Vorgeblättert

Leseprobe zu Magdalena Tulli: Getriebe, Teil 3

Der Blick gleitet zwangsläufig über die Glasglocke mit Bonbons, von denen niemand eins nimmt. Dann verschwindet man sofort mit der Quittung in der Brieftasche, ohne dass eine leere Stelle, ein Hauch von Sehnsucht oder ein Seufzer des Bedauerns zurückbleibt. Die Koffer, die auch erwähnt werden sollten, haben von Natur aus die Eigenschaft, dass sie da sind und zugleich nicht da sind, durch ihre Masse schimmert schon der glänzende Fußbodenbelag hindurch, der an Ort und Stelle bleiben wird, während sie im Kofferraum des Taxis davonfahren. Unter der spiegelglatten Kunststeinfläche, der kein Schmutz etwas anhaben kann, stellen wir uns mindestens zwei Kelleretagen vor, mit Wasserleitungs-, Kanalisations- und Zentralheizungsrohren, Reihen von Sicherungskästen und Kabelnestern. Und noch tiefer unten ein bodenloser Abgrund, derselbe, in den sich irgendwo die für Seefahrer lebensbedrohlichen Südseemeere ergießen, gespickt mit den Gefahren von Korallenriffen, wogend von Gefühlen, für die es keine Linderung gibt, in breitem Schwall bis an die zu ewigem Eis gefrorenen Nordmeere mit ihrer erstarrten, raureifigen Brandung schwappend. Am Antipoden der hiesigen Welt, in der jedes Ding an seinem Platz steht, kann man ein von allen Regeln entbundenes Land vermuten, wo die Decke der Fußboden und unten oben ist. Jeglicher Stütze beraubt, fallen dort die Sofas, Stühle, Tische wild durcheinander, geradewegs in die Leere des dortigen Himmels, wo sie verloren gehen. Sich kräuselnd und fältelnd schweben die im Schwung der Bewegung von den Tischen gerutschten Tischtücher dahin, nacheinander fliegen Geschirr und Besteck, aus den Kannen schwappt der Tee. Alles, was hier begreiflich und offensichtlich ist, muss dort wirr, unverständlich, verrückt wirken. Aber der Kunststeinboden verdeckt den dunklen Schlund und schiebt sich aufdringlich in den Blick, dieser jedoch gleitet nur mechanisch über die spiegelnde Oberfläche. Das Paar, dem nun schon so viel Aufmerksamkeit zuteilgeworden ist, hat nach dem Frühstück nicht ein Taxi, sondern zwei rufen lassen. Jeder der beiden geht nun seiner eigenen Wege. Der Mann im schwarzen Pullover legt die Hotelrechnung in sein Portemonnaie, in seinen Augen glitzert kühl die Lichterreihe über der Empfangstheke, der einfache kurze Name, auf den die Rechnung ausgestellt ist, beginnt anscheinend mit dem Buchstaben M. Mehr ist nicht zu sehen gewesen. Eine Geschichte ist wie ein Hotel, Personen tauchen auf und verschwinden.
     Der Erzähler wird schon beim bloßen Gedanken an den nächsten Satz müde, obwohl die Erzählung eigentlich noch gar nicht vom Fleck gekommen ist. Man könnte meinen, dass sie die ganze Zeit auf der Stelle tritt und dabei einen Lärm erzeugt, der den von den Glasscheiben gedämpften Straßengeräuschen draußen zum Verwechseln ähnlich klingt. Ihre Leere und Ödnis steht auf dem grauen Putz und dem gleichgültigen Himmel geschrieben. Man bekommt Lust, ein Bier zu bestellen und zuzuschauen, wie sich der Schaum im Glas absetzt, nichts weiter. Hätte der Erzähler die Wahl, er würde lieber von etwas erzählen, das frei von allen Komplikationen ist, von Ledermöbeln, die die kühle Ruhe des Wohlstands verströmen und zu ihrem Glück die Last nicht fühlen, die zu tragen ihre Aufgabe ist, von glänzenden Kunststeinplatten, makellosen Glasscheiben, weißen Porzellantassen im Satz zu sechs Dutzend Gedecken - wenn die eine oder andere zerbricht, ist das kein Unglück. Wenn der Erzähler wirklich die Wahl hätte, würde er von gar nichts erzählen. Aber woher kommt dann die nächste Person, wie ist sie plötzlich ins Blickfeld gerückt? Sie ist im Taxi eingetroffen, das um den Platz fuhr, wo sich ein grünspaniges ehernes Pferd mit ehernem Reiter in voller Rüstung aufbäumt. Ein paar Spatzen flattern von dem aufgeklappten Visier hoch. Der Neuankömmling hat für die Fahrt bezahlt und ist ausgestiegen. Aus der Tasche nimmt er eine zusammengefaltete Zeitung, möglicherweise die Financial Times. Der Schriftzug ist wie ein verabredetes, speziell für den Erzähler bestimmtes Signal, das ihm in die Augen springt.

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