Essay

Aber es ist kein Friede

Von Rudolf Isler
25.04.2024. Ist es dem vermeintlichen "Ende der Geschichte" zuzuschreiben, dass Manes Sperber fast in Vergessenheit geraten ist? Sperbers große Romantrilogie "Wie eine Träne im Ozean" war lange nur mehr im Antiquariat zu haben. Nun wird sie endlich neu herausgebracht und zeigt die brennende Aktualität von Sperbers antitotalitärem Denken. Gegen die Sinnlosigkeit der Geschichte nach Möglichkeiten politischen Handelns zu suchen und dem Tod einen Sinn im Leben entgegenzuhalten - das gehört zum Eindringlichsten, was der Roman dem Leser zu geben vermag. Einige Tage vor Erscheinen des Bandes  publizieren wir das Nachwort des Mitherausgebers Rudolf Isler.
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Die Neuauflage von "Wie eine Träne im Ozean" erscheint am 15. April im Sonderzahl Verlag. Wir danken Rudolf Isler für die Genehmigung, sein Nachwort zu der Ausgabe hier zu publizieren. D.Red.
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Manès Sperbers monumentaler Roman, der 1961 erschien, passt in unsere Zeit. Auf den ersten Blick erinnert Sperber an die dramatischen dreizehn Jahre von 1931 bis 1944. Mit einer ungeheuren Eindringlichkeit lässt er, literarisch verarbeitet, die Geschichte der totalitären Herrschaft aufscheinen - ihr Aufkommen, ihre katastrophale Wirkung und das unausweichliche Schicksal der Menschen, die in ihre erbarmungslosen Mühlen geraten, als Opfer und als Täter. Die Authentizität des selbst Beteiligten, das Charisma des großen jüdischen Erzählers und Erinnerers machen das Eintauchen in die Geschichte des letzten Jahrhunderts zu einem unvergesslichen und spannenden Erlebnis. Aber der Fluchtpunkt von Sperbers Erzählung reicht weiter, unmittelbar in unsere Gegenwart. '"Wie eine Träne im Ozean"' rückt Themen und Fragen in den Blick, die in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts aktueller und bedrängender nicht sein könnten.

Wohin wir auf der Welt schauen, sehen wir ein Erstarken von autoritären Regimen, von menschenverachtenden Herrschaftsformen, von Missachtung rechtsstaatlicher Regeln und Unterdrückung von Volksgruppen und Minderheiten. Aber gleichzeitig gibt es fast überall auf der Welt hoffnungsvolle Bewegungen, einzelne Menschen und Gruppen, welche die Demokratie verteidigen, sich für Recht und Gerechtigkeit einsetzen, menschliche Wärme und Mitgefühl leben, gegen Not, Elend und Krankheit kämpfen, insgesamt für Werte, für die sich Dojno Faber, der Held des Romans, engagiert. Und so lohnt es sich heute mehr denn je, in die Geschichte, die da erzählt wird, einzutauchen und von ihr nicht mehr losgelassen zu werden. Je tiefer wir uns aber in Sperbers Welt verlieren, umso deutlicher erkennen wir, dass da noch viel mehr ist als das historisch-politische Kernthema: Wir werden mit existenziellen Fragen konfrontiert, die weder an die geschichtlichen Ereignisse noch an unsere Gegenwart gebunden sind. Und so würde "Wie eine Träne im Ozean" heute vielleicht noch in höherem Maße die Rezeption rechtfertigen, die sie bei ihrer Erscheinung erfahren hat, denn ihre Substanz ist zeitlos.

Als die Trilogie im Jahr 1961 in deutscher Sprache erschien, löste sie zum Teil euphorische Reaktionen aus. Siegfried Lenz bezeichnete "Wie eine Träne im Ozean" als "ein großes Zeugnis europäischer Romanliteratur, ein politisches und philosophisches Werk, eine Gewissensforschung, ein Zeitportrait ohnegleichen, an dem, so kam es mir mitunter vor, Dostojewskis Leidenschaft ebenso mitgewirkt hat wie die denkerische Luzidität der französischen Moralisten."1 Heinrich Böll nannte es eine der wichtigsten Publikationen nach 1945, einen europäischen Schlüsselroman und verglich Sperbers Monumentalwerk mit Tolstojs Krieg und Frieden. Und Marcel Reich-Ranicki erweiterte Arthur Koestlers Prädikat "Saga der Komintern", indem er darauf hinwies, dass über das Zeitbedingte hinaus fundamentale Themen der menschlichen Existenz angesprochen würden und dass Sperber nur, wie er im Vorwort selbst sage, Charaktere, Ereignisse, Erlebnisse und Erfahrungen behandle, wenn sie in sich ein Gleichnis bergen würden.

Seinen revolutionären Kampf habe Sperber, so schrieb Reich-Ranicki anfangs 1962 in der Zeit, mit der Feder getauscht, allerdings "auf anderer Ebene, mit anderen Mitteln und auch mit gewandelten Zielen". Aber aufgehört habe der ehemalige Revolutionär Sperber nie, ein "politischer Erzieher und militanter Moralist zu sein."2 Kultstatus erreichte "Wie eine Träne im Ozean" später bei den Achtundsechzigern. Als er sich nachträglich für seine gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei im Frankfurter Häuserkampf von 1973 rechtfertigen musste, hat sich Joschka Fischer in einer Fragestunde im Deutschen Bundestag explizit auf Sperber bezogen. Er hat in den Saal gerufen, dass er der Gewalt als politisches Kampfmittel mit Sicherheit entsagt hätte, wenn er dessen Roman schon früher gelesen hätte. Und Daniel Cohn-Bendit ließ anlässlich des 100. "Literaturclubs", den er im Schweizer Fernsehen zehn Jahre lange moderierte, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gesprächsrunde ihren wichtigsten Roman aus dem 20. Jahrhundert auswählen. Er selbst wählte "Wie eine Träne im Ozean" und gab eine für die Vertreter der Studentenbewegung jener Zeit bezeichnende Begründung: "'Wie eine Träne im Ozean' ist eine Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und dem Faschismus, es ist der Versuch zu verstehen, wie man Revolutionär wird und warum man Revolutionär ist - und wie man da rauskommt, wenn man erfährt, wie schrecklich die Revolution ist. Manès Sperber beschreibt einen Teil des letzten Jahrhunderts, eines der dramatischsten, der schrecklichsten Jahrhunderte, und es ist trotzdem ein Roman, der mich immer im Grunde genommen positiv beflügelt hat, denn man kommt gut dabei raus, man findet etwas, nämlich eine demokratische Gesellschaft." 3

Gerade auch die schonungslose Analyse des Stalinismus und die unterschiedliche Verstrickung von überzeugten Sozialisten in die destruktiven Vorgänge innerhalb der Kommunistischen Partei, deren Mitglied Sperber zehn Jahre lang war und deren Pervertierung er als seine größte persönliche Niederlage betrachtete, brachte viele Linke dazu, ihre naive Rezeption und Akzeptanz des Marxismus-Leninismus am Ende der 1960er Jahre zu überdenken und den Kopf darüber zu schütteln, dass sie mit Plakaten von Mao und Marx durch die westeuropäischen Metropolen marschiert waren. Dann aber, mit dem Fall der Mauer, war der Kampf gegen den Totalitarismus bald kein Thema mehr. Die bittere Niederlage, die der Sieg des Kommunismus in den Ländern des Ostens für die freiheitlichen Sozialisten über Jahrzehnte bedeutet hatte, interessierte nicht mehr viele. Zwar erschienen die dramatischen Tage im November des Jahres 1989 wie eine späte Erfüllung von Sperbers großer Hoffnung, wie ein später Erfolg seines lebenslangen Kampfes gegen den Stalinismus - fast wie eine Ehrung seiner großen Obsession. Aber gelesen wurde er nun weniger. Und so ist es durchaus dem vermeintlichen "Ende der Geschichte" zuzuschreiben, dass Sperber fast in Vergessenheit geraten ist. Es war die offensichtliche Aktualität und Brisanz von Sperbers Analysen totalitärer Systeme, welche im Jahr 2021 einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Sperber-Symposiums "Macht und Tyrannis" in Wien und St. Pölten dazu bewog, eine Neuauflage von Sperbers wichtigsten Werken zu planen. Das Symposium hatte gezeigt, wie unmittelbar Sperbers vergriffene Schriften zum Verständnis und zum Nachdenken über den aktuellen Autoritarismus anregen.

Die von Wolfgang Müller-Funk herausgegebene Ausgabe präsentiert drei Bände: eine Sammlung von ausgewählten Essays, die dreiteilige Autobiografie und die vorliegende Romantrilogie. Gerade für eine neue, junge Leserschaft könnte Sperber eine reiche Inspiration sein: eine Anregung, trotz aller Widrigkeiten sich in der heutigen Welt zu engagieren, ein Beleg für den Sinn, sich für die Rettung der Demokratie einzusetzen, eine Unterstützung in ihrem Anliegen, in Klimafragen aktiv zu werden oder Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Anderslebenden hochzuhalten, ja, eine ganz grundsätzliche Ermutigung, die Welt zu verbessern. Denn dieses Anliegen spricht aus jeder Zeile des Romans. Sperber selbst hat diesen seinen Antrieb in einem späten Essay reflektierend auf den Punkt gebracht: "Ich bin nie einer Idee begegnet, die mich so überwältigt und die Wahl meines Weges so beeinflusst hat wie die Idee, dass diese Welt nicht bleiben kann, wie sie ist, dass sie ganz anders werden kann und es werden wird. Diese einzige, fordernde Gewissheit bestimmt, seit ich denken kann, mein Sein als Jude und Zeitgenosse."4

Über junge Leserinnen und Leser würde sich Sperber besonders freuen, hat er doch für sie geschrieben. Im Vorwort des Romans steht: "Ich schrieb nach berühmtem Muster - für alle und für keinen; in Wahrheit dachte ich an die noch Ungeborenen, die heute die Jungen sind." Ganz in Übereinstimmung dazu hat Cohn-Bendit geäußert, dass er das Buch allen jungen Leuten empfehle, mit denen er ins Gespräch komme. Natürlich richtet sich die Neuauflage der "Träne", wie sie von Habitués kurz genannt wird, nicht nur an sie, sondern an eine breite lesende Öffentlichkeit - die viel zahlreicher sein könnte, als sie es in den vergangenen drei Jahrzehnten war. Im Literarischen Quartett hat Marcel Reich-Ranicki einmal behauptet, es gebe in der Literatur nur zwei Themen: die Liebe und den Tod. Sperbers Roman widerlegt dieses Statement, aber Liebe und Tod begleiten die Lesenden von "Wie eine Träne im Ozean" von Anfang an.

Stärker noch als bei der ersten Lektüre - wenn die historisch-politische Dimension schon bekannt ist und weniger Aufmerksamkeit absorbiert - werden beim nochmaligen Lesen die vielfältigen Schattierungen sichtbar, in denen die Liebe in der Seele des Menschen ihren - schönen, einzigartigen, tragischen, skurrilen - Platz einnimmt. Da ist die erste große Liebe der Protagonistin Relly mit dem Helden des Romans, die ihre Spuren hinterlässt, die beide nie mehr loslassen wird und bei jeder Begegnung erneut intensive Gefühlsregungen auslöst, obwohl sie schon lange getrennt sind und sich über die Zeit entfremdet haben. Oder das Sich-Verlieren des polnischen Adeligen Skarbek in einem flüchtigen Liebesabenteuer, das nicht nur dem momentanen Reiz geschuldet ist, sondern auch ein vor sich selbst versteckter Vorwand ist, der Verantwortung für die jüdischen Widerstandskämpfer auszuweichen, die er beherbergt. Diese sind durch seine polnischen Partisanen an Leib und Leben bedroht, und fast alle werden dann auch umgebracht - nur weil ihr Chef der Versuchung bereitwillig nachgegeben hat. Liebe, die sich abgenutzt hat, unerfüllte Hoffnungen von Verliebten, Resignation in Liebesbeziehungen oder die reine Zweckliebe einer jüdischen Frau, die sich einem Nazi hingibt, um Vorteile zu haben, die sie am Schluss mit ihrem Tod bezahlt - oft nur mit wenigen Pinselstrichen angedeutet erscheinen so zahllose Spielarten von "Liebe", ohne Kommentar und ohne moralische Belehrung, aber mit dem Anspruch, moralische Fragen zu stellen und das Leben in vielfältigen Variationen zu zeigen. Auch wenn das Wort Psychologie nicht vorkommt, identifiziert man hinter all den angedeuteten Episoden den genialen Psychologen Manès Sperber - in jungen Jahren war er Meisterschüler Alfred Adlers, des Begründers der vergleichenden Individualpsychologie.

Mit der gleichen einfühlsamen Art und gleichsam ohne Filter wird man mit dem Tod konfrontiert - mit seiner Bedeutung für die Überlebenden, denn für die Toten ist er ohne Belang. Kerben hinterlässt der Verlust bei den Zurückgebliebenen. Nach einer letzten Liebesnacht mit Ljuba wird der junge kommunistische Aktivist Andrej von der jugoslawischen Geheimpolizei umgebracht. Sein Tod rechtfertigt jeden Schmerz, das Leben von Ljuba aber ist verstümmelt. Nur langsam und nie mehr ganz findet sie zurück. Es hat selbstredend auch mit dem apokalyptischen 20. Jahrhundert zu tun, dass der Tod zum ständigen Begleiter der Überlebenden wird. Die Toten im Roman sind Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, der sowjetischen "Säuberungen" und des Holocaust. Der Tod vermischt sich mit einem Gang der Geschichte, der einem als beinahe willkürlich, oft zufällig, nur bedingt beeinflussbar und in den Auswirkungen für den Einzelnen schicksalhaft vorkommt. Die Geschichte scheint nicht gerecht, sondern gleichgültig. Sie widerlegt den nicht, der Leiden erzeugt, und sie belohnt nicht die, die sich für eine Sache opfern. Und auch diejenigen, die im Namen einer Ideologie umgebracht werden, tragen nicht dazu bei, dass sich ein Zweck der Geschichte erfüllen würde. Geschichte erscheint so fast als "a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing", wie es in Macbeth heißt. Gegen die Sinnlosigkeit der Geschichte nach Möglichkeiten politischen Handelns zu suchen und dem Tod einen Sinn im Leben entgegenzuhalten - das gehört zum Eindringlichsten, was der Roman dem Leser zu geben vermag.

Glauben ist für Sperber keine Antwort auf die Tatsache des Todes. Er selbst hat seinen religiösen Glauben als Elfjähriger im Ersten Weltkrieg verloren und ist nie mehr zum Glauben zurückgekehrt. Säkularisierte Formen von Glauben scheinen aber in seiner ersten Lebenshälfte durchaus präsent gewesen zu sein - er selbst deutet das immerhin an verschiedenen Stellen seines Werks an. Als ganz junger Mann war er ein glühender Verehrer von Alfred Adler und später ein linientreuer Kommunist. Beides beinhaltete für ihn gleichsam religiöse Momente, ist Ausdruck eines säkularen Messianismus. Nach dem Bruch mit Adler und mit der kommunistischen Partei, hat er sich selbst als "treuen Ketzer" bezeichnet, mit einem Begriff aus der Welt des Glaubens; er habe mit der Individualpsychologie und mit dem Kommunismus gebrochen, aber das Bewahrenswerte beider Denksysteme behalten. Es erstaunt deshalb nicht, dass in der "Träne" Fragen von Glauben und Nichtglauben, von religiösen und weltlichen Mystizismen und Fragen nach der Art, wie sie in die Persönlichkeiten der Protagonisten verwoben sind, zu Themen werden. Im Ersten Buch des Romans unternimmt Josmar Goeben, der mit vollem Namen kaum zufällig Josef-Maria heißt, für die kommunistische Partei einen Botengang nach Kroatien. Das Kapitel ist mit "Die nutzlose Reise" überschrieben. Sie ist nutzlos, weil Goeben mit den überbrachten Nachrichten nichts bewirken kann. Aber auf einer tieferen Ebene ist sie für ihn selbst nutzlos. Er ist nicht in der Lage, den Widerspruch zwischen der offiziellen kommunistischen Linie und der Realität in Kroatien wahrzunehmen. Sein unerschütterlicher Glaube an die Richtigkeit der Parteidoktrin verbietet ihm das.

Goeben aber entstammt einer tief katholischen Familie und im Roman heißt es, dass ihm "manchmal in der Nacht die Befürchtung ankam, er hätte das Nachtgebet nicht deutlich, nicht ausführlich genug gesprochen, er hätte sich nicht an der rechten Stelle bekreuzigt, so dass er aufstehen und frierend, am Boden kauernd, das Gebet mit Bedacht wiederholen musste." Ohne kommentierend zu werten, entfaltet Sperber zu Fragen des Glaubens reiche Facetten. Edi Rubin, ein vollkommen ungläubiger Jude, der sich erst aufgrund der politischen Zuspitzung in den 1930er Jahren dem Kampf gegen den Nationalsozialismus anschließt und mit den Kommunisten marschiert, verliert alles, was ein Mensch verlieren kann: seine Frau und seine Kinder in Auschwitz, fast alle anderen ihm nahestehenden Menschen, und schließlich jede Hoffnung. Die Irritation eines Freundes, der nicht versteht, wie man solches Unglück ohne Gott aushalten kann, berührt ihn vorerst nicht. Aber irgendwann, vor dem Einschlafen, wenn sich ihm wie immer die Bilder einer Welt "ohne Lebewesen, ohne Bewegung, eine Schneewüste" aufdrängen, ändert sich etwas: "Er drehte das Licht aus. In diesem Augenblick kam ihm die Vorstellung von der zeitlosen, öden Welt wieder. Und erstaunt erblickte er diesmal das hohe, weite, gestirnte Firmament."

Der Zusammenhang zwischen Biografie und Werk ist eine literaturwissenschaftliche Kardinalfrage, die sehr unterschiedlich beantwortet wird. Die Bezüge zwischen Sperbers Leben und der Romanhandlung sind aber so augenfällig, dass sie als Hintergrundinformation zum Roman auf jeden Fall Beachtung verdienen. Sperber wurde 1905 in Ostgalizien, das damals ein Teil von Österreich-Ungarn war und heute in der Westukraine liegt, im mehrheitlich jüdischen Schtetl Sabolotiw geboren. Weil Sabolotiw im Ersten Weltkrieg wiederholt Schauplatz von Kriegshandlungen wurde, flüchtete die Familie nach Wien - ihre Glaubensbrüder und Glaubensschwestern, die diesen Weg nicht antraten und in Sabolotiw verblieben, wurden im Zweiten Weltkrieg umgebracht. Im Roman ist das fiktive jüdische Städtchen Wolyna von den Nationalsozialisten besetzt. Die Vorboten der systematischen Ermordung werden von den Einwohnern zwar wahrgenommen, aber nur ein junger Rabbi und ein paar wenige Männer können sich zum bewaffneten Widerstand entschließen - zu stark sind für die meisten Angst, Tradition und religiöse Gegenargumente. Der Kraft dieses in sich geschlossenen Romanteils, so glaubt man bei der Lektüre zu spüren, kann nur erzeugen, wer selbst Zeuge dieser Welt gewesen war. Die Schilderung des untergehenden "Städtchens", so Sperbers Schreibweise, ist ein Panoptikum von ganz unterschiedlichen Gefühlen, Gedanken, Reaktions- und Handlungsweisen der betroffenen Menschen. Und gleichzeitig ist es, vielleicht noch gewaltiger, der Einblick und das tiefe Eintauchen in die geistige und geistliche Welt des Schtetls und in seine elenden materiellen Bedingungen. Das Bild, das bei der Lektüre entsteht, erinnert an Roman Vishniac, der 1936 in Vorahnung der Katastrophe die ostjüdischen Schtetl fotografiert und die Bilder in seinem Buch 'A Vanished World' der Nachwelt übergeben hat. Der Romanteil über diese nicht mehr existierende Welt trägt die Überschrift "Wie eine Träne im Ozean" und sollte später der Trilogie den Namen geben.

In der geistig anregenden Atmosphäre der untergehenden Donaumonarchie erlebte Sperber in Wien seine Jugend, begann sich politisch zu interessieren, war begeistertes Mitglied des Schomer, der selbstbewussten, zionistischen Jugendbewegung, und lernte mit 16 Jahren Alfred Adler und seine psychologische Bewegung kennen. Sperber wurde Schüler, Anhänger und sehr jung schon Mitarbeiter Adlers und ging 1927 mit 22 Jahren als sein individualpsychologischer Botschafter nach Berlin. Dort trat er der Kommunistischen Partei bei und engagierte sich angesichts des erstarkenden Nationalsozialismus in Wort und Schrift immer stärker im Sinne der Parteilinie, was 1932 zum schmerzhaften Bruch mit Adler führte, der seine Bewegung nicht durch radikale politische Positionen kompromittiert sehen wollte. Nachdem Sperber aber in verschiedenen Funktionen für die Partei gearbeitet hatte, gaben die "Moskauer Prozesse", in denen altgediente, prominente Kader der Kommunisten für nicht begangene Verbrechen angeklagt und hingerichtet wurden, den letzten Anstoß dazu, seiner Verzweiflung an der Partei auch die logische Konsequenz folgen zu lassen. 1937 verließ Sperber die Kommunistische Partei.

Die Hauptfigur Faber und sein Lehrer Stetten sind literarische Fiktion und können natürlich nicht als simple Doppelgänger von Sperber und Adler interpretiert werden. Wer die beiden Biografien kennt, findet im Roman jedoch viele Details, die übereinstimmen, so hat zum Beispiel Stetten den gleichen Jahrgang wie Adler usw. Die Dialoge zwischen den beiden Protagonisten nehmen breiten Raum ein und lassen an die Zweiergespräche zwischen Adler und Sperber denken, von denen Sperber an anderer Stelle berichtet und die sich bis in die späte Nacht gezogen haben sollen. So heftig der Bruch in den frühen 1930er Jahre dann auch war, so klar ist auch, dass Sperber sich gewünscht hatte, dass es eine Wiederannäherung und Versöhnung geben würde - der verfrühte Tod von Adler löschte diese Hoffnung aus. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Sperber bis zuletzt von Adler als von "seinem Meister" sprach und 1983, kurz vor seinem Tod, in einem Interview bestätigte, dass "ich hier so dasitze, das verdanke ich ihm, und werde ich nie vergessen". Das Verhältnis von Stetten und Faber in der Romantrilogie kann als literarischer Kommentar dazu verstanden werden. In der Romanhandlung lässt Sperber dem Bruch zwischen Faber und Stetten eine Wiedervereinigung folgen. Sie findet kurze Zeit nach dem realen Todesdatum von Adler statt. Stetten und Faber schreiben gemeinsam und in Harmonie eine wissenschaftliche Studie, und während Stetten sagt: "Solange Faber leben wird, werde ich nicht wirklich aufgehört haben zu sein", bekennt Faber bezüglich seines Lehrers Stetten: "… und er war der Weisheit näher gewesen als sein Schüler." Aber die Grenzen zwischen Fiktion und Biografie sind verschwommen und nicht eindeutig. Die Gespräche zwischen Faber und Stetten können mit gleichem Recht auch als innerer Dialog von Sperber gedeutet werden, als Auseinandersetzung mit sich selbst, wobei Stetten die Rolle des Alter Ego von Sperber einnimmt.

Die desillusionierenden Erfahrungen als kommunistischer Funktionär und als Parteimitglied ermöglichten es Sperber mit den Kenntnissen des Insiders die Geschichten von Parteidisziplin und Verrat, von Fehleinschätzungen und Machtkämpfen, von verordneten Menschenopfern und verfehltem Kampf gegen den Nationalsozialismus so zu erzählen, dass man selbst in die Realität der Zeit eintaucht und fast glaubt, im Untergrund der konspirativ agierenden KP Deutschlands dabei zu sein. Auch hier fließen Biografie, Geschichte und Fiktion ineinander. Die Protagonisten zeigen Züge historischer Figuren. So ist der opportunistische Kominternfunktionär Karel an den jugoslawischen Kommunisten Milan Gorkić (1904-1937) angelehnt, der deutsche Kommunistenführer Herbert Sönnecke lässt sich mit Heinz Neumann (1902-1937) in Verbindung bringen, aber nur bedingt, denn er erinnert auch an Hermann Remmele (1880-1939) und hat im Roman zudem den gleichen Jahrgang wie Ernst Thälmann (1886-1944), die unangefochtene Identifikationsfigur der deutschen Kommunisten. Schließlich stirbt Otokar Wolfan unter ähnlichen Umständen wie Willi Münzenberg (1889-1940), mit dem Sperber gut bekannt war, aber anderes spricht gegen eine Gleichsetzung mit dieser historischen Figur des Kommunikationsvirtuosen der Kommunistischen Partei. Es ist die Stärke von "Wie eine Träne im Ozean", dass es keine Eindeutigkeiten gibt, dass Raum für die Vorstellungskraft der Lesenden bleibt, dass die Imagination angeregt wird. Die "Träne" erzählt nicht die Geschichte selbst, sondern verarbeitet und gestaltet literarisch das Prinzipielle und Charakteristische an ihr.

Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten war Sperber im Frühling 1933 in Schutzhaft genommen worden, kam durch Interventionen einflussreicher Beziehungen, zynischerweise am Geburtstag des "Führers", frei, und lebte fortan im Exil - zuerst ein Jahr in Kroatien, dann als kommunistischer Funktionär in Paris und seit Kriegsbeginn in Südfrankreich. Als Sperber dort von den Deportationslisten Kenntnis gewann, floh er in die Schweiz, wo er in Zürich drei Jahre lang, bis im Herbst 1945, verblieb. Von seinem 40. Lebensjahr bis zu seinem Tod lebte er in Paris, am Ort seiner Wahl, der aber nie mehr im traditionellen Sinn Heimat werden sollte: "Wer so entwurzelt worden ist wie ich, und dies nicht nur einmal, schlägt nirgends wieder Wurzel, aber er kann sich irgendwo festsetzen, entschlossen, zu bleiben, wo er ist. Das tat ich auch." 5 Alle diese Stationen seines Lebens von Sabolotiw bis Paris, alle Orte seines erzwungenen Exils vom Osten in den Westen Europas, werden mit unterschiedlicher Deutlichkeit Handlungsraum des Romans. Während von den Städten Wien, Berlin und Paris eher vage Konturen entstehen und von Zürich gar kein Bild erscheint, werden Südfrankreich und vor allem Ostgalizien - im Zusammenhang mit Wolyna - und Kroatien zentrale Handlungsorte.

Erstaunlich ist die herausragende Bedeutung von Kroatien und der dalmatinischen Küste. Dort beginnt die Romanhandlung, ausführlich und eindringlich, mit erschreckenden Formen totalitärer Macht und mit irritierenden Vorgängen in der Kommunistischen Partei. Und dort findet gegen Ende der Trilogie der Kampf von Partisanen statt, die sich gegen das Ustascha-Regime, aber auch gegen den Führungsanspruch der sowjettreuen Partisanengruppen zur Wehr setzen. Es ist kein Kampf um Macht, sondern für Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit. Auch wenn der Kampf nicht gewonnen werden kann, so ist er in Hinblick auf die nach dem Krieg notwendige Neuorientierung einer kampflosen Niederlage vorzuziehen. Gerade in den Passagen, die in Jugoslawien handeln, kommt nun ein weiterer, fast spirituell anmutender Aspekt von Sperbers Werk hinzu. Obwohl er nur kurze Zeit seines Lebens in Jugoslawien verbrachte, hat ihn die Natur Dalmatiens tief beeindruckt. Im Roman bekommt sie eine eigene, große Bedeutung. Sie wird zum Gegenpol der sich überstürzenden, bedrohlichen Ereignisse der Zeit und verbreitet eine unendliche Ruhe und Versöhnlichkeit, die die bitteren Niederlagen im Kampf um eine bessere Welt auszugleichen scheinen. In einer reflektierenden Art hat Sperber später in der Autobiografie geschrieben: "Vom ersten Augenblick an wusste ich, dass die Adria, ihre Küsten und Inseln mir fortab mehr bedeuten würden, als Worte ausdrücken können oder sollen. Meine Liebe zu dieser Landschaft, über die ich seither viel gesprochen und geschrieben habe, bewahrt für mich selbst etwas Unerklärliches […]." 6

Folgerichtig geht es nie um eine realistische Wiedergabe der Umgebung, sondern immer um Natur als ein symbolhaftes Gegenstück zum Verlauf der Geschichte. Manès Sperber wollte schon als Jugendlicher Schriftsteller werden. Mit 35 Jahren, in einer Lebensphase, in der er als Exilierter zur Untätigkeit verurteilt war und in der die angesprochenen biografischen Erfahrungen - Schtetl, Adler, kommunistische Partei - mit Macht ins Bewusstsein drängten, begann er zu schreiben. Die ersten Notizen zum Roman entstanden im Winter 1940 in Cagnes-sur-Mer, an der Côte d'Azur, wo er sich mit seiner Frau Jenka vorerst sicher fühlte und wo 1942 sein zweiter Sohn geboren wurde. Schreiben war ihm zu diesem Zeitpunkt, wie er selbst sagte, eine Flucht vor dem nutzlosen Dasein. Durch die auch im Süden einsetzende Deportation von Juden war er real zur Flucht gezwungen, in die Schweiz, wohin ihm seine Frau mit dem Sohn wenige Monate später folgen konnte. Die nächsten drei Jahre schrieb er in Zürich - immer von Hand in linierte Schulhefte, die wie sein gesamter Nachlass in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt werden; Pfarrer Maurer, bei dem er beherbergt war, verschaffte ihm den Zugang zur Museumsgesellschaft, wo er im Lesesaal einen idealen Arbeitsort fand. Zurück in Paris, schrieb er weitere drei Jahre am Ersten Buch des Romans, das den Titel "Der verbrannte Dornbusch" trägt.

Obwohl Sperber die ganze Trilogie in deutscher Sprache verfasste, wurde das Erste Buch 1949 zuerst in einer französischen Übersetzung bei Calmann-Lévy herausgebracht. "Et le Buisson devint Cendre" erschien also, noch bevor die weiteren beiden Bücher der Trilogie In den Jahren 1948-1951 entstanden. Auch das Zweite Buch "Plus profond que l'abîme" - Tiefer als der Abgrund - und das Dritte Buch "La baie perdue" - Die verlorene Bucht - erschienen 1950 und 1952 zuerst auf Französisch bei Calmann-Lévy. Schließlich brachte der Verlag 1952 noch das dritte Kapitel des Dritten Buches "Qu'une larme dans l'océan" - Wie eine Träne im Ozean -, das der gesamten Trilogie den klingenden Namen geben sollte, als Sonderausgabe mit einem Vorwort von André Malraux heraus. Malraux, der in den 1950er Jahren bereits auf dem Zenit seiner Bekanntheit angelangt war, war zeitlebens ein Förderer von Sperber und dürfte dazu beigetragen haben, dass Sperber in Frankreich bekannt wurde. 1982 erschien das Kapitel auch in deutscher Sprache als Separatdruck, dem das handschriftliche Schulhefte-Manuskript Sperbers beigefügt war, unter dem Titel "Wolyna".

Im deutschen Sprachraum trat Manès Sperber mit "Wie eine Träne im Ozean" mit einer zehnjährigen Verzögerung wirklich auf den Plan, dafür aber gerade mit der vollständigen Trilogie, die 1961 bei Kiepenheuer & Witsch und in der Büchergilde Gutenberg erschien. Die Resonanz war überwältigend und führte dazu, dass die "Träne" 15 Jahre später im Europaverlag neu aufgelegt wurde und nochmals vier Jahre später als Taschenbuch bei dtv herauskam. Teile der Trilogie wurden schon früh in verschiedene Sprachen übersetzt und jeweils separat herausgegeben oder in Auszügen in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt. Dass es den Roman auf Englisch, Spanisch, Italienisch und Serbo-Kroatisch gibt, erstaunt nicht, dass russische und griechische Übersetzungen existieren schon eher. Dass "Wie eine Träne im Ozean" in einer persischen Übersetzung (Farsi) aus dem Jahr 1983 vorliegt und im Iran mehrere Tausend Mal verkauft wurde, ist dagegen spektakulär und lässt vermuten, dass das explosive Potenzial des Romans für jedes totalitäre Regime nicht erkannt wurde.

Wenn man sich vor Augen führt, wie früh Sperber seine Analyse totalitärer Macht verfasst und veröffentlicht hat, dann ist bemerkenswert, dass er bereits Problemlagen, Vorgänge und Ereignisse benennt und verarbeitet, die in ihrer Tragweite und mit historischer Genauigkeit oft erst viel später, zum Teil erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Russland und den osteuropäischen Staaten aufgearbeitet wurden. Bemerkenswert ist zudem die Treffsicherheit seiner Einschätzungen, die Sperber selbst darauf zurückführt, dass er nach der Trennung von Adler und vor allem nach dem Bruch mit der Kommunistischen Partei frei und ideologieungebunden denken und seine vielfältigen Erfahrungen einordnen konnte. In seinem späten Buch "Nur eine Brücke zwischen Gestern und Morgen" schreibt er dazu: "Als ich im Jahre 1937 mit dem stalinschen Kommunismus brach, glaubte ich, dass ich fortab politisch ein lebender Leichnam würde bleiben müssen. Das war ich auch einige Zeit, aber ich bin es schon seit langem nicht mehr. Das politische Niemandsland ist meine Heimat, ich teile sie mit anderen Franktireuren, meinen Gefährten im Kampf gegen alle Ideologien."

Und in der Autobiografie heißt es ergänzend dazu: "Als ich mit dem Kommunismus endgültig, unwiderruflich brach, gewann ich mühelos die Freiheit des Erkennens und des Urteilens wieder. Es mag prätentiös klingen: Seither habe ich mich mit der Einschätzung der Ereignisse und ihrer Folgen recht selten geirrt."7 Ein Beispiel dafür ist die Präzision der Beschreibung der sowjetischen Lager, die im Roman durch den Protagonisten Milan Petrowitsch vermittelt wird, der, selbst Augenzeuge der Vorgänge, seine Genossen vergeblich aufzurütteln versucht. Lange vor Solschenizyns "Archipel Gulag" und lange bevor die Erzählungen von Warlam Schalamow aus Kolyma bekannt wurden, hat Sperber den mörderischen Charakter der Lager in Sibirien literarisch verarbeitet und öffentlich gemacht - in einer Zeit, in der immer noch viele fürchteten, durch eine Kritik an der Sowjetunion bei der schreibenden Zunft in Ungnade zu fallen. Die gleiche Klarsicht zeigt sich bei Sperbers Beurteilung der Vorgänge in der Partei, speziell auch der sogenannten Säuberungen, denen Hunderttausende zum Opfer fielen, und bei der Benennung von Titos Verbrechen, die schon während des Weltkriegs ihren Anfang nahmen.

Auch das Massaker von Katyn, wo mehrere Tausend polnische Offiziere vom russischen Geheimdienst umgebracht wurden, baut Sperber in den Roman ein - Jahrzehnte bevor es eine umfassende öffentlich Aufarbeitung erfuhr. Schließlich schildert Sperber alle seelischen Bewegungen und Zustände, alle Schattierungen von Ohnmacht, Schicksalsergebenheit, Angst und religiöser Rechtfertigung bis hin zu Widerstand im Zusammenhang mit der Vernichtung der Juden. Als Hannah Arendt in "Eichmann in Jerusalem" (1961), den Opfern der Vernichtung und insbesondere den Judenräten rückblickend vorwarf, keinen Widerstand geleistet zu haben, widersprach ihr Sperber in seinem Essay "Churban oder Die unfassbare Gewissheit" und hielt ihr Unkenntnis über die historischen Ereignisse und über die Situation der jüdischen Bevölkerung entgegen, die "ohne Waffen, ohne Verbündete, ohne jede Hilfe von außen" gegen die "Armeen der Wehrmacht, gegen die SS und den SD, gegen die Gestapo, gegen die Nazi-Spezialisten der Ausrottung, gegen die Hilfsformationen der ukrainischen, litauischen, lettischen und anderen Milizen" ohne Chancen gewesen seien. Alle Romanpassagen über Wolyna, über Warschau und über die Ausrottung der Juden lesen sich wie beklemmende Belege für Sperbers Einspruch, wie eine literarisch gestaltete, psychologisch-differenzierte Sicht der nahezu aussichtslosen Lage der jüdischen Bevölkerung.

Neben der fast unüberblickbaren Anzahl von Ausgaben der "Träne" und von Sonderausgaben ihrer Teile sowie von Auszügen in Zeitungen und Zeitschriften, gibt es auch eine umfassende Sekundärliteratur, die sich mit all diesen Fragen zu Sperbers Werk und seinem Leben befassen. Zum Werk entstanden in den letzten Jahrzehnten rund ein Dutzend Dissertationen, einige mit einem Schwerpunkt auf der Romantrilogie. Zu seinem Leben gibt es mehrere Publikationen in unterschiedlicher Ausführlichkeit, wobei hier speziell die letztgültige Biografie von Mirjana Stancic "Manès Sperber. Leben und Werk" hervorzuheben ist. Vor allem in der Zeit nach Sperbers Tod im Jahr 1984 fanden in Deutschland, Österreich und Frankreich Sperber-Symposien statt, an denen namhafte Philosophinnen, Psychologen, Literaturwissenschaftlerinnen und Historiker referierten. Ihre Beiträge wurden meist in Sammelbänden zu den Symposien publiziert. Die Österreichische Nationalbibliothek pflegt den Nachlass und ermöglicht, dass bisher unveröffentlichte Manuskripte publiziert werden können. In Berlin hat Hans-Rudolf Schiesser, ein profunder Sperber-Kenner, ein umfassendes Archiv aufgebaut. In seinem Manès-Sperber-Archiv finden sich fast alle gedruckten Ausgaben von Sperber und ein wahrer Fundus an Sekundärliteratur, zudem ein Konvolut von literarischen Texten und an Zeitungsartikeln, in denen Sperber erwähnt oder über ihn geschrieben wird. Nicht vergessen werden sollen schließlich die dreistündige deutsche Fernsehproduktion "Wie eine Träne im Ozean" von Fritz Umgelter aus dem Jahr 1970 und der französische Kinofilm "Une larme dans l'océan" von Henri Glaser aus dem Jahr 1971. Der Kern des Ganzen aber fehlt heute: die Originalliteratur von Sperber. Mit den vorliegenden drei Bänden soll es deshalb darum gehen, mindestens einen Teil von Weltliteratur wieder zugänglich zu machen.

Der Weltruhm, den Sperber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreicht hat, ist schließlich ohne seine Sprache nicht zu erklären. Ihre Knappheit wird unterbrochen von Passagen, aus denen die mehrtausendjährige jüdisch-biblische Tradition spricht und eine enorme Eindringlichkeit erzeugt. Mit seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ein Jahr vor seinem Tod hat Sperber 1983 ein letztes Beispiel dafür gegeben. In ihr beschwört er den Frieden mit den mahnenden Worten des Propheten Jeremias: "Er klagte: 'Weñemar: Schalom, schalom! We-en Schalom!' - 'Man ruft: Frieden, Frieden, aber es ist kein Friede'". Der Klang von Sperbers Sprache hallt oft auch dort nach, wo er nicht genannt oder auch nicht gekannt wird. Die Titel seiner Texte, wie zum Beispiel derjenige des ersten Teils der Autobiografie "Die Wasserträger Gottes", lösen vielfältige Assoziationen aus, und "Wie eine Träne im Ozean" scheint vielen als Formel vage bekannt. Und dass der Held von Max Frischs Roman Walter Faber heißt, und dies mehr als ein Jahrzehnt nach Sperbers Dojno Faber, ist vermutlich kein Zufall, sind doch beide Protagonisten anfänglich in der Vorstellung einer uneingeschränkten Machbarkeit dieser Welt gefangen.

Für Manès Sperber ist die Sprache das Mittel, nicht das Ziel seines Schaffens, das Medium, nicht die Substanz seiner Trilogie. Er will zum Nachdenken über existenzielle Fragen und über die Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft anregen. Sein unermüdliches Schreiben setzt er gegen das Vergessen des Grauens und für den Erhalt der Zivilgesellschaft. Diese Absicht verleiht seiner Literatur die Kraft, die man beim Lesen spürt und die die Lektüre lohnenswert macht. Treffend hat das Daniel Cohn-Bendit im Film Manès Sperber - ein treuer Ketzer auf den Punkt gebracht: "Wenn man heute eine antitotalitäre Position einnehmen will, dann muss man in seinem Denken, in seinem Fühlen Manès Sperber integrieren. Er zeigt menschlich, wie man aus den furchtbaren Zwängen einer eindimensionalen Ideologie herauskann, und das ist wichtig. Denn immer wieder kommen einfache Antworten auf komplexe Probleme, und dafür steht Sperber, sich davor zu hüten, also die Widersprüche akzeptieren und sie auch aufnehmen. Ja, das ist der große Verdienst von Sperber und deswegen glaub ich, dass er seinen Platz hat im Panthéon der großen humanistischen Denker." 8

Kurz vor seinem Tod im Jahr 1984 hat Manès Sperber darüber nachgedacht, wie wichtig es wäre und wie schwierig es tatsächlich ist, die Menschen zu erreichen, wenn die Ordnung der Welt brüchig wird: "Meine Bücher werden jetzt mehr gelesen als vor 30 Jahren, es ist zum Teil eine neue Generation, die sie liest. Und es ist heute gefahrloser, sie zu verstehen. Wenn die Wahrheiten, die man vorbringt, am notwendigsten sind, findet man selten Ohren, an die sie sich richten. Sie werden erst gehört, wenn die Irrtümer inzwischen zu zerbröckeln begonnen haben. Das aber ist eine Farce, eine Situation für die Komödie unseres Lebens, die nicht immer erheiternd ist." 9 Es ist zu hoffen, dass es auch in Zukunft gefahrlos bleibt, Manès Sperber zu lesen. Dann wird die Lektüre seines Romans im besten Fall dazu beitragen, die Erinnerung an die Geschichte wachzuhalten, junge Menschen zu inspirieren, unsere Welt zu gestalten und zu verbessern und verantwortungsbewusste Bürgerinnen und Bürger darin zu bestärken, sich für den Bestand einer freien Zivilgesellschaft einzusetzen.

Rudolf Isler

Fußnoten:

1 Lenz, Siegfried: Von der Gegenwärtigkeit des Vergangenen - eine Laudatio. In: Friedrich, Heinz
(Hrsg.): Manès Sperber. Sein letztes Jahr. München: dtv 1985, S. 58.

2 Reich-Ranicki, Marcel: "Er ist verdammt zu hoffen". Zeit Online, 19.1.1962.

3 Isler, Rudolf, 2004: Manès Sperber. Zeuge des 20. Jahrhunderts - eine Lebensgeschichte. Mit
einem Geleitwort von Daniel Cohn-Bendit. Aarau: Sauerländer (2. Aufl.), S. 4

4 Sperber, Manès, 1978: Churban oder Die unfassbare Gewissheit. München: dtv 1983 (2. Aufl.), S.
44

5 Sperber, Manès, 1972-77: Bis man mir Scherben auf die Augen legt. München: dtv 1983 (3.
Aufl.), S. 271

6 Sperber, Manès, 1972-75: Die vergebliche Warnung. München: dtv 1983 (4. Aufl.), S. 193

7 Sperber, Manès, 1972-77: Bis man mir Scherben auf die Augen legt. München: dtv 1983 (3.
Aufl.), S. 197

8 "Manès Sperber - ein treuer Ketzer". Dokumentarfilm von Rudolf Isler und Christian Labhart. Produktion: Filmkollektiv Zürich und ORF, 2005.

9 Sperber, Manès, 1980: Nur eine Brücke zwischen Gestern und Morgen. Wien, München, Zürich:
Europaverlag, S. 48