Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Alka Saraogi: Umweg nach Kalkutta. Teil 2

28.08.2006.
Dies ist die Geschichte von Kishor Babu, und der Erzähler wird nur dann in ihr in Erscheinung treten,wenn die reine authentische Geschichte gegen den Strich geb rstet werden muß. In der Tat hatte Kishor Babu, der bereits einige neuartige, moderne Werke gelesen hatte, dem Erzähler vor der Niederschrift der Geschichte das Versprechen abgenommen, diese so aufzuschreiben, wie es die ber hmten Goldschmiede Bengalens bei ihrer Arbeit hielten, es n mlich bei zweiundzwanzig Karat Reinheit zu belassen. Was soviel heißt, daß der Erzähler der Geschichte dem reinen Gold nicht mehr als zwei Karat anderer Substanzen beimischen darf, und das auch nur, weil - wie Kishor Babu weiß - man Gold nicht anders zu Schmuck verarbeiten kann. Wie dem auch sei, die Geschichte erfordert es, Ihnen die Beschreibung der Lansdowne Road, die seine Frau zwischen den Falten ihrer Saris versteckt hält, unverändert vorzulegen:

"Ich stand an der Lansdowne Road und sah, daß auf der anderen Straßenseite, ein St ck entfernt vom Restaurant 'Golden Harvest', etliche Leute mit dem Gesicht zur Wand vor einer Mauer kauerten, genau so, als wollten sie ihre kleine oder große Notdurft verrichten. Man kann sich jetzt nat rlich fragen, wieso ich darauf kam. In den St dten pinkeln die Männer doch jetzt schon oft im Stehen und verrichten dieses Gesch ft nicht mehr so wie wir in unserer Kindheit im Kauern. Doch aus Angst vor umherfliegenden Tröpfchen oder weil sie die Brieftasche oder eine Ledertasche in der Hand behalten möchten, habe ich auch viele Leute gesehen, die immer noch auf diese Weise pinkeln. Wie dem auch sei, ich war so neugierig geworden, daß ich sogleich die Straße berquerte, um es genauer zu sehen.
     Dort sah ich auf der Außenwand eines neuen zehnstöckigen Gebäudes ein großes, zweifarbiges Plakat mit mehr oder weniger bekannten Filmgesichtern in den blichen Posen. Auf dem Plakat wurde behauptet, das ganze Land sei verrückt nach einem bestimmten Song aus diesem Film. Vor dem Plakat befand sich eine hölzerne, einen Fuß breite, tischartige Platte, auf der zwei mit Blättern bedeckte Körbe und zwei mit Metalltellern bedeckte Gefäße standen. Ich sah auch eine kräftige, dunkelhäutige Frau in einem einfachen, bunt getüpfelten Sari und einer Armbanduhr zwischen den Armreifen an ihrer linken Hand, die mit lauter Stimme etwas erklärte. Sie nahm Bestellungen von den Kunden entgegen: Die Leute stellten sich von rechts an und wandten sich dann mit ihrem auf den Metalltellern angerichteten Essen nach links. Dort kauerten sie sich in einer Reihe mit dem Gesicht zur Wand neben die anderen Essenden hin, stellten ihre Teller auf schmale Steine und beugten den Kopf darüber. Beim Essen wandten diese Leute nicht einmal ihr Gesicht nach links oder rechts,um mit einem anderen zu schwatzen oder ihn anzusehen. Auf einem weiß getünchten Viereck an der Wand standen mit roter Farbe die Preise für gekochten Reis mit Linsen und Gem se geschrieben, für Reis mit Ei und für Reis mit Fisch.
     Und wie staunte ich erst, als ich mir die Leute ansah. Da saß und aß doch dort tatsächlich Shiw Babu, der schon seit zwanzig Jahren in meinem Büro arbeitete! Niemals im Leben hätte ich mir vorstellen können, daß Shiw Babu so auf der Straße essen würde! 'Ist seine Frau etwa krank, daß sie ihm kein Mittagessen bringen kann?' dachte ich. Doch dann fiel mir ein, daß ich ja gar nicht wußte, ob er berhaupt verheiratet war, und auch nicht, was und wo er in all den Jahren zu Mittag gegessen hatte. Doch eine andere Sache kam mir in den Sinn:'Wo werden wohl die Frauen, die in der Stadt umherlaufen, ihre Notdurft verrichten, wenn es sie plötzlich überkommt?'"

Kishor Babus Frau fühlte sich durch diese Bemerkung brüskiert. Am meisten aber empörte es sie, welch profane Dinge Kishor Babu besch ftigten. Und wenn das schon der Fall war, wozu mußte er das auch noch aufschreiben? Wenn das nun jemand anderem in die Hände fiel? Überdies war ihr aufgefallen, daß Kishor Babu in letzter Zeit kaum mit ihr sprach. Entweder las er in seinen homöopathischen Büchern und machte sich Notizen in seinem Tagebuch oder er sah sich irgendeinen Film im Fernsehen an. Er blieb in sich gekehrt. Oder lag es vielleicht daran, daß sich ihr eigenes Verhalten ihrem Mann gegenüber verändert hatte, seit der allein durch die Straßen zog? Mit einem tiefen Seufzer beschloß sie, so bald als möglich einen erfahrenen Pandit in Dumdum, außerhalb der Stadt, aufzusuchen.
     In der Nacht, als sie plötzlich aufwachte, kames ihr so vor, als ob Kishor Babu nicht schlief, obwohl er die Augen geschlossen hielt. Als sie ihn fragte, ob er nicht schlafen könne, gab er ihr jedoch keine Antwort.


3

"Wo ist denn das mittlere Zimmer?"


Häufig, nach der Rückkehr von einer Reise, wenn man mitten in der Nacht aufwacht, glaubt man sich noch immer in dem Zimmer zu befinden, in dem man in der Fremde geschlafen hat. Doch nun, nachdem Kishor Babu sich von der Bypass-Operation erholt und sich in einen 'Sarakmap' verwandelt hatte, ereignete sich mit ihmnoch etwas völlig Seltsames. In derNacht nach seinem Geburtstag am1. Januar schien es ihm, als befinde er sich nicht in seinem Haus in Ballygunge, sondern in der Central Avenue in Nord-Kalkutta, also in jenem Haus im Burra Bazar, in dem er bis zu der Zeit gewohnt hatte, als seine drei Mädchen geboren worden waren, also ganze einundzwanzig Jahre.
     Ihn quälte das Gefühl, sich unbedingt an etwas erinnern zu müssen, was mit dem 1. Januar zusammenhing, deshalb mühte er sich im Halbschlaf, sich Vergessenes wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Am nächsten Tag, also am 2. Januar, fragte ihn seine Frau früh am Morgen, ob er wie immer im mittleren Zimmer Tee trinken wolle. Völlig verwirrt gab Kishor Babu darauf zur Antwort: "Im mittleren Zimmer? Wo ist denn das? Bist du nicht mehr ganz richtig im Kopf? Es gibt doch nur zwei Zimmer: ein kleines und ein großes!" Auf der einen Seite zur Kreuzung der Central Avenue und der Muktaram Babu Street hin befand sich eine Veranda, auf der anderen Seite eine Etage tiefer eine rings um den Innenhof verlaufende Galerie und ber den drei Etagen der offene Himmel.
     "Kishor, Kishor, steh auf, mein Sohn!" hörte er seine Mutter rufen. "Heute ist Samstag."

Kishor Babu bestand auf ein paar Erläuterungen außerhalb der Geschichte:
Nichts, was einmal auf dieser Welt geschehen ist, geht verloren. Wie könnte es auch verlorengehen, solange es uns gibt? Meist vergraben wir es irgendwo tief in uns unter den oberen Schichten wie in zerstörten alten Städten - all die Worte, die wir gehört haben, die wir gesagt haben, all das, was wir gesehen haben, alles Glück und Leid, das wir erlebt haben. Nicht eine einzige Stunde, die vergangen ist, stirbt für immer. Sie steckt irgendwo in uns, und man sagt, daß der Mensch, wenn er im Sterben liegt, noch einmal sein ganzes Leben von Kindheit an wie einen Film vollständig ablaufen sieht. Nur kann er in ihm nichts verändern, genausowenig wie in einem Film, sobald er einmal im Kino angelaufen ist.


4

Kali-katha: 1940


Kishor liebte es, von der Veranda aus das Kommen und Gehen der Leute unten auf der Kreuzung vonCentralAvenue undMuktaram Babu Street zu beobachten. Früh am Morgen hatten die Straßenkehrer und Wasserträger bereits mit ihren Schläuchen, die sie an den dicken, goldfarbenen Hydranten am Straßenrand anschlossen, die Straße mit Wasser aus dem Ganges besprengt. Auf den gereinigten Straßen kamen die Frauen - das rote Tilak aus mit Gelbwurz und Kalk vermischter Sandelholzpaste auf der Stirn - von ihrem rituellen Bad im Ganges zurück oder waren auf dem Weg zum Ram-Tempel. Dort war auch Natthuram, der für zwei Paisas süße Plätzchen und mit Gemüse gefüllte Krapfen verkaufte. Er war fast immer von einer großen Menschenmenge umgeben, die sein Gebäck entweder selbst aß oder die Milane und Krähen damit fütterte.Wenn man morgens beizeiten aufstand, konnte man auch eine von einem arabischen Schimmel gezogene Kutsche mit einheimischen Babus aus einer vornehmen Villa zum Park am Victoria Memorial fahren sehen. Der Lärm auf der Kreuzung, das Klingeln der Rikscha-Fahrer, vermischt mit dem Glockengeläut, dem Schlagen der Turmuhr, dem Blasen des Tritonshorns nach dem Gottesdienst und dem Ruf 'Jay ho, jay ho' (Es lebe, es lebe) drang bis hinauf in das obere Stockwerk. Sonnabends stand ein Pandit mit einer eisernen Figur des Gottes Shani in einer Opferschale aus Messing vor dem Tempel, und sein Ruf 'Shani Maharaj, Shani Maharaj' mischte sich in all das lärmende Durcheinander auf der Kreuzung.
     Die Mutter hatte Kishor eindringlich gemahnt,Gott Shani ein Opfer darzubringen. Vielleicht herrschte Shani ja über ihr Haus? Wer konnte das denn schon wissen? Die Mutter glaubte immerhin noch mehr an diese Dinge als Kishor. Aber wenn ohnehin schon alles zu Ende war, was sollte denn noch schlimmer werden? Um der Mutter jedoch einen Gefallen zu tun, warf Kishor einige Senfölkörner und ein paar Münzen in die Schale von Shani Maharaj. Dabei wurde ihm angst und bange bei dem Gedanken, einer seiner Freunde könnte sehen, was er da tat.
     Die großen Augen der Mutter glichen einem unruhigen Meer. Sie konnte ihre Todesangst nicht verbergen. Sie war dem Weinen nahe, doch die Tränen rannen ihr nicht übers Gesicht, sondern verloren sich in diesem Meer, versiegten darin. Kishor begriff, daß die Mutter nicht wollte, wie diese Todesangst sich auch in seinem Herzen festsetzte. Und vor wem in diesem Haus hätte die Mutter auch noch weinen können? Zwar gab es in ihrem Elternhaus drei Brüder sowie Vater und Mutter, die aber hatte das Elend schon viel früher erfaßt.
     Kishor brach es das Herz, wann immer er in das einfache Gesicht seiner Mutter sah, die stets mit irgendeiner Arbeit im Haus beschäftigt war. Am liebsten hätte er sie umarmt und ihr gesagt' Mutter, weine dich doch einmal richtig aus!' Doch er scheute sich, das zu tun, denn das hätte der Mutter womöglich das Herz zerrissen.
     Wenn sie sah, daß er traurig war, sagte sie nur' "Was geschehen mußte, ist geschehen. Alles wird gut, wenn du erst groß bist." 'Woher nimmt Mutter bloß so viel Kraft?' wunderte sich Kishor.
     Dann und wann stand der Großvater, Mutters Vater, mit gebieterischer Miene, makellos gekleidet, auf dem Weg zu seinem Geschäft oder gerade von dort zurück, vor Mutter in der Tür und forderte sie auf' "Kunti, verschließ dieses Haus und komm mit!Was willst du denn hier so ganz allein? Was hält dich in diesem Haus? Heute nehme ich dich und Kishor mit!"
     Noch bevor Mutter die Tränen kamen, hatten ihre Augen sie auch schon aufgesogen. Sie stand da und gab ihren Worten entsprechenden Nachdruck. In diesen Worten lag Verständnis für die Angst ihres Vaters, aber auch der feste Wille, ihm nicht nachzugeben: "Ich gehe mit, Babu-ji. Aber ich werde hierher zurückkehren. Das hier ist mein Haus, Babu-ji. Das habe ich Ihnen schon nach dem Tod Ihres Schwiegersohnes gesagt. So kann ich den beiden Kindern, Lalit und Kishor, wenigstens ein eigenes Zuhause geben. Wenn sie einmal groß sind, werden sie mich sonst fragen: 'Mutter, warum haben wir kein Haus? Warum leben wir bei Großvater?' Nun lebt auch Lalit nicht mehr, aber Lalits Frau hat mir geschrieben, daß sie nicht mehr bei ihrer Mutter in Kanpur leben möchte. Wo soll denn diese Frau sonst hin, wenn nicht hierher? Machen Sie sich keine Sorgen, auch diese Zeit wird vorübergehen."
     Danach ließ sich Großvater sechs Monate lang nicht mehr bei uns sehen. Der Tod des Schwiegersohns und dann der Kummer darüber, daß sein geliebter Enkel im Alter von achtzehn Jahren starb und ein zartes Mädchen von sechzehn Jahren als Witwe hinterließ, hatten die Lebenskraft des Großvaters aufgezehrt. Eines Tages brach es ihm tats chlich das Herz. Noch zu Großvaters Lebzeiten hatte Großmutter - aus Respekt vor dem Kummer ihrer Tochter und demder Schwiegertochter ihrer Tochter - vorzeitig aufgehört, sich den Scheitel zinnoberrot(1) zu färben.
     Nachts, wenn Kishor seinen Kopf auf das Kissen gelegt hatte, starrte er lange auf einen Punkt zwischen den Brauen hinter seinen geschlossenen Augen. Er sah, wie sich dort dunkle Kringel ausbreiteten und manchmal ineinander verstrickten. Sein Freund Amolak hatte ihm erklärt, daß man schnell einschlafe, wenn man seine ganze Aufmerksamkeit auf diesen Punkt richte und dabei bis hundert zähle. Aber die ganze Nacht über, selbst im tiefen Schlaf, bedrückte ihn unbeschreiblicher Kummer. Was die Mutter wohl im Schlaf dachte? Ob der Schlaf siewohl in die Welt der Träume entführen konnte, wo alles leichter und schöner war? Wo es ein großes, festgefügtes Haus gab und eine von zwei Pferden gezogene zweirädrige Kalesche, die seinen Bruder Lalit jeden Abend durch die ganze Stadt Bhiwani spazierenfuhr? Oder hatte die Mutter jetzt genau wie er keine Träume, weder die, die sich in irrealen Phantasiewelten bewegten, noch solche aus der goldenen Vergangenheit?
     Die Träume verließen Kishor jetzt völlig. Wenn ihm im Traum jedoch einmal ein Gott erschiene, dachte er manchmal, dann würde er ihm wenigstens eine Frage stellen: Schlimm genug, daß seine Mutter mit dreißig Jahren Witwe werden mußte, gut, das war Schicksal. Aber warum mußte seine Schwägerin in jungen Jahren das gleiche Schicksal ereilen? War sie in ihrem Alter denn wirklich schon zum Tragen eines einfachen weißen Saris verdammt, durfte sie keinen Tikki auf der Stirn anbringen und sich den Scheitel nicht mehr rot färben?
----------------------------------
(1) Traditionell bedeutet ein rot gefärbter Scheitel, daß die Frau verheiratet ist, ihr Ehemann lebt und ihr somit Schutz gewährt.

Teil 3

Informationen zum Buch und zur Autorin hier