Im Kino

Beim Passieren touchiert

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
18.11.2015. Zwei Filme nicht im Kino, sondern auf Vimeo: Kurt Walkers "Hit 2 Pass" gelingt es, geläufige Perspektiven des Dokumentarfilms gleichzeitig zu unter- und zu überschreiten. Und Gina Telarolis "Here's to the Future" gewinnt aus der Reinszenierung einer achtzig Jahre alten Filmszene einen aktuellen Begriff von schöpferischer Gemeinschaft.


1: Hit 2 Pass



"Vehicles must be operated in a safe manner at all times" heißt es in dem Regelwerk, das die Prince George Auto Racing Association auf ihrer Website veröffentlicht. Das steht in einem gewissen Widerspruch zum Alleinstellungsmerkmal der dort regulierten Rennsportveranstaltung, die nicht umsonst den sprechenden Namen "Hit to Pass" trägt: Wer ein anderes Fahrzeug überholen will, darf das nur tun, wenn er dem langsameren Gefährt nicht etwa ausweicht, sondern es beim Passieren mindestens touchiert.

Bewegungsdrang gekoppelt mit implizit masochistischer Zerstörungswut: So etwas ruft natürlich sofort das Kino auf den Plan, eine Kunstform, die vielleicht tatsächlich nirgendwo so bei sich selbst ist wie im inszenierten Kontrollverlust der Karambolage. Und so hat der junge kanadische Filmemacher Kurt Walker einen Film über die rabiate Veranstaltung in King George gedreht, der fast denselben Titel trägt, wie sie selbst: "Hit 2 Pass". Wobei "ein Film über" vielleicht nicht ganz passt. Denn es geht Walker gerade darum, die distanziert-interessierte Halbdistanz, aus der die allermeisten Dokumentarfilme auf ihre Sujets blicken, nicht einzuhalten; und sie stattdessen gewissermaßen gleichzeitig zu unter- und zu überschreiten.



Zu unterschreiten, weil Walkers Film nicht nur teilnehmend beobachtet, wenn der Regisseur und einige Freunde selbst zunächst ein Auto für die rüde Rennfahrt präparieren, und es anschließend tatsächlich ins Gefecht schicken; sondern weil er außerdem alle vermittelnden Elemente, die Dokumentarfilme für gewöhnlich nutzen, weglässt: Interviews oder Voice Over gibt es sowieso nicht, genauso wenig aber jene unsichtbare fly-on-the-wall-Kamera, die zum Beispiel den prozessualen Aspekt der Rennvorbereitung herausarbeiten oder sich an einer ethnografischen Studie der Rennfahrerszene versuchen könnte. Stattdessen ist die Kamera stets maximal vom Geschehen affiziert und verwandelt gerade in ihrer eigenen Verunsicherung nicht nur den Wettkampf, sondern schon die vorherige Arbeit in der Werkstatt - und selbst die Anreise ganz zu Beginn - in ein Spektakel.

Zu überschreiten, weil Walker nach gut der Hälfte der Laufzeit einen harten Bruch setzt: Das Rennen ist vorbei, der Ausgang interessiert nicht, stattdessen spricht ein junger Mann mit Schildkappe auf dem Kopf über sein Selbstverständnis als Nachfahre nordamerikanischer Ureinwohner. Wie er damit klar kommt, dass er zwar der leibliche Sohn einer Indianerin ist, aber von weißen Adoptiveltern erzogen wurde; wie er versucht, einzelne Aspekte der indigenen Kultur in seinen Alltag zu integrieren; wie es ihm allerdings andererseits schwerfällt, einen sinnhaften Bezug zu den politischen Kämpfen der Vergangenheit herzustellen.



Nach dem Gespräch findet der Film nicht mehr zur Rennstrecke zurück, sondern begibt sich auf eine Art zielloser Spurensuche in den urbanen Raum. Wie bekommt man das eine mit dem anderen, die gesellschaftlichen Verwerfungen vergangener Jahrhunderte mit dem (von "Hit 2 Pass" im Übrigen mit keinem Wort, mit keiner filmischen Geste kritisierten) automobilen Abwrackspektakel der Gegenwart zusammen? Und was hat beides mit den von Anfang an in Walkers Film wie auf einer parallelen Spur mitlaufenden Bildern von Videospielen zu tun?


2. Here's to the Future!



"Come up to my room for a minute!" - auf diesen Satz läuft Gina Telarolis "Here's to the Future!" immer wieder zu. Ursprünglich wurde er von Bette Davis ausgesprochen, im von Michael Curtiz inszenierten Precode-Drama "The Cabin in the Cotton", wo Davis in einer Szene Richard Barthelmess verführt, einen unschuldigen Jungen vom Land. Telarolis Film zeigt, wie die Regisseurin gemeinsam mit einigen Darstellerinnen und Darstellerin sowie einem kleinen Produktionsteam die entsprechende Szene aus dem gut achtzig Jahre alten Film nachinszeniert - in einem lichtdurchfluteten Appartment im Brooklyn der Gegenwart.

Drei junge Männer und drei junge Frauen schlüpfen in die Rollen von Barthelmess und Davis. Im Lauf des Films werden alle gegen- und eine gleichgeschlechtliche Kombination ausprobiert. Der Film entwickelt einigen Humor aus dem impliziten, aber schon durch das strenge, statische framing der Gespräche nahegelegten Vergleich. Manche der Flirts muten halbwegs natürlich an, andere sind reichlich hölzern; eine der Davis-Darstellerinnen versucht sich wieder und wieder in einer ziemlich exaltierten, gleichzeitig nervös girliehaften Vamp-Performance, eine andere wirkt dagegen ziemlich bossy, ihre Einladung aufs Zimmer wirkt eher wie ein Beischlafbefehl; einer der Barthelmess-Wiedergänger sieht erst furchtbar verbiestert und dann fast schon grotesk horny aus. Auch gibt es, merkt man, tausend verschiedene Arten, mit Weingläsern anzustoßen, eine Gabel Spaghetti zum Mund zu führen, einem Menschen über die Wange zu streicheln.



Das alles ist trotzdem nur ein Teil des Films, und nicht notwendigerweise der wichtigste. "Here's to the Future!" zeigt nicht nur die Dreharbeiten selbst, sondern auch das Drumherum. Wie die Beteiligten ankommen und sich erst einmal gar nicht über das bevorstehende Projekt, sondern zum Beispiel über gemeinsame Bekannte oder eine vor kurzem besuchte Party unterhalten. Wie sie zwischendurch kurz an die frische Luft gehen, wie sie rauchen, Musik hören und vor allem viel Rotwein trinken.

Alle Mitwirkenden sind im echten Leben befreundet - und ein Clue dieser gleichzeitig raffinierten und relaxten Anordnung besteht gerade darin, dass "Here's to the Future!" sich selbst keineswegs zu diesem "echten Leben" in Opposition setzen möchte. Ganz im Gegenteil beharrt Telaroli auf der unbedingten Kontinuität ihres Films mit der spezifischen sozialen Situation, aus der heraus er entstanden ist. Sowohl die Regisseurin als auch alle anderen Crewmitglieder sind andauernd im Bild zu sehen; selbst während der (freilich gerade nicht wackelkameramäßig hingeschluderten, sondern konzentriert und mit ästhetischem Bewußtstein gestalteten) Reinszenierungen bleiben sie auf der Tonspur präsent.



Entstanden ist eine Art making of zu einem Film, der nicht existiert, der auch nie existieren sollte, der vermutlich nie existieren konnte. Der Abstand zum klassischen Hollywoodkino ist zu groß, auf allen Ebenen. Was aber bleibt, ist ein Begriff von schöpferischer Gemeinschaft, ohne den das klassische Kino nicht denkbar gewesen wäre. Und der heute vielleicht, das legt Telarolis Film nahe, dessen wichtigstes Erbe ist.


3. Ästhetik des Kontrollverlusts

In den deutschen Kinos sucht man beide Filme vergebens. Auf Vimeo jedoch kann man sich sowohl "Hit 2 Pass" als auch "Here's to the Future!" noch bis zum 22.11. kostenlos ansehen (und hinterher den Filmemachern einen frei wählbaren Betrag über PayPal überweisen). Diese ungewöhnliche Strategie eines "limited online release", die in den USA von einem mikroskopisch kleinen "echten" Kinostart begleitet wird (und die man als Offkino-Pendant der jüngsten Kinoaktivitäten von Onlinegiganten wie Netflix oder Amazon betrachten kann), ist eine Antwort auf die Schwierigkeit, sogenannten kleinen Filmen wenigstens ein Minimum an Sichtbarkeit zu verschaffen. Auf der Website MUBI findet sich ein Gespräch zwischen Telaroli und Walker, in dem es unter anderem um dieses Problem geht.

Aber bei weitem nicht nur. Es geht zum Beispiel auch um die diversen und äußerst eklektischen Einflüssen, die Telaroli und Walker im eigenen Werk ausfindig machen - die klassischen Helden des internationalen Autorenkinos spielen dabei kaum eine Rolle, wichtiger zu sein scheinen britische Horrorfilme der 1960er, Fernsehserien wie "O.C. California" und "Columbo", das Computerspiel "Dragon Quest" oder die Briefe Rosa Luxemburgs. Manches mag da Koketterie der nerdigeren Art sein - aber es verweist doch auf eine Idee von Filmschaffen, die sich ihrer faktischen Randständigkeit zum Trotz selbstbewusst und ohne Scheuklappen in der multimedialen Welt zu verorten weiß. In diesem Sinne ist auch der Erscheinungsort des Interviews kein Zufall: Die Website MUBI, der sowohl Walker (als Mitarbeiter) als auch Telaroli (als Autorin) schon länger verbunden sind, hat sich in den letzten Jahren zum Zentrum einer Form von Schreiben über Film entwickelt, die genau einen solchen neugierigen, weltoffenen Blick aufs Kino einübt. Und jetzt beginnt sich diese neue Form des Schreibens über Film auch in eine neue Form des Filmemachens zu übersetzen...

Weiterhin und damit verbunden geht es in dem Gespräch um einen Begriff von Gemeinschaft, dem sich beide Filmemacher verpflichtet fühlen. Tatsächlich ist das eine Verbindung zwischen den beiden ansonsten in vieler Hinsicht fast gegensätzlich anmutenden Filmen: Sowohl die entropisch angelegte Freiluftdoku "Hit 2 Pass" als auch das konzentrierte Kammerspiel "Here's to the Future!" sind unzweifelhaft Ergebnis kollektiver Schaffensprozesse - und zwar nicht nur in jenem allgemeinen Sinn, in dem das für fast alle Filmprojekte gilt. Denn die Freundschaftsnetzwerke, aus denen heraus die Filme entstanden sind, spielen nicht nur produktionsseitig eine Rolle, sie ragen auch in die Dramaturgie, ja sogar in die Textur der fertigen Werke hinein: In beiden Filmen übernehmen immer wieder einzelne Mitglieder der Crew, oder auch des Casts (eine Unterscheidung, die eh in beiden Filmen gründlich kollabiert ist) die Kamera - oder besser: eine von vielen Kameras. Bei Telaroli wird das eher reflexiv gewendet (der Laptop blickt per automatisierter Aufnahmefunktion auf seine Betrachter zurück), bei Walker eher euphorisch (zwei junge Cinephile begeistern sich für eine Drohnenkamera; und einmal darf ein Kind mit der Digicam auf Streifzug gehen und koppelt sie mit einem Fernglas).

Hinter der hybriden Bildlichkeit, die beide Filme auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmaß erproben, steht nicht unbedingt eine Ethik, aber doch eine Intuition: In einer Welt, in der fast jedes Mobiltelefon und fast jeder Laptop mit einer Kamera ausgestattet ist, erscheint das unbedingte Primat des einen, in sich stabilen, von einer einzigen Subjektivität kontrollierten Bildes nicht mehr erstrebenswert. Sinnvoller dürfte es sein, den faktisch eh schon eingetretenen Kontrollverlust anzuerkennen und als ein ästhetisches Potenzial zu erkunden.

Lukas Foerster

Hit 2 Pass - Kanada 2014 - Regie: Kurt Walker - Laufzeit: 72 Minuten.

Here's to the Future! - USA 2014 - Reige: Gina Telaroli - Laufzeit: 72 Minuten