Magazinrundschau - Archiv

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26 Presseschau-Absätze - Seite 2 von 3

Magazinrundschau vom 30.01.2024 - New Lines Magazine

Kingsley Charles erklärt in einem Essay, warum es ausgerechnet die Pfingstbewegung war, die in Nigeria einen Hype um Horrorfilme auslöste und so das Phänomen "Nollywood" ins Leben rief. Nachdem die nigerianische Filmindustrie während der siebziger Jahre einen wahren Boom erlebt hatte, folgte in den Achtzigern durch die Schwächung des weltweiten Ölmarktes die wirtschaftliche Krise. Nigeria befand sich in einer nicht enden wollenden wirtschaftlichen und ökonomischen Abwärtsspirale - das führte zu zwei Entwicklungen: Zum einen sprossen im ganzen Land neopentekostalistische Kirchen wie "Pilze aus einem feuchten Boden", so Charles, die mit ihrer religiösen Botschaft Halt gaben. Zum anderen verbreitete sich die Angst vor okkulten Sekten. Denn die Wirtschaftskrise hatte eine neue Elite hervorgebracht, die zum Teil auf sehr rätselhafte Weise an ihr Geld gekommen war - Höhepunkt dieser Entwicklungen waren die sogenannten Otokoto-Proteste, die 1996 ausbrachen "nachdem der 11-jährige Anthony Okoronkwo von Mitgliedern einer als Black Scorpion bekannten Sekte ermordet worden war. Diese - benannt nach dem Hotel, in dem Okoronkwo enthauptet, sein Penis abgetrennt und seine Leber entnommen worden war - lösten eine weit verbreitete Empörung aus, als weitere verstümmelte Leichen entdeckt wurden, die auf die gleiche grausame Weise ermordet und von Sektenmitgliedern begraben worden waren." Hoffnung gegen dieses teuflische Treiben versprachen die Prediger der Pfingstbewegung: "Die Verbreitung von Videokassetten in den nigerianischen Haushalten durch die Neo-Pfingstpastoren und die im Gegensatz zu Zelluloidfilmen niedrigen Produktionskosten von Videos läuteten die Geburtsstunde von Nollywood ein. Dieser soziale und politische Hintergrund inspirierte die Produktion von 'Living in Bondage' und anderen Filmen, die den Weg für das Horrorkino in Nollywood ebneten. Die blutigen Erzählungen waren oft visuelle Darstellungen des in den 1990er Jahren weit verbreiteten Glaubens, dass sich der Reichtum weitgehend auf einen engen Kreis gefährlicher Männer konzentrierte, die Menschen auf dem Altar des Geldes opferten. 'Last Burial', ein Horrorthriller von Lancelot Imasuen aus dem Jahr 2000, war ein Paradebeispiel dafür, wie diese Filme die christliche Lehre untermauerten, dass dauerhafter Wohlstand nur von Gott kommen kann und dass man nur erlöst wird, wenn man sich Christus unterwirft und über sein Wort meditiert."

Lange interessierte sich die israelisch-amerikanische Forscherin Ilana Cruger-Zaken nicht für die seltsame Sprache, die ihre Großmutter sprach, die aus Zakho stammt, einer Stadt in der überwiegend kurdischen Region im Nordwesten des Irak: "Sie gehörte zur letzten Generation jüdischer Babys, die auf einer kleinen Insel in der Mitte des Flusses Khabur geboren wurden." Aber irgendwann macht Cruger-Zaken sich auf die Suche nach den Überresten von "Lishana Deni", einen Zweig des Judäo-Neo-Aramäischen, einer der letzten überlebenden Formen des antiken Aramäischen, das die Verkehrssprache der neoassyrischen, neobabylonischen und achämenidischen oder persischen Reiche war. Bei ihrer Suche stößt sie auf die Tonaufnahmen eines Geschichtenerzählers aus Zakho: "Schon früh in seiner akademischen Laufbahn wurde Sabar dafür bezahlt, Interviews mit Ältesten aus Zakho auf Band zu dokumentieren und zu übersetzen. … Das besondere Dokument, das ich gefunden habe, ist eine transkribierte und übersetzte Reihe persönlicher Anekdoten von Mammo Yona Gabbai, die seine letzten Jahre in Zakho und die Migration der Gemeinschaft nach Israel beschreiben. Ich greife Wörter heraus, die ich wiedererkenne, vertraute Kopulas und Konstruktionen. Ich habe keinen großen Wortschatz, aber ich verstehe die Laute. Und dann stoße ich auf ein Wort, das ich mit meinem ganzen Wesen kenne und das genau so verwendet wird, wie ich es kenne. Mein Körper vibriert. Es ist ein einfaches Wort: 'chayet', was 'Leben von' bedeutet. Es war der Kosename, mit dem mein Vater mich immer bezeichnete: 'Chayet Abba' (Papas Leben). Und jetzt nennt er mein Kind 'Chayet Saba'. Ich hatte angenommen, der Ursprung dieses Wortes sei hebräisch, denn חי (Leben) ist ein gängiges hebräisches Wort. Aber hier steht es in jüdischem Aramäisch, in genau derselben Form und in demselben Zusammenhang, in dem mein Vater es verwendet."

Magazinrundschau vom 23.01.2024 - New Lines Magazine

Nach den jüngsten Ereignissen ist eine Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern für die israelische Schriftstellerin Maya Savir eigentlich unvorstellbar. Ihre Aufenthalte in Ruanda gaben ihr jedoch den Hauch einer Hoffnung, dass es, trotz allem, eines Tages möglich sein könnte. Sie berichtet von den "Gacaca", Gemeinschaftsgerichte, die eingerichtet wurden, um nach den unvorstellbaren Grauen des Völkermordes ein Zusammenleben zwischen Hutu und Tutsi erneut möglich zu machen. Bei den Gacaca kommen Menschen zusammen und sprechen über Erlebtes, auch über ihre Verbrechen. Sie bitten um Vergebung, die ihnen dann auch meistens gewährt wird, erzählt Savir. Ein junger Mann, den sie bei einer ihrer Reisen trifft, erzählt ihr, wie er bei diesen Anhörungen dem Sohn des Mörders seiner Großmutter begegnete: "B sagte, dass auch er, wie alle anderen, an den Gacaca-Anhörungen teilgenommen habe. Ich stellte ihm dieselbe Frage, die ich jedem stellte, mit dem ich in Ruanda sprach, denn egal wie oft ich diesen Erinnerungen aus erster Hand begegnete, ich stellte fest, dass es immer noch schwer war, sie sich vorzustellen: 'Ist Eure Versöhnung echt? Ich meine, Ihr lebt zusammen, Opfer und Täter. Wie funktioniert das?' Zunächst gab er mir die routinemäßige Antwort, die man Wort für Wort von jedem bekommt, mit dem man in Ruanda spricht: 'Es ist passiert, wir haben uns versöhnt. Früher waren wir Hutu und Tutsi, jetzt sind wir alle Ruander und blicken in die Zukunft.' Aber ich bestand darauf, denn es war wirklich schwer zu begreifen, und nachdem ich noch ein paar Variationen derselben Frage gestellt hatte - 'Vertraut ihr einander?' 'Seid ihr Freunde?' - antwortete er auf alle Fragen mit Ja und schwieg dann. Ich glaube, er versuchte, einen Weg zu finden, um in meinen sturen Kopf einzudringen. Er wies diskret auf zwei junge Männer hin, die mit uns das Gewächshaus bauten und sich zu diesem Zeitpunkt nicht in Hörweite von uns befanden.'Siehst du den da?' Ich nickte. 'Er ist wie ich. Er ist Tutsi. Wir sind Partner, wir haben eine Kooperative und wir züchten zusammen Pilze.' Er richtete seinen Blick auf einen anderen jungen Mann. 'Siehst du diesen Mann?' Ich nickte. 'Er ist auch unser Partner, und er ist Hutu. Aber er ist nicht nur irgendein Hutu. Sein Vater hat meine Großmutter ermordet. Ich habe gehört, wie sein Vater bei den Gacaca-Anhörungen darüber gesprochen hat, aber ich musste ihn nicht hören. Denn ich habe es gesehen. Ich habe gesehen, wie er meine Großmutter in Stücke geschnitten hat." Ich versuchte den Würgereiz zu verbergen, den die Bilder auslösten, die seine Worte in meinem Kopf erzeugten. 'OK, ich verstehe - ihr seid Partner. Aber seid ihr auch Freunde? Vertraust du ihm?' B bejahte erneut, fügte dann aber nach einem stillen Moment leise hinzu: 'Ja, natürlich. Natürlich ist es schwer für unsere Eltern. Für sie ist es fast unmöglich, aber sie tun es für uns. Verstehst du das?'"

Der Journalismus im Iran ist geschwächt, aber er lebt, ruft Kourosh Ziabari. Auch wenn die staatlichen Repressionen immer drastischer werden, darf auf keinen Fall übersehen werden, betont Ziabari, dass es immer noch unabhängige, mutige Journalisten und Zeitungen gibt, die sich gegen den Autoritarismus stellen. So wie die Zeitung Shargh Daily. "Gegründet im August 2003, ist sie eines der letzten Überbleibsel eines Kollektivs vielversprechender liberaler Zeitungen, die während der Reformära gegründet wurden und versuchten, in einer ansonsten düsteren öffentlichen Sphäre, in der es keine widersprüchlichen Stimmen gab, Hoffnung zu wecken. Seit Beginn ihrer Tätigkeit wurde Shargh viermal vorübergehend verboten. Zuletzt wurde sie 2012 geschlossen, weil sie eine Karikatur veröffentlicht hatte, die nach Ansicht der Behörden die Kämpfer des iranisch-irakischen Krieges, die im Inland als 'heilige Verteidigung' bekannt sind, verunglimpft hatte... Doch Shargh ist nach wie vor ein Bollwerk des kritischen, zukunftsorientierten Journalismus, wenn auch ein geschwächtes, das den marginalisierten intellektuellen Strömungen eine Plattform bietet und das Damoklesschwert der Rechenschaftspflicht über dem Kopf der Regierung schweben lässt. Zu den bemerkenswerten Berichten der letzten Zeit gehören die Untersuchung eines Ghettos in der Stadt Mashhad, in dem viele Leprakranke leben, die Untersuchung des Massensterbens von Grenzgängern, die von den Streitkräften angegriffen werden, die Aufdeckung der Vergiftung von Schulmädchen nach den Aufständen von 'Frau, Leben, Freiheit' und ein vernichtender Bericht über die Häufigkeit von Ehrenmorden."

Magazinrundschau vom 09.01.2024 - New Lines Magazine

Tiara Sahar Ataii schildert die fatale Wirkung der Droge Qat auf den Jemen. Sicher, es gibt härtere Substanzen, und doch trägt Qat, das quasi von der ganzen Bevölkerung gekaut wird, zur Katastrophe des kriegstraumatisierten Landes bei: "Die Verwendung von Qat einzuschränken ist allerdings kein leichtes Unterfangen, wenn große Teile des Landes umkämpft sind, Steuern nur schwer durchzusetzen sind, die Gehälter der Beamten nicht gezahlt werden, die Mittel für den Umweltschutz knapp sind. Die Auswirkungen auf den Jemen sind verheerend: 90 Prozent der erwachsenen Männer, 50 Prozent der jungen Frauen und 15-20 Prozent der Kinder kauen täglich drei bis vier Stunden Qat. In den letzten fünfzig Jahren ist die Durchschnittstemperatur im Jemen um 1 Grad Celsius gestiegen. Jährlich gehen zwischen 3 und 5 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche durch Wüstenbildung verloren. Eine verheerende Dürre im Jahr 2022 stürzte mehr als die Hälfte der jemenitischen Bevölkerung in eine krisenhafte Ernährungsunsicherheit. Felix Arabia, wie die Römer den Jemen, die Kornkammer der arabischen Halbinsel, nannten, steht ständig am Rande einer Hungersnot." Und die landwirtschaftlichen Flächen gehen für Qat drauf, das übrigens auch in Dürren gut gedeiht.
Stichwörter: Qat, Jemen

Magazinrundschau vom 05.12.2023 - New Lines Magazine

Jessica Roy wirft einen Blick auf den allerneuesten Tik Tok Trend, dem sich die Generation Z in der Folge der aktuellen Ereignisse in Nahost widmet: Influencer haben nach den Massakern der Hamas und der darauffolgenden Militäroffensive Israels den Islam für sich entdeckt, manche konvertierten sogar. Klingt verrückt? Ist aber so. Am 20. Oktober postete die Influencerin Rice Folgendes auf Tik Tok, erzählt Roy: "'Nein, aber können wir kurz über den palästinensischen Glauben sprechen? Weil ich so etwas noch nie gesehen habe. Ich habe buchstäblich Videos von Menschen gesehen, die alles verloren haben, sogar ihre Kinder, und sie halten ihre toten Kinder in den Armen und danken Gott immer noch und bitten ihn, sich von dort aus um ihre Kinder zu kümmern.'" Ihr Post erhält zahlreiche Kommentare, Menschen, die ihre Faszination für den unbedingten Gottglauben der bombardierten Palästinenser teilen. Wenig später, erzählt Roy "nahm Rice ihre Schahada" und legte das muslimische Glaubensbekenntnis ab. Die Zahl ihrer Follower hat sich seitdem verdreifacht, und immer mehr folgen ihrem Beispiel, was Roy ziemlich problematisch findet: "Dies wurde besonders deutlich, als Osama bin Ladens 'Brief an Amerika' am Mittwoch, dem 15. November, auf TikTok und im Discord-Kanal des World Religion Book Club viral ging und von einer großen Zahl von Menschen - von denen viele zu jung waren, um unmittelbar nach dem 11. September politisch aktiv zu sein - gelobt wurde. 'Dieser offene Brief von Osama Bin Laden ist sehr verdammenswert für Amerika', schrieb ein Discord-Nutzer, 'Er enthält nur Fakten.'" Rice hat TicToc inzwischen aufgegeben, weil strenggläubige Muslime sie immer wieder kritisiert hatten, "wie sie in einem neuen Video erklärt, das sie mit '#harampolice really don't want reverts to stay in Islam! 😂 Y'all need HALP.' 'Die Haram-Polizei - Mann, sind die furchtbar", sagt sie und bezieht sich dabei auf ultrakonservative Muslime, die damit begonnen haben, ihr Verhalten online zu überwachen. "Sie sind so schlimm. Ich bekomme ständig Mails und Kommentare von Leuten, die mir sagen: 'Du musst jedes einzelne Video auf deiner Seite löschen, in dem du keinen Hijab trägst.' Eigentlich, Sir und Ma'am, muss ich nichts von dem tun, was Sie mir sagen. Diese Videos waren vor meiner Shahada, kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten. Es ist eine Frechheit, dass Leute, die mich nicht persönlich kennen, sich berechtigt fühlen, mein Leben und meinen Glauben zu kommentieren und mir sagen, was ich tun soll.'"

Larisa Jasarevic besucht Imker in Bosnien, die verzweifelt versuchen, ihre Honigbienen durch den Winter zu bringen. Der durch den Klimawandel verursachte Temperaturanstieg verändert die Flora des Landes, die Bienen finden nicht mehr genug Blüten, um den Honig zu produzieren, der nicht nur die Imker, sondern auch sie selbst am Leben erhält. Es sind kleine Zeichen, wie die Haselnusskätzchen, die viel zu früh im Jahr blühen, die "ein verräterisches Zeichen für eine leise, sich anbahnende Katastrophe sind, die den örtlichen Honigbienen zum Verhängnis wird", weiß die Forscherin. Den Imker Mehmed hat sein Glaube zu den Bienen gebracht, verrät er Jasarevic: "Mehmed ist der Sohn eines Imkers, aber er hat sich den Bienen zugewandt, wie er oft sagt, weil er an der Universität Islamwissenschaften studiert hat. Als junger Mann, der sich zum Imam ausbilden ließ, grübelte Mehmed über Koranzeilen nach: 'Und dein Herr offenbarte der Honigbiene'. Dann fiel es ihm auf: Jede Biene, der er auf seinem heimischen Bienenstand begegnete, war ein Mitglied der prophetischen Spezies. In der Gegenwart der Bienen konnte er die Offenbarung beobachten, nicht als Schrift, nicht als abstraktes Konzept der Rede Gottes, sondern als einen fortlaufenden Akt der Erhaltung der Welt."

Magazinrundschau vom 07.11.2023 - New Lines Magazine

Kingsley Charles widmet sich dem kuriosen Phänomen 'koro', der Angst vor dem Verlust des eigenen Penisses - diese verbreitet sich gerade in Windeseile in Nigeria, nachdem im September diesen Jahres ein Mann einen anderen bezichtigte, seinen Penis entwendet zu haben: "Verzweifelt weinend zeigte der Mann auf einen anderen Mann, dem er vorwarf, ihm während eines Händedrucks die Genitalien entrissen zu haben. Es kam zum Tumult. Ein wütender Mob stürzte sich mit Fäusten auf den Beschuldigten und forderte ihn auf, das Organ des anderen zurückzugeben. Kaum war die Polizei am Tatort eingetroffen, bestätigte der weinende Mann, dass sein Penis wieder da sei." Was wie ein völlig verrückter Einzelfall klingt, wird gerade zum tatsächlichen Problem: "In den sozialen Medien tauchen immer wieder Berichte über geschrumpfte Penisse in verschiedenen Bundesstaaten des Landes auf. In Calabar, wo im August erstmals weniger als ein Dutzend Fälle gemeldet wurden, war die Angst auf den Straßen fast greifbar. Die Regierung des Bundesstaates sah sich gezwungen, die wachsende Spannung zu dämpfen, auch aus Sorge um einen möglichen Schaden für den Ruf der Stadt bei Besuchern. In Calabar findet jedes Jahr im Dezember ein Karneval statt, der als größtes Straßenfest Afrikas bezeichnet wird. Am 12. September bezeichnete die Regierung des Bundesstaates in einer Presseerklärung die Berichte über verschwundene Genitalien als 'Fake News' und drohte mit der 'ganzen Härte des Gesetzes' gegen diejenigen, die diese Gerüchte verbreiten. Trotz der Warnung folgten weitere Fälle. Die Meldungen über verschwundene Penisse und die Gewalt des Mobs gegen mutmaßliche Diebe stiegen auf 15 Fälle und verbreiteten sich wie ein Sandsturm in den Straßen. Die meisten Männer in Calabar nahmen Bitterkola, einen tropischen Samen, der wegen seiner neutralisierenden Wirkung geschätzt wird, als Talisman in die Tasche mit." Mediziner ordnen 'koro' als eine Art psychotischem Anfall ein, der als gesellschaftliches Phänomen häufig in Krisenzeiten ausbricht, so Charles, eben die Angst vor Verlust der eigenen Männlichkeit als Angst vor ökonomischer Unsicherheit, Versagensängsten etc. Die Behandlung ist einfach, normalerweise können die Betroffen schnell überzeugt werden, dass ihre Angst unbegründet ist. Zum tatsächlichen Problem werde die Sache, wenn die Bezichtigung eines vermeintlichen Penisräubers in unkontrollierte Gewalt ausarte, was Charles zufolge auch schon öfter der Fall war.
Stichwörter: Koro, Nigeria, Penis, Fake News, Faust, Tatort

Magazinrundschau vom 19.09.2023 - New Lines Magazine

Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat viele ethnische Minderheiten in der Russischen Förderation aufgeweckt, berichtet Courtney Dobson: "Andrejew, ein 34-Jähriger mit kurzgeschorenem Haar und Schnurrbart, ist Mitbegründer der Stiftung Freies Jakutien, die sich gegen den Krieg einsetzt und potenziellen Wehrpflichtigen hilft, die Mobilisierung zu vermeiden. Er war Redner beim Forum of Free Peoples of Post-Russia, einer Plattform, die Angehörige der zahlreichen ethnischen Minderheiten Russlands zusammenbringt, um über die Zukunft Russlands zu diskutieren. Andrejew ist nicht allein. Er ist einer von Tausenden von Angehörigen ethnischer Minderheiten in Russland, die Teil einer Bewegung sind, die die Entkolonialisierung des Landes fordert, wobei einige sogar die Unabhängigkeit von Moskau fordern. Der Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 löste eine Welle nationaler Bewegungen unter den ethnischen Minderheiten Russlands aus, doch ihre Beschwerden über 'Moskau', wie viele Mitglieder der Bewegung die Zentralmacht in Russland bezeichnen, haben eine jahrzehntelange, manche würden sagen jahrhundertelange Vorgeschichte. Der Krieg in der Ukraine hat dem Westen vor Augen geführt, was viele in Russland bereits wussten: dass Russland eine imperiale Macht ist. Für einige wurde Russlands Revanchismus nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 offensichtlich. Weniger bekannt ist jedoch, dass sich der Kreml innerhalb seiner Grenzen wie ein Kolonisator verhalten hat, der seine riesigen Regionen wegen ihrer Ressourcen ausbeutet und ethnischen Minderheiten die Möglichkeit verweigert, ihr kulturelles und sprachliches Erbe zum Ausdruck zu bringen."

Weitere Artikel: Im indischen Punjab sind Frauen mit Englischkenntnissen sehr begehrt, berichtet Ravleen Kaur: Das hilft ihren Ehemännern, mit der Familie zu emigieren. Syrische Frauen, die mit ihren Familien nach Dänemark emigriert sind, sind wiederum oft von ihren Ehemännern abhängig: Wer sich von einem gewalttätigen Mann trennt, kann leicht seine Aufenthaltserlaubnis in der EU verlieren, berichten Megan Clement und Mais Katt

Magazinrundschau vom 05.09.2023 - New Lines Magazine

Deutsche Medien behandeln Österreich als weit entferntes Ausland. Die abstoßende Szene, die die FPÖ produzierte, als Wladimir Selenski per Video im österreichischen Parlament sprach, wurde hier kaum thematisiert: Die Abgeordneten verließen ihre Plätze und stellten Schilder mit der Aufschrift "Platz für Frieden" auf (hier das Video, ab Minute 5.20). In unheimlicher Parallele zur AfD in Deutschland und dem Front national in Frankreich ist die FPÖ in Österreich inzwischen zur stärksten politischen Kraft aufgestiegen, wohl auch weil sie den giftigen Fundus von Antiamerikanismus und Russlandliebe aus dem Mainstream an den rechten Rand zu ziehen vermochte, so wie die AfD in den Neuen Ländern. Nun "stellt sich die Frage, ob die ÖVP auf Bundesebene als Juniorpartner der FPÖ auftreten will", schreibt Liam Hoare, auch wenn sie damit den verhassten Herbert Kickl zum Bundeskanzler machen würde. "Die neuen ÖVP-FPÖ-Koalitionen in den Bundesländern Niederösterreich und Salzburg deuten darauf hin, dass das passieren könnte, ebenso wie der jüngste Rechtsruck der ÖVP bei Themen wie Zuwanderung und Umwelt. Gleichzeitig haben mehrere Kabinettsminister sowie der Präsident des österreichischen Parlaments, Wolfgang Sobotka, angedeutet, dass sie ein solches Szenario nicht zulassen würden. Langjährige Mitglieder der ÖVP haben gewarnt, dass die Partei zerfallen könnte, wenn Kickl Kanzler würde."

Magazinrundschau vom 29.08.2023 - New Lines Magazine

Identitätsbetrüger gibt es seit es Identitäten gibt. Aber Dank der Verbreitung des Internets gibt es heute mehr denn je. Jeremiah Steinfeld stellt die Opfer besonders perfider und vor allem politisch brisanter Scams vor, nämlich Kritiker der chinesischen Regierung, die sich plötzlich mit vermeintlichen verbrecherischen Handlungen ihrer digitalen alter egos konfrontiert sehen: "Wang (Jingyu), ein in den Niederlanden lebender chinesischer Aktivist, fragt sich, ob er zum Wahnsinn getrieben und dadurch dazu gebracht werden soll, nach China zurückzukehren. In seinem Fall begannen die Drohungen ein Jahr vor dem Vorfall um (die niederländische Journalistin Marije) Vlaskamp. Letztes Jahr hatte Wang, der seit mehreren Jahren in den Niederlanden wohnt, dabei mitgeholfen, die Existenz geheimer chinesischer Polizeistationen offenzulegen. Seitdem wurde sein Name für einen bunten Reigen an Drohungen und böswilligen Unterstellungen missbraucht. 'Sie rufen oft die niederländische Notfallnummer an und berichten über erfundene Verbrechen,' so Wang. Einmal behauptete ein Anrufer, in seiner Wohnung befänden sich Geiseln und Waffen. Ein anderer behauptete, er hätte seine Freundin attackiert. Als die Poizei sie fragte, ob das stimme, stellte sie klar, dass es eine Lüge war. Mehrmals wurde Wang nach solchen Anrufen verhaftet. Er glaubt, dass die Chinesische Botschaft in den Niederlanden hinter den Angriffen steckt und beschwert sich darüber, dass die niederländische Regierung nicht deutlich genug reagiert." Vollständig geklärt ist die Identität der Identitätsdiebe bislang nicht: "Die Botschaft bestreitet, involviert zu sein. Ihrer Darstellung nach hatten ihre Mitarbeiter Wang bei der Poizei gemeldet, weil sie alle Bombendrohungen ernst nehmen. Das wirft die Frage auf: Wer genau steckt hinter den Angriffen? Einzeltäter? Der chinesische Staat?"

Magazinrundschau vom 22.08.2023 - New Lines Magazine

Dekolonisierung, denkt man immer, sei links. Aber in Indien ist es die hindu-nationalistische Regierungspartei Narendra Modis, die äußerst aktiv eine Dekolonisierungspolitik betreibt und im Mainstream verankert, erzählt Sanya Dhingra. Selbst der Guardian erkannte das 2014 in einem Editorial, das den Wahlsieg Modis "als eine grundlegende Abkehr von der postkolonialen Entwicklung des unabhängigen Indiens würdigte, die das Ende einer Ära markierte, in der Indien von Machtstrukturen regiert wurde, die sich nicht wesentlich von denen des britischen Raj unterschieden. 'Indien unter der Kongresspartei war in vielerlei Hinsicht eine Fortsetzung des britischen Raj mit anderen Mitteln', heißt es in dem Artikel, in dem ein Gefühl nachhallt, das von den Hindu-Nationalisten mit Nachdruck geteilt wurde." Und der linksliberale Guardian war nicht der einzige, der diese Veränderung begrüßte. "Sogar China - mit dem die Modi-Regierung in den letzten drei Jahren besonders angespannte Beziehungen hatte, einschließlich tödlicher Scharmützel an der Grenze - lobte Indien für seine vermeintlichen Bemühungen um Entkolonialisierung." Es gibt dann aber doch einen Haken: "Für den rechten Flügel begann die Kolonisierung Indiens nicht mit dem britischen Empire im 18. Jahrhundert. Vielmehr begann sie mit der Ankunft muslimischer Herrscher oder 'Invasoren' auf dem Subkontinent im achten Jahrhundert. Die Mughals, die Khiljis, die Tughlaqs, die Lodis - die verschiedenen und nicht miteinander verbundenen muslimischen Dynastien, die Teile Indiens während eines 1000-jährigen Zeitraums vom achten bis zum 18. Jahrhundert regierten - sie alle sind nach dem Verständnis der Hindu-Nationalisten Teil der  'islamischen Kolonisierung' oder Invasion Indiens. In seiner ersten Rede vor dem indischen Parlament im Jahr 2014 griff Modi dieses Verständnis von Kolonialisierung auf. 'Die Sklavenmentalität von 1.200 Jahren macht uns zu schaffen. Wenn wir auf eine Person von hohem Rang treffen, haben wir oft nicht die Kraft, unsere Stimme zu erheben', sagte er und entfachte damit sofort die Debatte darüber, was die Kolonisierung Indiens ausmacht."

In Gambia wurden unter dem Diktator Yahya Jammeh tausende Menschen als Hexen verfolgt, verschleppt und zwangsweise mit Mitteln "kuriert", die ihre Gesundheit dauerhaft ruiniert. Als 2017 Adama Barrow an die Macht kam, versprach er, die Opfer zu entschädigen. Aber viel passiert ist seither nicht, berichtet Andrei Popoviciu. "Trotz des öffentlichen Willens, Jammeh und seine Handlanger strafrechtlich zu verfolgen, und trotz der Arbeit der Wahrheits-, Versöhnungs- und Wiedergutmachungskommission (TRRC) des Landes, die als eine der effizientesten und transparentesten Organisationen dieser Art in der Welt bezeichnet wird, hat die junge demokratische Regierung Gambias wenig getan, um den Prozess der Entschädigung und Unterstützung der Opfer Jammehs zu beschleunigen. Was von außen wie eine erfolgreiche Initiative zur Übergangsjustiz aussieht, fühlt sich für die Opfer wie ein quälend langsamer Prozess an. Viele von ihnen leiden unter lebensverändernden medizinischen Problemen, die eine sofortige und kontinuierliche Behandlung erfordern, sowie unter einer anhaltenden Stigmatisierung, die Gemeinschaften und Familien auseinandergerissen hat. ... Die Strategie der Regierung erstreckt sich zwar über die nächsten fünf Jahre, aber Kimbeng Tah, ein Justizbeamter, sagte, dass ein realistischer Zeitrahmen für die Umsetzung aller Empfehlungen mindestens ein Jahrzehnt beträgt. Verglichen mit anderen Prozessen der Übergangsjustiz in Afrika steht Gambia damit an der Spitze, was Effizienz und Geschwindigkeit angeht, auch wenn der Zeitrahmen länger ist, als manche Opfer noch zu leben haben. Die Gambier wissen aber auch, dass viele Regierungen, die in Ländern wie Liberia, Sierra Leone und Südafrika Wahrheitskommissionen eingesetzt haben, es nicht geschafft haben, deren Empfehlungen so umzusetzen, dass die Wunden, die ihre Mitbürger erlitten haben, geheilt wurden."

Magazinrundschau vom 15.08.2023 - New Lines Magazine

Nicht nur in Griechenland, Spanien und - gerade erst - Hawaii tobten in diesem Jahr verheerende Brände, sondern auch in Algerien, berichtet Stéphane Kenech in einer Reportage. "Im dritten Jahr in Folge wird Algerien von einer Serie tödlicher Waldbrände heimgesucht. Die Brände in der Kabylei, die durch heftige Winde angefacht wurden, forderten nach Angaben der algerischen Behörden mindestens 34 Tote und 325 Verletzte, 1 500 weitere Menschen mussten ihre Häuser evakuieren. Es dauerte mehrere Tage, bis die Sicherheitskräfte die Leichen in den ausgebrannten Häusern auf den Bergkuppen gefunden und gezählt hatten. Im vergangenen Jahr starben bei Waldbränden im Osten des Landes mindestens 38 Menschen, und bei einem gewaltigen Waldbrand in der Großregion Kabylei im Jahr 2021 kamen 103 Menschen ums Leben. ... Doch während das Quecksilber jeden Sommer höher steigt und die Algerier sich auf die Flammen vorbereiten, gibt es ein weiteres Problem, auf das viele hinweisen - die Nachlässigkeit des algerischen Staates. Jahrzehntelange schlechte Landbewirtschaftungspraktiken in Verbindung mit fehlenden Mitteln zur Brandbekämpfung und mangelndem Bewusstsein oder Willen der Bevölkerung, das Brandrisiko zu verringern, haben dazu geführt, dass Millionen von Algeriern der wachsenden Gefahr von Waldbränden ausgesetzt sind."

Anna Zacharias stellt die Silberschmiedinnen von Oman vor. Auch das British Museum widmet ihnen im Oktober eine Ausstellung. Eine dieser Künstlerinnen war Tuful Ramadan, die "das Schmiedehandwerk im Alter von 14 Jahren von ihrem Schwager erlernte und zu ihrem Beruf machte, nachdem sie mit Mitte 20 verwitwet war und drei kleine Kinder ernähren musste. Die Schmiedekunst verschaffte Ramadan ein gutes Einkommen und Unabhängigkeit, bis sie 2021 verstarb." Bis in die 1990er hinein waren Frauen in dem Beruf selten, doch seitdem entscheiden sich immer mehr Männer "für Karrieren mit mehr Prestige und finanzieller Sicherheit", haben Frauen das Handwerk übernommen. "Viele omanische Männer fühlen sich unter Druck gesetzt, sich vor der Heirat ein festes Einkommen zu sichern und schon in jungen Jahren für die Hochzeit und die Mitgift zu sparen, die über 9.000 omanische Rial (23.400 US-Dollar) betragen kann. 'Der Mann ist für den Unterhalt der Familie verantwortlich', sagt der 33-jährige Hilal Al Shabani, einer der letzten männlichen omanischen Silberschmiede in der Region Ad Dakhiliyah im Landesinneren. 'Immer wenn sie das College abschließen, versuchen sie, einen Job zu finden, ein Gehalt zu bekommen und sich ein eigenes Leben aufzubauen.'"