Vorgeblättert

Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders, Teil 1

18.08.2003.
Erhoben werden - Lachen, Jubel, eine unbändige Freude - diese Empfindungen begleitet die Erinnerung an ein Erlebnis, ein Bild, das erste, das sich mir eingeprägt hat, mit ihm beginnt für mich das Wissen von mir selbst, das Gedächtnis: Ich komme aus dem Garten in die Küche, wo die Erwachsenen stehen, meine Mutter, mein Vater, meine Schwester. Sie stehen da und sehen mich an. Sie werden etwas gesagt haben, woran ich mich nicht mehr erinnere, vielleicht: Schau mal, oder sie werden gefragt haben: Siehst du etwas? Und sie werden zu dem weißen Schrank geblickt haben, von dem mir später erzählt wurde, es sei ein Besenschrank gewesen. Dort, das hat sich als Bild mir genau eingeprägt, über dem Schrank, sind Haare zu sehen, blonde Haare. Dahinter hat sich jemand versteckt - und dann kommt er hervor, der Bruder, und hebt mich hoch. An sein Gesicht kann ich mich nicht erinnern, auch nicht an das, was er trug, wahrscheinlich Uniform, aber ganz deutlich ist diese Situation: Wie mich alle ansehen, wie ich das blonde Haar hinter dem Schrank entdecke, und dann dieses Gefühl, ich werde hochgehoben - ich schwebe. 

Es ist die einzige Erinnerung an den 16 Jahre älteren Bruder, der einige Monate später, Ende September, in der Ukraine schwer verwundet wurde. 

30.9.1943

Mein Lieber Papi
Leider bin ich am 19. schwer verwundet ich bekam ein Panzerbüchsenschuß durch beide Beine die die sie mir nun abgenommen haben. Daß rechte Bein haben sie unterm Knie abgenommen und dass linke Bein wurde am Oberschenkel abgenommen sehr große Schmerzen habe ich nicht mehr tröste die Mutti es geht alles vorbei in ein paar Wochen bin ich in Deutschland dann kanns Du Mich besuchem ich bin nicht waghalsig gewesen
Nun will ich schließen
Es Grüßt Dich und Mama, Uwe und alle
Dein Kurdel 

Am 16.10.1943 um 20 Uhr starb er in dem Feldlazarett 623. 

Abwesend und doch anwesend hat er mich durch meine Kindheit begleitet, in der Trauer der Mutter, den Zweifeln des Vaters, den Andeutungen zwischen den Eltern. Von ihm wurde erzählt, das waren kleine, immer ähnliche Situationen, die ihn als mutig und anständig auswiesen. Auch wenn nicht von ihm die Rede war, war er doch gegenwärtig, gegenwärtiger als andere Tote, durch Erzählungen, Fotos und in den Vergleichen des Vaters, die mich, den Nachkömmling, einbezogen. 

Mehrmals habe ich den Versuch gemacht, über den Bruder zu schreiben. Aber es blieb jedes Mal bei dem Versuch. Ich las in seinen Feldpostbriefen und in dem Tagebuch, das er während seines Einsatzes in Rußland geführt hat. Ein kleines Heft in einem hellbraunen Einband mit der Aufschrift Notizen.
Ich wollte die Eintragungen des Bruders mit dem Kriegstagebuch seiner Division, der SS-Totenkopfdivision, vergleichen, um so Genaueres und über seine Stichworte Hinausgehendes zu erfahren. Aber jedesmal, wenn ich in das Tagebuch oder in die Briefe hineinlas, brach ich die Lektüre schon bald wieder ab.
Ein ängstliches Zurückweichen, wie ich es als Kind von einem Märchen her kannte, der Geschichte von Ritter Blaubart. Die Mutter las mir abends die Märchen der Gebrüder Grimm vor, viele mehrmals, auch das Märchen von Blaubart, doch nur bei diesem mochte ich den Schluß nie hören. So unheimlich war es, wenn Blaubarts Frau nach dessen Abreise, trotz des Verbots, in das verschlossene Zimmer eindringen will. An der Stelle bat ich die Mutter, nicht weiterzulesen. Erst Jahre später, ich war schon erwachsen, habe ich das Märchen zu Ende gelesen. 

Da schloß sie auf, und wie die Türe aufging, schwomm ihr ein Strom Blut entgegen, und an den Wänden herum sah sie tote Weiber hängen, und von einigen waren nur die Gerippe noch übrig. Sie erschrak so heftig, daß sie die Türe gleich wieder zuschlug, aber der Schlüssel sprang dabei heraus und fiel in das Blut. Geschwind hob sie ihn auf und wollte das Blut abwaschen, aber es war umsonst, wenn sie es auf der einen Seite abgewischt, kam es auf der anderen Seite wieder zum Vorschein

Ein anderer Grund war die Mutter. Solange sie lebte, war es mir nicht möglich, über den Bruder zu schreiben. Ich hätte im voraus gewußt, was sie auf meine Fragen geantwortet hätte. Tote soll man ruhen lassen. Erst als auch die Schwester gestorben war, die letzte, die ihn kannte, war ich frei, über ihn zu schreiben, und frei meint, alle Fragen stellen zu können, auf nichts, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen. 

Hin und wieder träume ich vom Bruder. Meist sind es nur Traumfetzen, ein paar Bilder, Situationen, Worte. Ein Traum hat sich mir recht genau eingeprägt.
Jemand will in die Wohnung eindringen. Eine Gestalt steht draußen, dunkel, verdreckt, verschlammt. Ich will die Tür zudrücken. Die Gestalt, die kein Gesicht hat, versucht, sich hereinzuzwängen. Mit aller Kraft stemme ich mich gegen die Tür, dränge diesen gesichtslosen Mann, von dem ich aber bestimmt weiß, daß es der Bruder ist, zurück. Endlich kann ich die Tür ins Schloß drücken und verriegeln. Halte aber zu meinem Entsetzen eine raue, verfetzte Jacke in den Händen. 

Der Bruder und ich. 

In anderen Träumen hat er dasselbe Gesicht wie auf den Fotos. Nur auf einem Bild trägt er Uniform. Von dem Vater gibt es viele Fotos, die ihn mit und ohne Stahlhelm, mit Feldmütze, in Dienst- und in Ausgehuniform, mit Pistole und mit Luftwaffendolch zeigen. Vom uniformierten Bruder hingegen findet sich nur diese eine Aufnahme, die ihn, den Karabiner in der Hand, bei einem Waffenappell auf dem Kasernenhof zeigt. Er ist darauf nur von fern und so undeutlich zu sehen, daß allein meine Mutter behaupten konnte, sie habe ihn sofort erkannt. 

Ein Foto, das ihn in Zivil zeigt, wahrscheinlich zu der Zeit aufgenommen, als er sich freiwillig zur Waffen-SS meldete, habe ich, seit ich über ihn schreibe, in meinem Bücherschrank stehen: Ein wenig von unten aufgenommen, zeigt es sein Gesicht, schmal, glatt, und die sich andeutende steile Falte zwischen den Augenbrauen gibt ihm einen nachdenklichen strengen Ausdruck. Das blonde Haar ist links gescheitelt. 

Eine Geschichte, die von der Mutter immer wieder erzählt wurde, war die, wie er sich freiwillig zur Waffen-SS melden wollte, sich dabei aber verlaufen hatte. Sie erzählte es so, als wäre das, was dann danach kam, vermeidbar gewesen. Eine Geschichte, die ich so früh und so oft gehört habe, daß ich alles wie miterlebt vor mir sehe. 

1942, im Dezember, an einem ungewöhnlich kalten Tag, spätnachmittags, war er nach Ochsenzoll, wo die SS-Kasernen lagen, hinausgefahren. Die Straßen waren verschneit. Es gab keine Wegweiser, und er hatte sich in der einbrechenden Dunkelheit verlaufen, war aber weiter an den letzten Häusern vorbei in Richtung der Kasernen gegangen, deren Lage er sich auf dem Plan eingeprägt hatte. Kein Mensch war zu sehen. Er geht hinaus ins offene Land. Der Himmel ist wolkenlos, und nur über den Bodensenken und Bachläufen liegen dünne Dunstschwaden. Der Mond ist eben über einem Gehölz aufgegangen. Der Bruder will schon umkehren, als er einen Mann entdeckt. Eine dunkle Gestalt, die am Rand der Straße steht und über das verschneite Feld in Richtung des Mondes blickt.
Einen Moment zögert der Bruder, weil der Mann wie erstarrt dasteht, sich auch dann nicht bewegt, als er die ihm näher kommenden, im Schnee knirschenden Schritte hätte hören müssen. Der Bruder fragt ihn, ob er den Weg zur SS-Kaserne kenne. Einen recht langen Augenblick regt sich der Mann nicht, als habe er nichts gehört, dreht sich dann langsam um und sagt: Da. Der Mond lacht. Und als mein Bruder nochmals nach dem Weg zu der Kaserne fragt, sagt der Mann, er solle ihm folgen, und geht auch sogleich voran, schnell, schreitet rüstig aus, er geht, ohne sich umzudrehen, ohne Rast durch die Nacht. Längst ist es zu spät, um noch zur Musterungsstelle zu kommen. Mein Bruder fragt nach dem Weg zum Bahnhof, aber der Mann geht, ohne zu antworten, vorbei an dunklen Bauernhäusern, an Ställen, aus denen das heisere Muhen zu Kühe zu hören ist. In den Radspuren splittert unter dem Tritt das Eis. Mein Bruder fragt nach einiger Zeit, ob sie denn auf dem richtigen Weg seien. Der Mann bleibt stehen, dreht sich um und sagt. Ja. Wir gehen zum Mond, da, der Mond lacht, er lacht, weil die Toten so steif liegen.
Nachts, als er nach Hause kam, erzählte mein Bruder, wie ihn einen Moment gegraust habe, und daß er später, nachdem er zu dem Bahnhof zurückgefunden hatte, zwei Polizisten getroffen habe, die einen Irren suchten, der aus den Alsterdorfer Anstalten entlaufen war.
Und dann?
Am nächsten Tag war er frühmorgens losgefahren, hatte die Kaserne und das Musterungsbüro gefunden, wurde auch sofort genommen: 1,85 groß, blond, blauäugig. So wurde er Panzerpionier in der SS-Totenkopfdivision. 18 Jahre war er alt. 

Teil 2