Heute in den Feuilletons

Meine Fehler kann ich selber machen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.03.2008. In der FR erzählt Umberto Eco, dass er das Buch bereits gegen eine Festplatte getauscht hat. In der Welt erklärt Paul Kuhn, wie er vom Jazz zur Wahrheit kam - oder war's umgekehrt? Die Berliner Zeitung polemisiert gegen Tilman Jens' gestrigen FAZ-Artikel über seinen an Alzheimer erkrankten Vater Walter Jens. Die NZZ meldet, dass Finnland wegen der Entlassungen bei Nokia im Jahr 2011 nicht Gastland der Frankfurter Buchmesse sein darf. Die SZ berichtet über Neubewertungen des Pariser Mais 1968.

Welt, 05.03.2008

Im Interview mit Josef Engels erklärt der Entertainer Paul Kuhn, der gerade achtzig wird, wie er über den Jazz zur Wahrheit kam - oder war es umgekehrt? "Die Initialzündung war im Krieg, 1943, als die Glenn-Miller-Band in England war. Die hat im Radio extra für Deutsche gespielt, mit Nachrichten auf Deutsch, die erklärten, wie die Front in Russland wirklich verläuft. Es gab die Wahrheit und zwischendurch immer Jazz."

Weitere Artikel: Als Aufmacher bringt die Welt einen Vorabdruck aus Raoul Schrotts schon jetzt so diskutierten Buch über Homer. Nathalie Portman und Scarlett Johansson machen im Interview mit Peter Zander PR für ihren neuen Film. Anlässlich der Gründung einer deutschen Produzentenallianz (Website) weist Hanns-Georg Rodek darauf hin, dass "die Aufteilung von Interneteinnahmen in Deutschland ebenso dringlich einer Regelung bedarf wie in Hollywood". Uwe Wittstock stellt eine gewisse Tendenz des neueren deutschen Romans zum Politischen fest, empfiehlt aber am dringlichsten einen Roman des Schweizers Lukas Bärfuss, der vor dem Hintergrund des Genozids von Ruanda spielt. Hendrik Werner berichtet über die Internetstrategie der Bibliothek von Harvard. Uta Baier liest eine kleine Studie des Bibliothekars Veit Probst über den Fund einer handschriftlichen Anmerkung in einem Wiegendruck, die beweist, dass Mona Lisa la Gioconda war. (Nachtrag vom 6. März: Ein Leser weist uns darauf hin, dass die Studie online zu lesen ist.) Manuel Brug begutachtete neuere Produktionen an der Oper von Barcelona. Und Kai-Hinrich Renner schreibt über die Internetstrategie des ZDF, das angeblich mit zehn deutschen Zeitungsverlagen, darunter der SZ und der WAZ, über eine Kooperation verhandelt.

Besprochen wird Doris Dörries' Film "Kirschblüten - Hanami".

FR, 05.03.2008

Anlässlich eines Essays aus seinem neuen Buch "Im Krebsgang voran. Heiße Kriege und medialer Populismus", in dem er sich darüber Gedanken macht, wie eine Welt ohne Computer aussähe, spricht Umberto Eco im Interview über Nutzen und Grenzen des Internets und bekennt, technischen Schnickschnack durchaus zu mögen. Außer dem iPod: "Weil ich es prinzipiell dumm finde, Musik beim Spazierengehen zu hören. Ich höre Musik lieber bei mir zu Hause, lege auch mal eine Konzert-DVD ein. Ich spiele auch mal Blockflöte. Auch wenn ich keinen iPod besitze, habe ich sonst allerlei technisches Zeug in meinem Haus herumstehen. (...) Ich mag technischen Schnickschnack, es macht mir großen Spaß, neue IT-Produkte zu kaufen und auszuprobieren. Kürzlich habe ich mir eine externe Festplatte mit 250 Gigabytes Speicherkapazität gekauft. Unglaublich. Ich habe gleich den kompletten Inhalt der italienischen National-Bibliothek draufgepackt - große Werke der Welt-Literatur. Wenn ich verreise, stecke ich das Ding einfach in meinen Koffer und packe es in meinem Hotelzimmer in Hongkong wieder aus. Und da habe ich dann immer die komplette Edition von Shakespeares Werken, die Bibel oder des Koran vor mir."

Im Feuilleton möchte Christian Schlüter das umstrittene Kinderbuch "Wo bitte geht's zu Gott? fragt das kleine Ferkel" des Vorsitzenden der Giordano-Bruno-Stiftung Michael Schmidt-Salomon nicht als jugendgefährdend indiziert sehen: das Buch sei weder antisemitisch noch militant atheistisch. Sabine Heymann berichtet über die Dreharbeiten zur Verfilmung der Lebensgeschichte von John Rabe, dem "guten Deutschen" von Nanking, die unter der Regie von Florian Gallenberger mit Ulrich Tukur in der Titelrolle gerade in Shanghai stattfinden. Anke Dürr porträtiert den Regisseur Nuran David Calis, der am Schauspiel Hannover Schillers "Kabale und Liebe" und Wedekinds "Frühlings Erwachen" inszenierte. Und in Times mager wundert sich Arno Widmann über Tilman Jens? gestrigen Versuch in der FAZ, die Demenz seines Vaters Walter Jens mit Scham über dessen NS-Zeit zu erklären.

Besprochen werden eine Ausstellung des britischen Künstlers David Thorpe im Museum Kurhaus Kleve, eine Ausstellung über Formen des Tagebuchs als Teil der Erinnerungskultur im Frankfurter Museum für Kommunikation, eine Inszenierung von Bert Strebes Stück "Rabenkind" am Freien Schauspiel Ensemble Frankfurt und Bücher, darunter der Roman "Liebesbrand" von Feridun Zaimoglu und Bill Bufords Reportage "Hitze" über die "Abenteuer eines Amateurs als Küchensklave, Sous-Chef, Pastamacher und Metzgerlehrling" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 05.03.2008

In tazzwei erklärt die Historikerin Ute Frevert im Interview anlässlich des amerikanischen Wahlkampfs um die Präsidentschaftskandidatur, welche Rolle Gefühle in der Politik spielen. "Es geht um dieses Moment des überspringenden Funkens, der sich dann auch konkret in Wahlentscheidungen ausdrückt. Da spielen Parteimaschinerien jedoch kaum eine Rolle. Dieses Moment zu erzeugen bleibt die Hauptaufgabe der Kandidaten und ihrer Spin-Doktoren, die Tag für Tag beobachten, ob die Ansprache funktioniert. Schaffen wir es, zu begeistern und die Begeisterung auf Dauer zu stellen?"

Auf den Kulturseiten informiert Dorothea Hahn über einen geplanten Boykott der diesjährigen Pariser Buchmesse durch zahlreiche arabische Staaten; Anlass ist Ehrengast Israel. Uh-Young Kim stellt Barack Obamas TV-Lieblingsserie "The Wire" vor, die mit der fünften und letzten Staffel jetzt zu Ende geht.

Besprochen wird ein Bildband der Schweizer Fotografin Linda Herzog, die zweieinhalb Jahre in der Türkei unterwegs war.

Und hier Tom.

Berliner Zeitung, 05.03.2008

Gar nicht gefallen hat Harald Jähner der gestrige FAZ-Artikel Tilman Jens', der die Alzheimererkrankung seines Vaters Walter Jens in Verbindung brachte mit der Verdrängung der Nazizeit (mehr hier): "Mit Tilman Jens zieht der Sensationalismus und Voyeurismus des Fernsehens in das Krankenzimmer seines Vaters ein. Der Sohn des ehemaligen Präsidenten der Akademie der Künste setzt mit Leidenschaft Autoritäten auf die Armesünderbank."

Ellen Wesemüller berichtet über die Wiederereröffnung der Ausstellung der Gruppe Surrend in der Galerie Nord in Moabit, die nach Drohungen von Muslimen wegen eines satirischen Plakats geschlossen worden war.

Tagesspiegel, 05.03.2008

Auch Rüdiger Schaper kommentiert Tilman Jens' gestrigen FAZ-Artikel: "Demenz als morbus teutonicus? Allein, Demenz macht keinen Unterschied nach Abstammung, Moral, den Taten eines Menschen."
Stichwörter: Demenz

NZZ, 05.03.2008

Finnland wird nicht Gastland der Frankfurter Buchmesse 2011, meldet A. Kl.. Nach der Schließung des Nokia Werks in Bochum habe der Direktor der Buchmesse die Finnen wissen lassen, "Island werde 2011 als Ehrengast zum Zuge kommen. Gemäß einem Leitartikel der Zeitung Hufvudstadsbladet in Helsinki sagte er 'klipp und klar', die Schließung des Bochumer Werks habe Finnlands Situation als wenig günstig erscheinen lassen." (Werden auch die deutschen Verlage boykottiert nach den Entlassungen bei Siemens und BMW?)

Weitere Artikel: "Historisch flach" fand Joachim Güntner den Fernsehfilm "Die Gustloff". In Frankreich gibt es Proteste gegen die Einfrierung des Kulturbudgets, meldet Marc Zitzmann.

Besprochen werden die Ausstellung "Schätze aus dem Nationalen Palastmuseum, Taiwan" im Kunsthistorischen Museum in Wien, eine Werkschau mit elf Kurzstücken am Theater Bern, die Uraufführung von Christopher Wheeldons Choreografie "Electric Counterpoint" beim Royal Ballet in London, Kai Burkhardts Adolf-Grimme-Biografie sowie Kinder- und Jugendbücher (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 05.03.2008

Mehr Wirklichkeit und Gegenwart in der Literatur forderte kürzlich Richard Kämmerlings. Für den Schriftsteller Norbert Niemann ist es nicht die Aufgabe eines Autors, den "wie auch immer gearteten Nebel" über der Gegenwart zu lichten. "In Gegenwartsromanen ist ausnahmsweise tatsächlich der Weg das Ziel. Sie behandeln Nebel und Gegenwart wie Synonyme, sie sprechen von einem ungreifbaren Gegenüber, als wäre es eine Geliebte, die auf ungewisse Zeit verreist ist und die sie nun aus dem Gedächtnis zu zeichnen versuchen." (Zur Forderung nach mehr Welthaltigkeit im deutschen Roman schrieb auch Ulf Erdmann Ziegler.)

Weitere Artikel: Patrick Bahners kommentiert die Sachverständigenanhörung zur Verschiebung des Stichtags für den Import embryonaler Stammzellen ("Wanderdüne"!) im Bundestag. Jürgen Kesting erinnert in seinem Nachruf auf den Tenor Giuseppe Di Stefano an einen merkenswerten Spruch des Sängers: "Geben Sie mir keine Ratschläge, meine Fehler kann ich selber machen." Abgedruckt ist ein Gedicht von Peter Rühmkorf, "Gesang vom verfehlten Verlangen", aus dem demnächst erscheinenden Band "Paradiesvogelschiß". In der Leitglosse befasst sich Gina Thomas mit der Freigabe von Geheimdienstakten des britischen Staatsarchivs des Orakels Louis de Wohl. Wolfgang Sandner ärgert sich über die nichtssagende Feier zum Hundertzwanzigsten des ehemaligen Neuen Deutschen Theaters - heute Staatsoper - in Prag, die ihm ein Symptom für das "gängige" Opernprogramm in Prag überhaupt zu sein scheint.

Auf der letzten Seite macht Andreas Rossmann einen leicht erschlagenen Eindruck nach dem energischen Auftritt von Beppe Grillo bei der lit.Cologne (Grillos gepfefferte Kommentare kann man in seinem Blog auf Italienisch, Englisch und Japanisch lesen, staun!) Anlässlich der Feier um die Enthüllung des Giordano-Bruno-Denkmals in Berlin kann Thomas Thiel es absolut nicht fassen, dass die Giordano-Bruno-Stiftung und ihr Vorsitzender Michael Schmidt-Salomon "jede Form der Metaphysik und Religiosität erbittert befehden". Auf der DVD-Seite empfiehlt Andreas Platthaus Julian Temples Dokumentation über Joe Strummer, "The Future Is Unwritten". Außerdem geht"s um Filme von Rosa von Praunheim, Todd Haynes" "Poison", eine Platinausgabe von Disneys "101 Dalmatiner" und Griffin Dunnes "Fierce People".

Besprochen werden Justin Chadwicks Kostümfilm "Die Schwester der Königin" ("ein filmisches Turnier zwischen Natalie Portman und Scarlett Johansson, ein zweistündiges Duell zwischen Blond und Brünett", schreibt Andreas Kilb, dem das zu schmecken schien), Thomas Grubes Dokumentarfilm "Trip to Asia" mit den Berliner Philharmonikern, Stefan Bachmanns Inszenierung der "Maria Stuart" am Düsseldorfer Schauspielhaus ("Nur Schlag, nicht Schlagabtausch", urteilt Andreas Rossmann), eine Ausstellung zur Hamburger Sammlerin und Stifterin Therese Halle in der Hamburger Kunsthalle.

SZ, 05.03.2008

Johannes Willms berichtet über eine umfassende Neubeurteilung des Mai 1968, die nach vierzig Jahren nun in Frankreich in Gang kommt. Die gängige Deutung der Ereignisse als ein rein kulturelles Phänomen ist laut einer Studie der amerikanischen Komparatistin Kristin Ross ("Mai 68 et ses vies ulterieurs", Editions Complexe, 2005) unhaltbar. Sie dokumentiere vorbildlich, "dass in den Mai-Unruhen von 1968 ein Gemisch aus politischen, gesellschaftlichen und sozialen Geltungsansprüchen zur Explosion kam, das sich seit dem Ende des Algerienkriegs 1962 zusammengebraut hatte und das durch die von General de Gaulle ausgeübte Quasi-Diktatur verdichtet wurde. In dieser Sicht schrumpft der spektakuläre Konflikt zwischen Studenten und Polizei im Quartier Latin zwar nicht zu einem Randereignis, aber erhält seine wahre Dimension, insofern er lediglich als ein Aspekt der viel größeren, ganz Frankreich erfassenden und vor allem Arbeiter wie Bauern mobilisierenden Empörung aufgefasst wird."

Weitere Artikel: Der stellvertretende Internetchef der SZ Bernd Graff (der anscheinend immer dann für die Printausgabe herangezogen wird, wenn es gegen das zu "ungefilterter Hetze" neigende Internet geht), empört sich über die Website Valleywag, eine Art Sun im Internet, die äußerst boshaften Klatsch über die Affären von Internetgurus wie Wikipedia-Gründer Jimmy Wales verbreitet. Philip Grassmann informiert über die Wiedereröffnung der Berliner Ausstellung der dänischen Künstlergruppe surrend in der Berliner Galerie Nord, die wegen eines Plakats, das die Kaaba in Mekka mit der Auschrift "Dummer Stein" zeigt, nun unter Wachschutz steht. Alexander Menden weiß zu berichten, dass der britische Geheimdienst im Kampf gegen Hitler auf Führer-Horoskope setzte. Niklas Hofmann berichtet über einen peinlichen Fall von Abschreiben durch einen früheren Bush-Strategen. Stefan Kodehoff informiert über den bevorstehenden Verkauf des Van-Gogh-Bildes "Enfant a l?Orange", einem Hauptwerk der Villa Flora in Winterthur.

Besprochen werden Paul Haggis' Irak-Kriegfilm "Im Tal von Elah", eine Ausstellung der Wiener Albertina, die erstmals seit 1936 mit Max Ernsts Collage-Werk "Woche der Güte" ein Hauptwerk des Surrealismus zeigt, ein Konzert des jungen Ebene-Quartetts im Münchner Herkulessaal, Tilmann Köhlers Inszenierung von Goethes "Faust I" am Weimarer Nationaltheater, die filmischen Porträts der niederländischen Künstlerin Manon de Boer im Frankfurter Kunstverein, und Bücher, darunter Alexander Demandts kleine Kulturgeschichte der Deutschen und Der Erzählungsband "Die Nacht, die Lichter" von Clemens Meyer. (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)