergewaltigung."

Außerdem: Adam Gopnik porträtiert den amerikanischen Bürgerrechtler Bayard Rustin. Rivka Galchen sah die Netflix-Doku "Life on our Planet". Michael Schulman bespricht Ridley Scotts "Napoleon".

Magazinrundschau vom 31.10.2023 - New Yorker

David Remnick sendet eine erschütternde Reportage aus Israel, für die er auch einen der von der Hamas überfallenen Kibbuze besucht hat: "Ein IDF-Presseoffizier hat uns schusssichere Westen und Schutzhelme gegeben. Es hatte schon ein paar Tage keine Schusswechsel mehr gegeben, keine Anzeichen, dass sich noch Hamas-Kämpfer in der Gegend befänden, aber ein Offizier hat uns gewarnt: 'Das hier ist aktives Kampfgebiet.' 1951 gegründet, war Kfar Aza ein wohlhabendes Kibbuz, an das zwei Unternehmen angeschlossen waren, eines, das Färbemittel für Plastik hergestellt hat, ein anderes hat Licht- und Soundsysteme für Veranstaltungen bereitgestellt. Ungefähr 750 Menschen haben dort gelebt, mit Kindergärten, einem Fitnessstudio, einem Schwimmbad, einem Friedhof. Jetzt waren die meisten Häuser von Kugeln durchsetzte Ruinen, eingestürzt, gesprengt, in Brand gesetzt. Früher an jenem Tag waren die letzten Leichen vom Gelände entfernt worden, aber der Gestank des Todes war geblieben. Uns wurde gesagt, dass es so viele Leichen gegeben hat, oft verbrannt oder verstümmelt, dass die jungen IDF-Soldaten ihre Arbeit hier nicht aushalten konnten und die Zaka zur Hilfe gerufen haben, eine Organisation religiöser Freiwilliger, die, mit großer Sorgfalt, Körper, Körperteile und sogar Blut aufgelesen und den Toten eine angemessene Beerdigung nach jüdischem Ritus ermöglicht haben. Ich hatte ein Video gesehen, in dem ein Freiwilliger kaltes Wasser über einen der verbrannten Leichname gegossen hatte. Ich habe gefragt, warum. Um ihn abzukühlen, wurde mir erklärt, damit der Plastiksack, in den die Leiche gelegt wird, nicht schmilzt." Auch mit dem Schriftsteller David Grossman trifft sich Remnick, er macht sich Sorgen, was der 7. Oktober und seine Folgen für das politische Klima Israels bedeuten werden: "Grossman weiß, dass das politische Klima des Landes sich höchstwahrscheinlich von seiner Weltsicht entfremden wird. 'Ich vermute, dass Israel sich mehr und mehr nach rechts richten wird, mehr und mehr religiös wird', führt er aus. 'Die jüdische Identität wird eingeengt auf Selbstverteidigung. Es wird mehr und mehr Unterstützung für die Armee geben, obwohl die Armee versagt hat. Mein Appell an meinen Premierminister ist dieser: Sie haben Israel in Ihren Händen, diese wertvolle Sache. Sie sind verantwortlich für dieses einzigartige Land. Wenn dieses Land scheitert, wird die Geschichte uns noch einmal gnädig sein?'"

Weitere Artikel: Carolyn Korman erzählt von den Folgen des tödlichen Waldbrands in der Stadt Lahaina auf der hawaiianischen Insel Maui. Dorothy Wickenden begleitet Sally Snowman, die letzte offizielle Leuchtturmwärterin in den USA. Michael Schulman liest Bücher über Hollywood und die Macht der Streamingdienste von Peter Biskind und Maureen Ryans.

Magazinrundschau vom 24.10.2023 - New Yorker

China befindet sich in einer ziemlichen Krise, stellt Evan Osnos fest: Der Generalsekretär Xi Jinping hat das Land in eine ungute Situation von wirtschaftlicher Stagnation, internationaler Isolation und ideologischen Zwängen geführt: "Im Alter von siebzig hat Xi die Amtszeitbegrenzung für seine Regierung aufgehoben und selbst treue Gegner eliminiert. Er reist weniger als früher und verrät weniger über die Gefühle hinter seinen Entscheidungen; es gibt keine öffentlichen Schimpftiraden oder Prahlereien. Er bewegt sich so gezielt, dass er an einen Schwimmer unter Wasser erinnert. Vor der Pandemie haben ihn die chinesischen Staatsmedien oft vor Menschenmengen gezeigt, die ihm in gestelzter Anbetung applaudierten. Diese Videos zirkulierten im Ausland mit der verächtlichen Bildunterschrift 'Westliches Nordkorea', aber zu Hause in China bewachen die Zensoren Xis Ehre mit Argusaugen; ein Leak aus einem chinesischen sozialen Medium hat letztes Jahr gezeigt, dass nicht weniger als 564 Spitznamen für ihn blockiert werden, darunter 'Cäsar', 'der letzte Kaiser', und einundzwanzig Variationen von Winnie the Pooh." In der Bevölkerung regt sich angesichts der mauen Wirtschaftsdaten dennoch zusehends Unmut, so Osnos: "Nach einem Jahrzehnt von Xis Kampagne für übermächtige Kontrolle hat er in den Chinesen Überzeugungen geweckt, aber nicht so, wie er sich das vorgestellt hat. Ich habe mit einem ehemaligen Banker gesprochen, der mit seiner Familie von Shanghai nach Singapur gezogen ist, nachdem er befürchten musste, sein Wissen über mächtige Menschen und ihre Finanzen könnte für ihn zum Risiko werden. 'Auch wenn ich China liebe, die Nation ist eine Sache und die Regierung eine andere - sie ist eine Gruppe von Personen, die für einen kurzen Moment im großen Wurf der Geschichte Macht über das Land hat', erklärt er mir. 'Ich habe keinerlei Intention, die Regierung zu stürzen, noch hätte ich die Fähigkeit dazu. Aber es gibt Wahrheiten, von denen ich glaube, dass die chinesischen Bürger das Recht haben, sie zu kennen. Wir sind alle darauf gedrillt worden, dass es besser ist, den Mund zu halten. Aber das ist falsch. Wenn die Informationen nicht frei zirkulieren können, wird sich das ganze Land zurückentwickeln.'"

Weitere Artikel: Elizabeth Kolbert macht eine Kostenrechnung für die Plünderung des Planeten auf. Alex Ross hört eine "Madame Butterfly" in Detroit. Jackson Arn besucht die Henry-Taylor-Ausstellung im Whitney Museum. Und Anthony Lane sah im Kino Martin Scorseses "Killers of the Flower Moon".

Magazinrundschau vom 10.10.2023 - New Yorker

Die USA haben mehr Waffen an die Ukraine geliefert als jedes andere Land. Aber sie haben auch immer wieder Lieferungen neuer Waffen hinausgezögert und die Aussicht auf eine Nato-Mitgliedschaft - auch auf Drängen von Olaf Scholz - verweigert. Die Ukraine hockt derweil in eine Art Limbo, weil sie nie weiß, wie weit die Unterstützung tatsächlich reichen wird. Das vorläufige Einfrieren aller Ukrainehilfe aufgrund des Putsches einiger rechtsaußen-Republikaner gegen ihren Sprecher bestätigt das nur. Susan B. Glasser hat sich für den New Yorker mit Jake Sullivan, dem Sicherheitsberater Joe Bidens, über den schlingernden Kurs der US-Regierung unterhalten: "Sullivan macht sich offensichtlich große Sorgen darüber, wie sich die Situation entwickeln wird. ... Selbst ein ukrainischer Sieg würde die amerikanische Außenpolitik vor Herausforderungen stellen, da er 'die Integrität des russischen Staates und des russischen Regimes bedrohen und zu Instabilität in ganz Eurasien führen würde', wie es ein ehemaliger US-Beamten mir gegenüber ausdrückte. Der Wunsch der Ukraine, die besetzte Krim zurückzuerobern, bereitet Sullivan besondere Sorgen. Er hat die Einschätzung der Regierung zur Kenntnis genommen, dass dieses Szenario das höchste Risiko birgt, dass Putin seine nuklearen Drohungen wahr macht. Mit anderen Worten: Es gibt nur wenige gute Optionen. 'Der Grund für die zögerliche Haltung gegenüber einer Eskalation liegt nicht unbedingt darin, dass sie russische Vergeltungsmaßnahmen für ein wahrscheinliches Problem halten', so der ehemalige Beamte. 'Es ist nicht so, dass sie denken: Oh, wir geben ihnen ATACMS und dann wird Russland einen Angriff gegen die NATO starten. Vielmehr erkennen sie, dass es nicht weitergeht, dass sie einen Krieg führen, den sie weder gewinnen noch verlieren können.'"

China hat seine Flotte an Fischereischiffen massiv erweitert - allerdings nicht nur zum Zwecke des Fischens und vor allem zu Lasten der Besatzungen, wie Ian Urbina zeigt. "Der chinesische Staat besitzt einen großen Teil der Industrie - inklusive rund zwanzig Prozent der Tintenfisch-Schiffe - und kontrolliert den Rest mit der Overseas Fisheries Association. Heutzutage konsumiert die Nation mehr als ein Drittel des Fisches auf der Welt. Die chinesische Flotte hat auch den internationalen Einfluss der Regierung erweitert. Das Land hat etliche Häfen im Rahmen seiner Belt and Road-Initiative errichtet, ein globales Infrastruktur-Programm, das dafür gesorgt hat, dass China zeitweise der größte Geldgeber für Entwicklungen in Südamerika, Subsahara-Afrika und Südasien ist. Diese Häfen erlauben dem Staat, Steuern zu umschiffen und regulierenden Behörden aus dem Weg zu gehen. Die Investitionen kaufen der Regierung auch Einfluss. 2007 hat China Sri Lanka mehr als dreihundert Millionen Dollar geliehen, um einen Hafen zu bauen. (Eine Firma im Besitz des chinesischen Staates hat den Auftrag umgesetzt.) 2017 war Sri Lanka, das kurz vor der Rückzahlung des Kredites stand, gezwungen, einen Deal einzugehen, der China Kontrolle über den Hafen und seine Umgebung für die nächsten 99 Jahre zusichert." Die menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen gearbeitet wird, stehen dabei selten im Fokus: "Wie die Boote, die sie beliefern, sind auch die chinesischen Verarbeitungsstätten auf Zwangsarbeit angewiesen. Über die letzten dreißig Jahre hat die nordkoreanische Regierung ihre BürgerInnen gezwungen, in Fabriken in Russland und China zu arbeiten und neunzig Prozent ihres Einkommens - Summen, die sich auf hunderte Millionen Dollar belaufen - in Konten einzuzahlen, die der Staat kontrolliert. Die ArbeiterInnen sind oftmals stark überwacht und in ihrer Bewegungsfreiheit streng eingeschränkt. Sanktionen der UN verbieten solche Nutzung nordkoreanischer ArbeiterInnen, aber, chinesischen Regierungsschätzungen zufolge, haben letztes Jahr allein in einer nordöstlichen Stadt Chinas rund 80 000 NordkoreanerInnen gelebt."

Weitere Artikel: Emily Witt erzählt die Geschichte eines Trans-Teenagers auf der Suche nach einer angemessene Behandlung in den USA. Michelle Orange denkt über die Bedeutung von Madonna nach. Gideon Lewis-Kraus liest "Going Infinite", Michael Lewis' Buch über Sam Bankman-Fried, Gründer und ehemaliger CEO der inzwischen insolventen Kryptowährungsbörse FTX. Julian Lucas bespricht Teju Coles Roman "Tremor". Und Anthony Lane sah im Kino Justine Triets "Anatomy of a Fall" mit Sandra Hüller und Samuel Theis.

Magazinrundschau vom 17.10.2023 - New Yorker

CO2-Kompensation eignet sich hervorragend, um mit dem schlechten Gewissen von Firmen einen Haufen Geld zu verdienen, stellt Heidi Blake am Beispiel des Schweizer Unternehmens South Pole fest, das mehr als ein Jahrzehnt lang solche Kohlenstoff-Kredite vermittelt und verkauft hat - mit zweifelhaftem Erfolg. Verfolgt haben die Schweizer "viele große Projekte, darunter ein ausgedehntes Netz von Wasserkraftanlagen in den Bergen des südwestlichen Chinas. Danach hat die Firma rapide expandiert. Ihre Gründer haben sich auf Asien, Afrika und Lateinamerika verteilt und viele hundert Projekte unter Vertrag genommen. Bald hatte South Pole Geschäftstellen in Thailand, Mexiko, Indonesien und Indien eröffnet. Mitarbeiter, die bald als 'Pinguine' bekannt waren, haben neue Angestellte mit dem Schlachtruf 'Willkommen im Eisberg' begrüßt. In den Jahren nach der Implementierung des Kyoto-Protokolls wurde tausende Projekte unter dem Clean Development Mechanisms-Programm der UN registriert und hunderte Millionen Kohlenstoff-Kredite ausgestellt, jeder von ihnen im Wert von einer Tonne Kohlenstoff. Mit dem wachsenden Markt hat sich aber auch die Frage nach der Integrität dieser Projekte gestellt. Wissenschaftler fragen sich, ob die Entwickler den Einfluss ihrer Projekte überschätzen. Gerade Umweltforscher haben Klima-Kompensation als System sinnentleerter Ablassbriefe abgekanzelt. Eine Online-Parodie lädt untreue Ehepartner dazu ein, jemand anderen fürs Treusein zu bezahlen: "Wenn du Cheat Neutral bezahlst, finanzierst du monogamiebestärkende Kompensationsprojekte." Bei einem Klimagipfel reagieren auch die Fridays for Future-Aktivisten auf den von ihnen als unsinnig wahrgenommenen Ablasshandel: Greta "Thunberg und andere Demonstranten wurden beim Singen draußen gefilmt: 'Ihr könnt euch eure Klima-Krise in den Arsch schieben.' Später hat sie ein Addendum getweetet: 'Ich habe beschlossen, Schimpfwort- und Fluch-neutral zu werden. Für den Fall, dass ich etwas Unangemessenes sage, schwöre ich, das zu kompensieren, indem ich etwas Nettes sage.'"

Weiteres: Nathan Heller fragt: Was ist mit San Francisco passiert? Jackson Arn besucht die Manet/Degas-Ausstellung im Metropolitan Museum of Art. Ian Buruma liest Gary J. Bass' "erschöpfendes und faszinierendes" Buch über das Tokio-Tribunal nach dem Zweiten Weltkrieg, "Judgment at Tokyo: World War II on Trial and the Making of Modern Asia". Amanda Petrusich hört Troye Sivans Album "Something to Give Each Other".

Magazinrundschau vom 26.09.2023 - New Yorker

Carnivor zu leben, ist der neuste Ernährungstrend, allerdings mit alten Wurzeln, hält Der Anthropologe Manvir Singh nach der Lektüre etlicher Ernährungstraktate - und einigen Ausflügen auf die TikTok-Accounts der "Fleischfluencer" - fest. Der "Liver King", bei dem der Name Programm ist, hat drei Millionen Follower auf TikTok und durchaus, ähm, interessante Ernährungstipps auf Lager: "Dem Buch 'The Carnivore Code' zufolge sind Pflanzen Gift - sie wollen nicht gegessen werden und haben daraus resultierend chemische Reaktionen entwickelt, die die Verdauung angreifen sollen. Ebenfalls in 'The Carnivor Code' verkündet der Influencer Shawn Baker (319 000 Instagram-Follower), dass die Proto-Menschen am effizientesten an Protein und Kalorien gekommen sind, indem sie 'ein riesiges, fettes, energiegefülltes Tier der Megafauna erlegt haben.' Sie mögen ab und zu an Früchten und Nüssen geknabbert haben, gibt er zu, aber die Zeit und Energie, um dadurch das gleiche Resultat zu bekommen, wäre 'um mindestens eine Größenordnung größer.' Der Liver King selbst hat sich folgenden prägnanten Slogan überlegt: 'Warum Gemüse essen, wenn du auch Hoden essen kannst?'" Ob diese Ernährungsweise so effektiv ist, wie die Fleischfluencer ihren Zuschauern verklickern wollen, davon ist Singh noch nicht so recht überzeugt: "Modediäten eignen sich perfekt für eine schnelle Verbreitung. Sie sprechen die Unzufriedenheit an. Sie liefern primitive Erklärungen dafür, warum alles schief läuft. Und sie bedienen sich einer intuitiven Logik, die bei spirituellen Traditionen im Mittelpunkt steht: Je größer das Opfer, desto größer die Belohnung." Nachhaltig ist am Ende keine, meint Singh.

Weitere Artikel: Ian Johnson liest Ian Johnsons superbes Buch über chinesische Undergroundhistoriker "Sparks: China's Underground Historians and Their Battle for the Future". Missbrauch in österreichischen Kinderheimen nimmt Margaret Talbot unter die Lupe. Jennifer Wilson liest J. M. Coetzees  Roman "Der Pole". Amanda Petrusich trifft sich mit Joan Baez, um über neuen Dokufilm über ihr Leben (unsere Besprechung) zu sprechen - und natürlich über Bob Dylan. Außerdem unterhält sich Petrusich mit dem Elektromusiker Daniel Lopatich.

Magazinrundschau vom 19.09.2023 - New Yorker

Sam Knight stellt im New Yorker den in Dänemark lebenden schwedischen Architekten Pavels Hedström (Instagram) vor. Von den japanischen Metabolisten beeinflusst, gehört er zu einer wachsenden Gruppe jüngerer und älterer Architekten, die der Ansicht sind, dass wir in Zeiten des Klimawandels nicht einfach so weiterbauen können wie bisher, dass kleine Verbesserungen nicht helfen, sondern ein grunsätzliches Umdenken erforderlich ist. Immerhin verursacht die Baubranche ein Drittel der weltweiten Emissionen, so Knight. Viel gebaut hat Hedströn noch nicht, aber es geht ihm auch weniger um Gebäude als um Ideen: "'Es geht darum, unseren Verstand umzuprogrammieren, wie wir uns mit der Natur verbinden', sagt er. 'Ich denke, das ist es, was ich erreichen möchte.' Hedström sieht die meiste Architektur als 'eine Membran, die uns schützen und vom Rest der Natur trennen soll'. Seine Absicht ist das Gegenteil: Er möchte, dass das nicht-menschliche Leben nah ist, unentrinnbar. Eine seiner Erfindungen ist der Inxect-Suit, ein PVC-Anzug mit Kapuze und Gesichtsmaske, der auf der Ausrüstung basiert, die bei der Reinigung von Bohrinseln getragen wird, und den sich eine Person mit einer Kolonie von Mehlwürmern teilt. Die Wärme und Feuchtigkeit im Inneren des Anzugs nähren die Würmer, die bestimmte Formen von Plastik verdauen können und dann ihrerseits als Nahrungsquelle für den Menschen dienen können. 'Wie Krabben-Popcorn', sagt Hedström. 'Wirklich lecker.' Ein weiterer Prototyp von Hedström, der Fog-X, ist eine oberschenkellange Outdoor-Jacke, die in einen Unterschlupf umgewandelt und mit Hilfe von leichten Stangen zu einem segelähnlichen Gerät umfunktioniert werden kann, das Trinkwasser aus der Luft sammelt. Eine App liefert Echtzeitdaten zur Überwachung von Nebel und Wolken. Im Februar gewann der Fog-X den internationalen Lexus Design Award für junge Designer und setzte sich damit gegen mehr als zweitausend Einsendungen durch. 'Pavels ist eine Art sehr romantischer, 'Dune'-ähnlicher Charakter, so wie er sich und seine Arbeit präsentiert', sagte mir Sumayya Vally, eine südafrikanische Architektin, die den Serpentine-Pavillon 2021 entworfen und Hedström als Mentorin begleitet hat. 'Es ist dystopisch, aber auch sehr, sehr real.' Paola Antonelli, leitende Kuratorin in der Abteilung für Architektur und Design des Museum of Modern Art, war Mitglied der Jury für den Lexus Award. Sie ordnete Hedströms Arbeit in eine Tradition spekulativer und radikaler Architektur ein, die in den sechziger Jahren begann. Gruppen wie Archigram in London und Archizoom in Florenz stellten sich wandelnde Städte, Plug-in-Städte und die 'No-Stop City' vor, eine Stadt, die von der Architektur selbst befreit ist. Sie loteten die Zukunft aus, um die Gegenwart zu verwirren. 'Wunderschöne Artefakte - also eine große formale Eleganz -, die das Auge anziehen, um dann den Geist zu fesseln', so Antonelli. 'Pavels, gerade aus der Schule gekommen, ist sozusagen der Sohn all dieser Designer.'"

Weitere Artikel: Rebecca Mead erinnert sich anlässlich einer britischen Ausstellung an die Ästhetik der Bloomsbury Gruppe. Rachel Sym beschreibt die Karriere des amerikanischen Designer Thom Browne, der jetzt erstmals eine Kollektion bei den Haute Couture-Schauen in Paris zeigen darf. Vinson Cunningham porträtiert den Theaterautor Jeremy O. Harris. Und Anthony Lane sah im Kino Kenneth Branaghs neuen Poirot-Film, "A Haunting in Venice".

Magazinrundschau vom 12.09.2023 - New Yorker

Ross Douthat, nicht unumstrittener Kolumnist der New York Times, steht zwischen den zunehmend verhärteten Fronten von Konservatismus und Liberalismus, zeigt Isaac Chotiner in seinem Porträt eines Mannes, der sich selbst zwar eigentlich konservativ nennt, aber immer am Austausch mit und dem Verständnis von anderen Meinungen interessiert ist - auch wenn es sich dabei um Verschwörungstheorien handelt. "'Ich glaube, viele Menschen im Umkreis des New Yorkers oder der New York Times haben während der Trump-Zeit beschlossen, dass sie gar nicht wissen wollen, woher all diese Ideen überhaupt kommen. Es hat ihnen gereicht, dass sie schlecht waren. Ich glaube, man sollte sich schon bemühen herauszufinden, woher diese Theorien kommen.' Douthat wurde immer lebhafter; er lächelte breit und wedelte mit der rechten Hand in der Luft, um seine Aussagen zu unterstreichen. 'Was der Liberalismus - der Eliteliberalismus, wie auch immer Sie ihn nennen - nicht hat, ist eine Theorie der Überzeugungskraft.' Er hielt erneut inne. 'Deshalb bin ich vielleicht doch ein Liberaler, weil ich mich für diese Theorien der Überzeugungskraft interessiere.'" Laut Chotiner diskutiert Douthat lieber, warum eine Idee nicht funktionieren kann, als darüber, ob sie fehlgeleitet ist. "Zuvor hat er mir bereits erzählt, dass es 'ironischerweise die Bedeutung des Glaubens schwächen kann, wenn Kirche und Staat zu sehr miteinander verflochten sind, weil Religion von den Menschen so als korrupt oder zu involviert in die schmutzige Tag-für-Tag-Realität der Welt wahrgenommen wird'. Douthat überträgt diesen Pragmatismus manchmal auf seine Kritik an der Linken. 'Ich denke, es ist wichtig, dass die Leser des New Yorker erkennen, dass es sich hier um eine Aussage über Glaubenssysteme im Allgemeinen handelt, die nicht nur auf das katholische Christentum zutrifft', so Douthat, einen früheren Kommentar weiter ausführend. 'Wenn man an die Ansichten denkt, die mit Antirassismus und Wokeness und so weiter verbunden sind, zeigen sich die Grenzen dessen, was eine elitäre Form der Progressivität in der Breite der Bevölkerung erreichen kann, ohne einen Backlash vom Typus Ron DeSantis zu provozieren. Überzeugungskraft und Konsens sind sehr wichtig für Religion, für Politik, für Ideologie.'"

Weitere Artikel: Julian Lucas liest Mohamed Mbougar Sarrs Roman "Die geheimste Erinnerung der Menschen". Jennifer Egan erzählt von Obdachlosigkeit in New York und wie man ihr entkommt. Judith Thurman stellt die Homer-Übersetzerin Emily Wilson vor. Jill Lepore bespricht Walter Isaacsons Musk-Biografie. Carrie Battan hört Europop von Romy.

Magazinrundschau vom 05.09.2023 - New Yorker

Von den gleichen Motiven wie Michelle Fournet sind auch die Forscher getrieben, die das CETI-Forschungsprojekt betreiben, um mit Hilfe von KI die Klicklaute der Pottwale zu erlernen. Wenn man Elizabeth Colberts Reportage liest, möchte man sofort Meeresbiologe werden - oder wenigstens welche kennenlernen, zum Beispiel den Kanadier Shane Gero, der seit 2005 die Pottwale vor der Antilleninsel Dominica studiert und inzwischen jeden von ihnen mit Namen kennt. Colbert erlebt sogar die Geburt eines von hungrigen Grindwalen umkreisten Pottwalbabys. Steven Spielberg könnte das nicht haarsträubender erzählen. Doch zurück zu dem Projekt, das die Westküste Dominicas "in ein riesiges Aufnahmestudio für Wale verwandeln" will. Wenn wir die Grammatik der Laute verstehen, verstehen wir dann wirklich, was die Wale sagen? Nein, erklärt Shafi Goldwasser, die das Simons Institute for the Theory of Computing an der University of California in Berkeley leitet. "'Heutzutage spricht jeder über diese generativen KI-Modelle wie ChatGPT', fährt sie fort. 'Was tun sie? Man gibt ihnen Fragen oder Aufforderungen, und sie geben dann Antworten, indem sie vorhersagen, wie Sätze zu vervollständigen sind oder welches das nächste Wort sein wird. Man könnte also sagen, dass das ein Ziel von CETI ist - dass man nicht unbedingt versteht, was die Wale sagen, aber dass man es mit gutem Erfolg vorhersagen kann. Man könnte also ein Gespräch erzeugen, das ein Wal verstehen würde, aber vielleicht versteht man selbst es nicht. Das ist also eine Art seltsamer Erfolg.' Vorhersage, so Goldwasser, würde bedeuten, 'dass wir erkannt haben, wie das Muster ihrer Sprache aussieht. Es ist nicht zufriedenstellend, aber es ist etwas.'"

Sehr viel beängstigender liest sich Dana Goodyears Wissenschaftsreportage über die Möglichkeiten der Genmanipulation durch CRISPR. Als der chinesische Wissenschaftler He Jiankui 2018 als erster die internationale Vereinbarung durchbrach, CRISPR nicht bei Embryonen einzusetzen, war das Entsetzen groß. "CRISPR versprach, die Medizin zu verändern, indem es einen Weg zur Heilung einer genetischen Krankheit durch Editieren der DNA des betroffenen Gewebes bietet. Diese Form des Editierens wird als 'somatisch' bezeichnet; die Veränderungen, die dabei vorgenommen werden, sind auf den einzelnen Patienten beschränkt. Beim Editing eines Embryos hingegen wird die DNA der zukünftigen Eizellen oder Spermien des Embryos - seine Keimbahn" - verändert, was zu Veränderungen führt, die an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden", die dem Probanden schaden und künftige Generationen beeinträchtigen könnten. Deshalb setzte sich unter den Wissenschaftlern ein breiter Konsens durch, vorerst keine vererbbaren Veränderungen am menschlichen Genom vorzunehmen. Doch dieses Einverständnis scheint angesichts der Fortschritte bei CRISPR langsam aufzuweichen, stellt Goodyear fest. Es gibt wirklich grauenvolle Erbkrankheiten, die man einfach nur ausgerottet wünscht, wie man am Ende der Reportage lesen kann, in dem Goodyear von einer Familie erzählt, deren Tochter am Batten-Syndrom leidet. Aber es bleiben eben auch die Risiken: "Eine große Sorge ist, dass sich die CRISPR-Schere nicht vorhersehbar verhält: Wie die Besen in 'Der Zauberlehrling' schneidet sie manchmal das Zielgen und schneidet dann immer weiter, was zu 'Off-Target'-Mutationen führt. Selbst die 'zielgerichteten' Schnitte können negative Folgen haben; das Ausschalten eines Gens kann ein Gesundheitsproblem lösen, aber ein anderes verursachen. (...) In einem Positionspapier aus dem Jahr 2015 mit dem unverblümten Titel 'Don't Edit the Human Germline' argumentierte eine Gruppe von Wissenschaftlern, dass die Kontroverse über das Editing menschlicher Embryonen die Aussichten auf somatisches Editing gefährden würde, das das Leben von Millionen von Menschen retten könnte, die bereits leben und leiden. ... Die Autoren fügten hinzu, dass es ein Leichtes sei, vererbbares Editing für 'nicht-therapeutische Veränderungen' zu nutzen. Fyodor Urnov, einer der Autoren, sagte: 'Ich nenne Ihnen jetzt drei Anwendungsszenarien, vor denen wir große Angst haben sollten. Befürchtung Nummer eins: die Bewaffnung des Militärs. Wir wissen, wie man einen Menschen herstellt, der mit vier Stunden Schlaf auskommt - ich kann Ihnen sagen, welche Mutation wir vornehmen müssen. Zweitens: Wir wissen, welches Gen wir verändern müssen, um das Schmerzempfinden zu verringern. Wenn ich ein Schurkenstaat wäre, der eine nächste Generation von quasi schmerzfreien Soldaten der Spezialeinheiten herstellen will, weiß ich genau, was zu tun ist. Es ist alles veröffentlicht. Und drittens: Körperliche Stärke. Man braucht keine große Laboroperation. Man braucht nur den bösen Willen.'"

Weitere Artikel: Jackson Arn stellt anlässlich seiner ersten Retrospektive in Bostons Museum of Fine Arts den Maler Matthew Wong vor. Alex Ross erlebt eine neue Lisztomanie. Und James Wood empfiehlt Clare Carlisles "eloquente und originelle" Eliot-Biografie "The Marriage Question: George Eliot's Double Life".
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