Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Thomas Hettche: Woraus wir gemacht sind. Teil 2

14.08.2006.
"Christopher Vasquez."
Als spräche er von einem Buch, dessen Rechte er gerade gekauft hatte, mußte der Verleger keine Sekunde nachdenken, um den Namen zu nennen.
"I remember he?d been medicated since he was a child", sagte Lavinia Sims nun auf englisch und mehr zu ihm als zu den andern.
Snowe nickte.
"Zoloft", sagte er, dann sagte niemand etwas, bis Snowe lächelnd das Glas hob. Schön, daß wir uns nun kennenlernen!
Zu welchen Verhandlungen, fragte sich Kalf, sind wir hierhergereist?
Er sei, sagte Snowe, wirklich sehr gespannt auf das Buch. Und natürlich interessiere ihn, wie es dazu gekommen sei, daß er ausgerechnet über Eugen Meerkaz schreibe, einen deutschen Emigranten, der in den USA doch fast genauso vergessen sei wie in seiner Heimat.
"Ganz einfach: Eines Tages rief mich seine Witwe an."
"Elsa?"
"Ja, Elsa Meerkaz. Sie bat mich, das Leben ihres Mannes aufzuschreiben."
Albert Snowe nickte. Und? Alle Geheimnisse gelüftet? Wieder setzte Snowe sein Wasserglas an die Lippen und ließ einen Eiswürfel in den weit offenen Mund rutschen.
Das komme drauf an, sagte Kalf, was Snowe unter Geheimnis verstehe. Er wußte nicht, was der Verleger meinte, und erzählte von der Verabredung mit Elsa Meerkaz in Los Angeles. "Kennen Sie sie?"
"Ein wenig", sagte Snowe langsam und zerkaute das Eis. Das sei damals alles sehr strange gewesen. All die Verdächtigungen und dann der plötzliche Tod von Eugen Meerkaz.
Ein Kellner, dessen Brust- und Bauchmuskeln sich unter dem weißen T-Shirt deutlich abzeichneten, begann die Teller abzuräumen. Kalf hatte keine Ahnung, worauf Snowe anspielte. Das Leben des Physikers Eugen Meerkaz schien ihm ein typisches Emigrantenschicksal. Eigentlich verstand er auch nicht, warum seine Witwe ein Buch über ihren Mann wollte. In ihren Briefen und gelegentlichen Telephonaten machte die Witwe keinen besonders eitlen Eindruck, ja sie schien nicht einmal sehr interessiert an dem, was er schrieb. Nur, daß sie ihn sehr gut bezahlte, tröstete ihn über ihr Desinteresse hinweg.
Man brachte eine neue Flasche Wein, und Snowe stieß auf das Buch an. Niklas Kalf ahnte, daß er längst in einer Geschichte eine Rolle zu spielen begonnen hatte, über die er nichts wußte. Er erinnerte sich daran, daß ihm irgendwann auf dem Flug die Macao wieder in den Sinn gekommen war, jenes portugiesische Schiff, auf dem Marta und Eugen Meerkaz 1941 aus Lissabon geflohen waren. Jetzt fliegen wir über sie hinweg, hatte er gedacht. Und über all die anderen, Sklaven und Emigranten, Vertriebenen und Geschäftsleute, die seit Jahrhunderten aus allen Ländern und Städten Europas aufgebrochen waren, der eine Hafen jenseits des Atlantiks ihr Ziel.
"Jetzt fliegen wir über sie hinweg", hatte er Liz zugeflüstert.
"Über wen?"
"Über Meerkaz und seine Frau."
Liz hatte gelächelt und ihm die Hand aufs Knie gelegt. Dann hatte er wieder eine Weile schläfrig jenem Lichtpunkt auf den Screens über den Sitzreihen zugesehen, der immer weiter über die Welt gewandert war, während Namen am linken Bildrand aufleuchteten und rechts wieder verschwanden. Calway, Reykjavik, Shannon, St. John?s, Godthab, Gander, Halifax, und irgendwann war dann plötzlich die Kontur einer Gestalt durch seine Wahrnehmung gehuscht, schemenhaft, unfaßbar zunächst, doch immer klarer, je länger er sich seinem dämmernden Wachsein überließ. Einen Moment lang sichtbar, dann wieder verschwunden, dann wieder deutlich erkennbar wie die Gestalt des Erlösers in der Koralle, das Gesicht in der Wurzel, die marmorne Hand eines vergessenen Gottes im Stein.
Er erkannte deutlich einen schlafenden Knaben, Europa sein Kopf, träumend auf einem Arm gelagert, dessen Hand schlaff im Heiligen Land zu liegen kam, während sich der kühle Nacken, bei dem sich deutlich die Wirbel unter der gleichmäßig sommerbraunen Haut abzeichneten, über die kalte See bis nach Amerika spannte, das sein Leib war. Die knochige Hüfte des Jungen knickte ab, wo der Kontinent am großen pazifischen Meer endete, und die jugendlichen Füße mit den schön geformten Zehen reichten bis nach Asien hinüber. Von einer seiner Augenbrauen, hatte Niklas Kalf gedacht, sind wir aufgebrochen.
"Was ich aber noch immer nicht begreife", wechselte er das Thema: "Warum war dieses Mädchen eigentlich überhaupt so spät noch im Park?"
Snowe fixierte ihn über den Tisch hinweg und begann von Sheep Meadow zu erzählen und den Strawberry Fields, von den gewundenen Trampelpfaden am See und den grassy slopes beim Metropolitan Museum of Art. Es sei dies nicht einfach der Vorgarten der Hochhäuser, ein Grünstreifen zwischen Verkehrsachsen, der Central Park sei wirklich eine eigene Welt in der Stadt. Besonders in der Nacht dämpfe der Park die Lichter, und die lärmende Metropole wirke dann fast klein.
"It?s a place ­where a secret world unfolds on its grassy fields and beside its still waters. It?s very Whitmanesque, Nick!"
So nannte er ihn bereits zum zweiten Mal. Niklas Kalf überließ sich für einen Moment seinem Blick, bevor der Verleger ihn senkte und begann, der Tischdecke mit dem Fingernagel Muster einzugravieren, als warte er nur darauf, was Kalf von seiner Geschichte halte. Und widerwillig zuerst stellte dieser sich vor, wie die Lichter der Parklaternen sahnige Kreise auf das tote Wasser des Sees legten, die Bäume des Parks dahinter eine schwarze Palisadenwand, und darüber die Silhouette der lächelnden Bauten, die den Park aufmerksam umstehen. Wie still es gewesen sein mußte!
Daphne, berichtete Snowe, habe an jenem Abend selbst anonym den Notruf gewählt und Hilfe für einen Freund erbeten, der in den See gesprungen sei. Die Polizei habe den Anruf zurückverfolgt, und nach intensiver Befragung führte das Mädchen die Polizisten schließlich zum See. Auf Höhe der zweiundsiebzigsten Straße habe man den Leichnam dann entdeckt. Etwa einhundert Yard nordwestlich der Terrasse bei der Bethesda Fontäne trieb er im Wasser.
Kalf nickte. Er begriff, daß etwas an der Geschichte dieser Mörderin, das er noch gar nicht verstanden hatte, Snowe interessierte.
"Ich würde gern ein Photo von ihr sehen."
Snowe schüttelte den Kopf, als komme es auf ihr Aussehen nicht an. Eine junge Frau mit reichen Eltern, who found comfort crossing the borders of class. Eine der Bedienungen fragte, ob jemand ein Dessert wünsche. Cheese Cake, German Chocolate Cake, Chocolate Layer Cake, Straw­berry Shortcake, Lemon Meringue, Mississippi Mud Pie, Pecan Pie, Cherry Pie, Sherbet, Ice Cream Sundae. Niemand machte Anstalten, etwas zu bestellen.
"Und was ist mit dem Opfer?"
"His name was Michael McMorrow", sagte Snowe. "He grew up in the Bronx."
Ein Wohnungsmakler um die Vierzig, der noch immer bei seiner Mutter lebte. Im Sommer spielte er Softball im Park. Und er trank. Niklas Kalf nickte wieder. Er war schon dabei, sich in dem fremden Leben einzunisten. Das war sein Job. Wie auf eine Fertigkeit, für die man nichts kann, wie Schielen oder ein besonderes Gedächtnis für Zahlen, konnte er sich darauf verlassen, daß ihm dieses fremde Leben mit einem Mal vertraut und ganz nah war. Die Hitze, die im sommerlichen Park am Abend so zögerlich nachläßt, daß man nach Luft schnappt. Jene seltsame Atmosphäre, in der die Gegenwart nicht ausglühen will und in der ein Immobilienmakler, der noch bei seiner Mutter lebt und zuviel trinkt, mit zwei Teenagern nachts ins Gespräch kommt, als wäre nichts dabei. Als wäre dieser Park eine neutrale Zone, in der Michael McMorrow, der aus dem Norden kommt, aus der Bronx, zusammen mit diesem jungen Vasquez, der östlich des Parks wohnt, zusieht, wie die Sonne hinter dem Hochhaus versinkt, in dem Daphne lebt. Daphne Abdela, die fünfzehn ist und reich.
Noch hatte er den Klang ihrer Sprache nicht im Ohr und wußte nicht, was sie McMorrow fragte. Noch fiel ihm keiner jener Laute ein, die es in jeder Sprache gibt, wenn man dicht beieinandersitzt und es dunkelt. Angestrengt versuchte er sich vorzustellen, wie es im Park, den er nur aus dem Kino kannte, an diesem Abend riecht.
"Zu welcher Strafe wurde sie verurteilt?" Der Junge war Kalf egal.
Snowe grinste, als wäre das die erste Frage, die in das Zentrum der Geschichte zielte.
"Daphne pleaded guilty to manslaughter in the first degree", sagte er ohne zu zögern und ließ den Blick nicht von Kalf.
Mord ersten Grades, das hieß: vorsätzlich, heimtückisch, grausam. Als Jugendliche wurde sie nur zu fünf Jahren verurteilt. Das war 1997. "Also könnte sie jetzt wieder auf freiem Fuß sein?"
"You are right!"
Snowe wiegte langsam den Kopf, und das Lächeln lag weich und dunkel auf seinem Gesicht. Er sah den Deutschen lange an, als wolle er noch etwas hinzusetzen, tat es aber nicht.
Ob er sie gekannt hat? fragte sich Kalf, der den Blick bemerkt hatte.
"Was ist in jener Nacht wirklich geschehen?"
Es ist fast Mitternacht, sagte Snowe leise. Daphne Abdela erklärt Christopher Vasquez, sie werde neues Bier besorgen. Vasquez legt sich auf die Wiese und wartet. Eine Viertelstunde später kehrt Daphne zurück, kommt langsam vom erleuchteten Weg über die dunkle Wiese heran, in jeder Hand eine Papiertüte mit Bierdosen. Sie trägt ein weites, schwarzes Shirt mit ausgeleiertem Kragen und eine Lederschnur um den Hals. Streicht immer wieder die schwarzgefärbten Haare aus dem Gesicht, während sie das Bier bereitwillig verteilt. Einer aus der Gruppe, Michael McMorrow, hat das Alter ihres Vaters. Er sieht nicht gut aus, dicklich und mit einem Blick, in dem selbst der Halbwüchsigen die Unsicherheit nicht entgeht. Aber vielleicht ist es gerade sein verlegenes Zögern, das sie anzieht oder reizt oder beides zugleich.
"She met him in the park several weeks before and they chatted about alcohol rehab programs. Hi, you remember me? she asked."
Kalf wußte, was Snowe meinte. Nun hörte er endlich ihre Stimme. Und die der anderen auch. Er nickte dem Verleger zu und setzte den Dialog fort: "Yeah, sagt Michael McMorrow, sieht zu ihr auf und öffnet die Bierdose."
Snowe antwortete: "'I?m Daphne from rehab.'"
"Yeah, sagt Michael noch einmal", fuhr Kalf fort, "und wiederholt grinsend: Daphne from rehab."
Um diese Zeit, erläuterte Snowe, kommt eine Polizei­streife vorbei, erfaßt die Gruppe im Dunkeln mit dem Suchscheinwerfer und fordert alle auf, den Park zu verlassen. Man beschwert sich, doch der Officer bleibt resolut, und so machen sich die Trinker nach allen Seiten davon.
"Michael McMorrow, beer bottle in hand, was seen rambling north."
Zuerst geht er in Richtung des Sees, dann aber ändert er abrupt die Richtung und folgt einem breiteren Pfad durch Rose Bushes and Hazel Trees. Die beiden Teenager dichtauf, Daphne Abdela mit den braunen Tüten in der Hand, in denen noch immer einige Dosen sind. Für Kalf war es nun so, als wäre er dort, in jener Nacht im Park, und sähe ihr nach. So genau wie möglich prägte er sich ihren Gang ein und wie der dünne Mädchenarm neben der Hüfte schlenkert, ihre schwarzen Haare und ihr Kindergesicht, das ihm im zuckend rotblauen Licht des Polizeiwagens spitzmündig erscheint und großäugig wie das eines Tieres, das dabei ist, still und witternd im Unterholz des Parks zu verschwinden.
Der Tisch war leer und der Abend vorüber. Noch einmal erschien eine der beiden Bedienungen und brachte die Rechnung. Der Verleger musterte den Beleg, ließ eine Kreditkarte darauffallen und klappte das dünne, hochformatige Büchlein wieder zu, als beende er einen Roman. Alle warteten darauf, daß man ging. Noch nicht, dachte Niklas Kalf, und tatsächlich zögerte Snowe und starrte wieder auf den Tisch, als überlege er, was zur Geschichte der Mörderin noch fehlen könnte. Und während Kalf zusah, wie seine Fingernägel erneut Linien auf dem Tischtuch miteinander verschränkten, fiel ihm die Geschichte Daphnes wieder ein, auf der Flucht vor Apoll. Als sie schon den Atem des lüsternen Gottes spürt und er nach ihr greift, verwandelt ihr Vater Penëus, der Flußgott, sie gnädig in einen Lorbeerbaum.
Keines, heißt es bei Ovid, verbleibt in derselben Gestalt und Veränderung liebend
Schafft die Natur stets neu aus anderen andere Formen.
In der Weite der Welt geht nichts, das glaubt mir, verloren.
Es ist eine Illusion zu glauben, wir wüßten, wann eine Geschichte zu Ende ist. Spüren wir es doch kaum, wenn eine beginnt.

Teil 3