Vorgeblättert

Leseprobe zu Richard Hughes: In Bedrängnis. Teil 2

06.08.2012.
IV

Im Spätsommer 1929 (fünf Jahre nach meiner ersten Begegnung mit Mr. MacDonald) lud die Archimedes in verschiedenen Häfen an der Atlantikküste Stückgut für den Fernen Osten. Zuständig für die komplizierte Einlagerung war natürlich Mr. Buxton (ein Deckoffizier muss tatsächlich mehr von der Ladung verstehen als vom Seegang). In New York verstaute er etliche Säcke mit Wachs ganz unten. Dann folgte eine Unmenge buntes Allerlei. Unter anderem einige Tonnen altes Zeitungspapier, das die Chinesen zum Bau ihrer Häuser verwenden. Das meiste wurde in den Zwischendecks verstaut - also weit oben, wegen des relativ geringen Gewichts. In Norfolk (Virginia) nahm man eine Ladung Tabak von minderer Qualität an Bord, der gleichfalls für China bestimmt war, wo man ihn zu billigen Zigaretten verarbeiten würde. Auch er lagerte in den Zwischendecks.
     Norfolk war der letzte Ladungshafen, und hier verzögerte sich ihre Abfahrt ein wenig. Worüber sich jedoch keiner beschwerte. Philadelphia war trotz der stinkenden Docks irgendwie ganz nett gewesen, weil die meisten Offiziere dort Freunde hatten; aber an Gastlichkeit schlug Norfolk Philadelphia um Längen. Kapitän und Erster Offizier dürfen (in der Regel) nie gleichzeitig an Land gehen. Doch in Norfolk gab es so viele Feste, dass beide auf ihre Kosten kamen. Sogar Mr. MacDonald hatte sich schließlich zur einmaligen Teilnahme überreden lassen und amüsierte sich - er versuchte es immerhin.
     Die rangniederen Offiziere besuchten meist andere und zwanglosere Partys und machten dabei allerhand erhellende Erfahrungen. Mr. Watchett, ein noch sehr junger Offizier aus dem nüchternen ostanglischen Marktflecken Fakenham, wurde beispielsweise eines Nachts von einer Gruppe junger Männer und Mädchen aus den Südstaaten aufgegabelt. Er erzählte ihnen, er stamme aus Norfolk in England - das genügte als Empfehlung. Obwohl er sie vorher noch nie gesehen hatte, behandelten sie ihn gleich so selbstverständlich, als wären sie alte Freunde. Sie gingen mit ihm bis zum Umfallen tanzen, irgendwo; und plötzlich sprangen alle in ihre Autos und fuhren hinaus in die Nacht. Der beißende Geruch öliger Sandstraßen, die riesig hohen Bäume, die über ihnen fast zusammenwuchsen, der Lärm der Frösche und Insekten. Sie kamen zu einem stattlichen Haus im Kolonialstil und gaben Dick Watchett in einem muffigen Zimmer voller viktorianisch anmutender Möbel Maiswhisky zu trinken.
     Sie waren alle unheimlich kultiviert. Unter ihnen befand sich ein älterer Mann, ein ehemaliger Soldat. Er trug ein goldbronziertes Holzbein zu seinem Abendanzug, denn er behauptete, die rein praktische Beinprothese, die er im Alltag anlege, passe nicht zu einem Smoking. Zur Gruppe gehörte auch ein wunderschönes, blondes Mädchen mit großen, unschuldigen Augen. Sie war blutjung und besuchte noch die Highschool. Sie erzählte Dick, sie stamme aus einer ganz besonders aristokratischen Familie, deren Blut seit unzähligen Generationen jeden Floh, der ein Familienmitglied biss, wahnsinnig machen würde. Diese Besonderheit sei ihnen letztlich auch zum Verhängnis geworden. Denn einer albernen Wette wegen hätte ihr Vater etliche der unersetzlichen Mitwirkenden eines Flohzirkus mutwillig um den Verstand gebracht; und damit man die vom Gericht verhängte Schadenersatzsumme bezahlen konnte, hätte man die Familienplantage verpfänden müssen. Das erzählte sie zumindest Dick.
     Hier schwante Dick zum ersten Mal, dass es in Amerika, ebenso wie in Europa, uralte aristokratische Familien gibt, die sich ungeheuer viel auf ihr Blut einbilden.
     Der Mann mit dem goldbronzierten Holzbein bedrängte das Mädchen (es hieß Sukie) mit seinen Zärtlichkeiten. Sie sträubte sich, weil sie wirklich so unschuldig war, wie sie wirkte; sie erkor sich Dick zum Beschützer und schmiegte sich an ihn wie ein Vögelchen. Er merkte nicht, dass sie sogar noch viel mehr Maiswhisky trank als er. Viel mehr als sie in ihrem Alter vertrug, außerdem war dies ihre erste derartige Party; doch nachdem sie einmal angefangen hatte, dachte sie gar nicht ans Aufhören. Der Whisky floss aus Glasballons, die eine Gallone fassten; es herrschte also kein Mangel.
     Bald erzählte sie Dick, sie hätte eine Katze, die wäre so raffiniert, dass sie erst Käse fressen und dann in die Mauselöcher pusten würde, um so die Tierchen zu ködern und herauszulocken. Ihr Blick wurde immer wirrer, und als sie in Dicks Arm lag, zitterte sie ab und zu. Dick redete nicht viel mit ihr, aber er genoss ihre Gegenwart. Ihm war selbst etwas schwindlig, und die Party schien mal näher, mal weiter weg, und er konnte dem Geschehen kaum folgen. Sukie hatte inzwischen einen halben Liter des schwarz gebrannten Alkohols intus, und das ist für eine Sechzehnjährige eine ganze Menge, und irgendwann wurde die Wirkung übermächtig. Sie wand sich plötzlich aus Dicks Armen und sprang auf. Ihre unnatürlich geweiteten Augen schienen niemanden wahrzunehmen, nicht einmal ihn. Sie zerrte an den Trägern ihres Kleids und an ein paar Verschlüssen und hatte im Nu kein Stückchen Stoff mehr am Leib. Ein paar Sekunden stand sie so da, splitterfasernackt. Dick hatte so etwas noch nie erlebt. Dann kippte sie um.
     Dick stellte abrupt sein Glas weg, in ihm hämmerte ein wilderer Rausch. Bekleidet war sie schon schön gewesen, aber so war sie noch unendlich schöner, hingegossen wie ein Teich; die weiße Haut; ihr kleines unglückliches Gesicht, bereits verzerrt von der aufkommenden Übelkeit. Plötzlich merkte Dick, dass alle anderen das Zimmer verlassen hatten; und genauso plötzlich merkte er, dass er dieses Mädchen mehr liebte als alles auf der Welt. Er wickelte sie mit zittrigen Händen in den Kaminvorleger, damit sie sich nicht erkältete, bettete sie so bequem wie möglich auf ein Sofa und kehrte bebend auf sein Schiff zurück.
     Er lag stundenlang wach, absolut unfähig, das intensive Bild von Sukies betrunkener Unschuld auszublenden. Doch endlich schlief er ein, ihr schönes Gesicht und ihr nackter Körper flackerten durch seine Träume. Und plötzlich erwachte er, weil kleine dünne Finger ihm die schweren Lider hoben, und er starrte durch sein Traumgeflecht in große, leuchtende Augen, nur wenige Zentimeter von seinen entfernt; aber es waren nicht Sukies Augen. In panischem Erschrecken hieb er auf den Lichtschalter.
Es war Thomas, der mit weichem Fell und langem Schwanz auf seinen unnatürlich langgezogenen Füssen davonhoppelte und nervös mit den Ohren zuckte.

                                              ???

Am nächsten Abend, dem Abend vor ihrer Abfahrt nach Colon und dem Panamakanal, veranstaltete Captain Edwardes ein Fest an Bord, wo zu Grammophonmusik getanzt wurde. Das Grammophon gehörte Mr. Foster, dem Zweiten Offizier. Die Damen waren Bekannte des Captains, zumeist Verwandte des Firmenagenten oder der Verfrachter. Ihre Einladung hatte die Pflicht diktiert. Keine von ihnen jung, keine schön, und da sie auch nicht aristokratisch waren, so wie Dicks Freunde, benahmen sie sich ganz tadellos, wenn auch ein wenig ungehobelt. Captain Edwardes, Mr. Buxton und Mr. MacDonald waren ausgelassen und kokett wie Kinder, und es wurde sehr lange getanzt - fast bis halb zwölf.
     Der einzige Offizier, der nicht teilnahm, war Mr. Rabb. Mr. Rabb gehörte nicht zur Archimedes, er hatte als Supernumerar angemustert, nicht als regulärer Schiffsoffizier. Eigentlich gehörte er zur Descartes - auch einem Schiff aus der Philosophen-Flotte der Sage-Linie - und sollte in Colon abgesetzt werden, um dort an Bord der Descartes zu gehen.
     Mr. Rabb war ein strenggläubiger Christ und missbilligte Tanzen eigentlich grundsätzlich. Ganz besonders bei vorgesetzten Offizieren, die doch für die ihnen anvertrauten jüngeren Offiziere die Verantwortung trugen. Außer den vier Auszubildenden, halbe Kinder noch, war da zum Beispiel Dick Watchett. Wenn er mit diesen Damen tanzte, konnte das in ihm leicht jene Leidenschaft entfachen, vor der uns nach Gottes Willen ein Leben auf See bewahren sollte. Watchett ließ sich äußerlich keine Erregung anmerken, wenn er eine Tanzpartnerin im Arm hielt; aber das war wider die Natur - wer wusste das besser als Mr. Rabb? Und die jungen Leute sind ja so falsch.
     Es ging ihn jedoch nichts an, dies war nicht einmal sein Schiff. Doch er hoffte, Captain Theobald von der Descartes würde sich als ein Mann von größerem Ernst erweisen.
     Dick Watchett mochte Mr. Rabb, so wie alle Jüngeren, die mit ihm in Kontakt kamen. Die Seekadetten vergötterten ihn. Und er war mit seiner klaren, herzlichen Stimme ja auch ein liebenswerter Mensch, der die Jungen oder die Armen anständig und mit Höflichkeit behandelte - ein typischer Engländer im besten Sinne.
 

KAPITEL ZWEI

Die Archimedes lief am nächsten Nachmittag um vier Uhr von Norfolk aus und fuhr den Elizabeth River entlang in die Hampton Roads. Der Leuchtturm von Craney Island - dachte Dick - sah aus wie ein Schweizer Chalet auf Stelzen. Die gelbe Küste war niedrig und flach mit Sandstränden; auf den Roads herrschte lebhafter Verkehr - hauptsächlich Küstendampfer und lange Lichterketten.
     Um halb sieben lagen sie vor Cape Henry und setzten dort den Lotsen ab.
     Schiffe mit Kurs nach Süden steuern dicht unter Cape Henry, innerhalb der Untiefen. Die Küste von hier bis hinunter nach Cape Hatteras ist merkwürdig, zumeist nur ein flacher Strandstreifen, der die Binnengewässer vom Ozean trennt, eine ziemlich verschwommene Grenze für einen so großen Kontinent. Bis dorthin lief Captain Edwardes' Kurs küstennah. Doch südlich von Cape Hatteras fällt die Küste nach Westen ab; bei Cape Hatteras, um drei Uhr morgens, verabschiedete sich die Archimedes daher von Nordamerika und nahm Kurs auf die Westindische Insel San Salvador.
     Ein klarer, schöner Tag. Das Meer dunkelblau wie der Himmel, in dem vereinzelt weiße Federwolken schwammen. Obwohl es bereits Spätherbst war, schien der Sommer zurückzukehren. Denn seit sie den Golfstrom passiert hatten, kompensierte die von Wolken und Nebel ungetrübte Sonne die fortgeschrittene Jahreszeit durch die Kraft, die ihr die südliche Breite verlieh. Die Archimedes war allein auf hoher See und das Festland eben erst vergessen - die glücklichste Zeit für jeden an Bord eines Schiffes.
     Das heißt, sie war allein bis auf die Delphine. Denn als der Vorsteven des Schiffs das violette Glas durchschnitt, pflügte er glitzernde, schneeweiße Schaumberge auf; und etwas Schöneres als die tief im Innern dieses Glases tanzenden Delphine hatte ich noch nie gesehen. Ein Dutzend Tiere, mächtig, viel größer als ein Mensch, am Rücken olivbraun, die Flanken und der Bauch von einem leuchtenden Blassgrün; ihre Form: Gestalt gewordene Geschwindigkeit. Die spitze Schnauze vor der wulstigen Stirn teilte das Wasser perfekt, und hinter der rudernden Schwanzflosse schloss es sich wieder, so als sei nichts gewesen.
     Meistens tanzten sie paarweise, glitten vor dem Steven hin und her wie Schlittschuhläufer, dann kreuzten sie - einer oben, einer unten - übereinander hinweg, drehten sich um die eigene Achse, ein silbrig grünlicher Blitz tief unten im Wasser, stiegen nach oben, bis ihre Rückenflosse die Luft wie eine weiße Feder durchtrennte, schnellten hoch wie kraftstrotzende Meerjungfrauen, haltlos vor Glück, warfen sich im Sprung auf den Rücken bald zu zweit, manchmal zu dritt, zu viert oder auch zu fünft. Plötzlich schossen zwei davon und verließen das Schiff; aus dem Nichts tauchten zwei neue auf, kreuzten den Bug und gesellten sich zu dem himmlischen Wasserspiel.
     Anfangs hatte Sukie alles andere in Dicks Bewusstsein bis in den letzten Winkel hinein überstrahlt, doch schon jetzt, nach zwei Tagen, war sie geschrumpft und in der Ferne verschwunden wie das Portal, durch das man in einen Tunnel eingefahren ist; überirdisch leuchtend und heller als das Tageslicht, aber sehr weit weg und klein und scharf umrissen. Doch jetzt, als er den Delphinen zuschaute, schien sein ganzes Bewusstsein für einen Moment wieder von dem Licht überflutet, das alle dunklen Ecken sanft ausleuchtete und dann zu einem Gefühl wohliger Traurigkeit verblasste.
     Am selben Abend sah er noch einmal etwas sehr Schönes, einen seltenen Anblick (außer im Chinesischen Meer): ein ferner Streifen Ozean phosphoreszierte so stark, dass er einen Widerschein in den Himmel warf. Als sie die Stelle dann erreichten, funkelte das Wasser wie das Sternenfirmament, und alles, was sich darin bewegte, war in kaltes Feuer gehüllt. In der Tiefe verströmten irgendwelche Fische ein rotierendes Licht wie ein Leuchtfeuer.
     Ein seltenes und großartiges Schauspiel. Doch es rührte ihn nicht so an wie die nackten Delphine.

zu Teil 3