Vorgeblättert

Eric Rohmer: Elisabeth, Teil 1

09.12.2003.
ERSTER TEIL
ERSTES KAPITEL

Später Nachmittag
                                                   1
Er drehte sich hastig um, wie ein Kind, das bei etwas Verbotenem ertappt wird. Elisabeth lachte: "Habe ich Sie erschreckt? Sie waren wohl so beschäftigt, dass Sie mich nicht kommen gehört haben. "
Er stellte die Ölkanne auf die Erde und richtete sich auf. Er hatte sein Jackett abgelegt und ein weißes, ölverschmiertes Hemd übergestreift.
"Wie können Sie nur mit diesem Lumpen herumlaufen?
Sie hätten mich nur bitten müssen, Ihnen ein Hemd zu geben. Ich frage mich wirklich, warum das hier seit drei Monaten in der Garage liegt. Sie haben immer Angst, mich um etwas zu bitten. Das ist nicht gut, Michel", sagte sie lachend.
"War nur eine Kleinigkeit", erwiderte Michel und zog das Hemd aus, "ich bin schon fertig "
Sie streckte ihre Hand aus. "Wenn Sie fertig sind, dann geben Sie es mir gleich. So bin ich sicher, dass Sie?s nicht noch mal anziehen."
Sie nahm das Hemd und legte es neben sich auf einen weißen, mit Werkzeugen überhäuften Holztisch.
"Ich möchte Sie nicht länger stören, aber eigentlich wollte ich Sie fragen, ob Sie etwas für mich in Percy abgeben kön-nen. Es liegt fast auf Ihrem Weg . . . Aber vielleicht fahren Sie ja gar nicht."
"Doch, doch. Ich fahre zu Irene."
"Das trifft sich gut."
Sie lächelte.
"Dann dürfte es Ihnen keine Umstände machen, in der rue Lambertin vorbeizufahren. Wollen Sie das für mich tun?"
"Natürlich", sagte Michel, "das ist absolut kein Umweg für mich."
"Wenn Sie so nett wären, diesen Brief meines Mannes im Haus Nummer vier abzugeben. Die Adresse steht vorne drauf. Es ist sehr dringend."
"Natürlich", sagte er, nahm den Brief und legte ihn auf das Armaturenbrett. Er trug eine hellgraue Stoffhose und ein kurzärmeliges Hemd aus blauer Kunstseide, das in unregelmäßigen Falten über den Gürtel fiel. Es war ihm offensichtlich zu groß.
"Eigentlich wollte ich Bernard bitten, aber eben erst bemerkte ich, dass er nicht mehr da ist. Wir haben gar nicht mitbekommen, dass er das Haus verlassen hat." 
"Ich glaube, er ist vor einer Viertelstunde gefahren", sagte Michel.
"Habe ich mir doch gedacht. Wir lassen ihm einfach viel zu viel durchgehen. Selbst das Auto benutzt inzwischen nur noch er. Wir sind so froh, dass er jetzt studieren wird. So ist das hier bei uns: Wenn etwas gut geht, sind wir nicht mehr zu halten."
Michel sah sie an, ohne etwas zu erwidern.
"Sie waren in seinem Alter sicher ganz anders als er", fuhr sie fort.
Er machte eine abwehrende Handbewegung.
"Doch, doch, davon bin ich überzeugt. Schon immer so bescheiden."
"Ich hatte kein Auto", sagte er lächelnd.
"Stimmt, Sie hatten kein Auto. Das ist natürlich wahr." Sie lächelte ebenfalls. "Ich hoffe nur, dass er daran denkt, Claire abzuholen. Wollten die beiden nicht schwimmen gehen?"
"Ja. Ich glaube, sie wollten runter zum Fluss", sagte Michel. "Bernard hat mich gefragt, ob ich mitkomme." 
Sie schwiegen eine Weile. Elisabeth nahm das Hemd und betrachtete Michel, der mit gesenktem Blick vor dem Auto stand.
"Ja ja", setzte sie das Gespräch fort, "ich lasse ihm viel zu viel durchgehen."
Er hob den Kopf. Sie lächelte ihn an.
"Ich langweile Sie bestimmt. Ich will Sie auch nicht länger aufhalten." Sie gab ihm die Hand.
"Bis heute Abend also."

Von der Terrasse aus sah man ein Stück der Garageneinfahrt und den blauen Farbtupfer von Michels Hemd. Er ließ die Motorhaube zufallen und verschwand mit der Ölkanne in der Garage. Kurz darauf erschien er wieder, stieg ins Auto und startete den Motor. Als er an Elisabeth vorbeifuhr, winkte er mit dem Brief.
"Ich denke dran", rief er.
Sie verließ die Balustrade und setzte sich in einen Korbsessel im kurzen Schatten der Hauswand. Vor ihr schimmerte das blasse Grün des ausgedörrten Rasens. Die weiße Brüstung der Terrasse leuchtete so grell, dass sie den Blick senken musste. Einen Moment saß sie regungslos da, dann stand sie auf und zog den eisernen Gartentisch, der mitten auf der Terrasse in der prallen Sonne stehen geblieben war, zu sich heran. Sie kehrte zur Balustrade zurück, sah noch einmal kurz zur Garage hinüber und verließ die Terrasse. Eine Art Galerie führte auf gleicher Ebene um das Haus herum, bog schließlich zum Vordereingang ab und mündete vor der Haustür in eine Freitreppe. Elisabeth betrat das Haus, nahm Buch und Tasche, die im Vestibül auf einem Stuhl lagen, und ging damit in den Garten zurück.

                                                   2
"Ich wusste doch, es ist alles in Ordnung", sagte Michel. "Für diese Geräte braucht man Geduld und sonst nichts. Ich glaube, es funktioniert jetzt wieder einigermaßen." 
"War nichts kaputt?", fragte Irene.
"Nein, nichts."
Irene stützte sich auf die Ellenbogen. Er saß auf einem Stuhl hinter dem Tisch. Sie sah nur seine glänzende, braun gebrannte Stirn mit den schwarzen, ungekämmten Haaren. Sie ließ sich zurück aufs Bett fallen.
Er schlug kurz auf das Gerät. Es knackte, dann ertönte Musik.
"Erst habe ich gedacht, ein Kondensator ist defekt. Das kommt oft vor, meist wegen Staub. Ein Wackelkontakt kann aber tausend Gründe haben. Eigentlich bräuchte man einen Pinsel."
"Habe ich sicher irgendwo", sagte Irene.
"Nein, ist schon gut. Ich meine nur: Man müsste jedes Radio von Zeit zu Zeit mit dem Pinsel innen sauber machen. Vielleicht hat es aber auch an etwas anderem gelegen. Auf jeden Fall geht?s jetzt wieder. Wie lange wird sich zeigen . . . "
     "Ja. Und deshalb musst du auch deine Zeit nicht weiter mit dem Gerät verschwenden! Ich frage mich, wieso ich es überhaupt erwähnt habe."
"Ja, vor allem heute. Aber zugegeben, es ist mein Fehler. Bist du mir deshalb böse?"
"Wie kommst du denn darauf?" Sie lachte. "Manchmal hast du komische Einfälle und . . . "
"Und was?"
"Und ich auch. Wenn du so willst: Manchmal haben wir beide komische Einfälle. Aber das macht nichts, mir gefällt das."
"Wir sind schon ganz schön komisch", sagte er lachend und warf einen Blick Richtung Bett, aber sie hatte sich ausgestreckt, so dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte.
"Ich meine . . . ", sagte sie nach einer Weile. "Ich mag die Art, wie du . . . Zum Beispiel hast du so eine Art, dich gleich in alles zu vertiefen."
Sie richtete sich wieder auf und setzte sich auf die Bettkante. Sie lachte.
"Was hast du gesagt?", fragte er, ohne den Kopf zu heben. "Moment. Ich mach mal eben das Radio aus. Ich versteh dich nicht."
Die Musik verstummte.
"Ich meinte, dass du Recht hast zu tun, was du tust. Ich habe nur gelacht, weil es mir gerade jetzt wieder auffällt. Ich hatte es zwischendurch völlig vergessen. Daran hab? ich nicht gedacht, wenn ich an dich gedacht habe." 
Er musste grinsen. "Du hast nur an meine guten Seiten gedacht. Das ist doch perfekt."
"Genau", sagte sie, "und du?"
"Ich? . . . Warte, ich antworte dir sofort. Eine Sekunde! Nein, steh nicht auf!"
Er drehte das Radio wieder an.
"Hörst du, wie klar der Klang der Musik ist? Da war nichts."
Er stand auf und setzte sich neben sie.
"Aha. Daran hast du nicht gedacht", sagte er und nahm ihr Gesicht in seine Hände.
"Daran hast du nicht gedacht."
Die Musik hatte aufgehört und war von einer Männerstimme abgelöst worden, die auf Deutsch etwas zu erklären schien.
"Warte mal", sagte sie und löste sich aus seinem Griff. "Mach zuerst das Radio aus. Ich mag das nicht, wenn ich kein Wort verstehe."
"Ich habe gar nicht hingehört."
Er stand auf und schaltete das Radio ab. Irene rutschte Richtung Tisch zur Bettkante.
"Setz dich doch", sagte sie.
"Bist du müde?", fragte Michel.
"Und wie! Ich wollte mich bloß mal ausstrecken und bin gleich eingeschlafen."
Er ging zu ihr und küsste sie auf die Stirn, ohne sie zu berühren.
"Wenn ich schon hier bin, sollte ich die Gelegenheit nutzen und mir die Hände waschen. Die sind ekelhaft dreckig." 
Sie lachte.
"Das ist doch egal. Du hast immer noch nicht geantwortet."
Aber er war schon im Bad und hatte den Wasserhahn aufgedreht.
"Sollen wir gleich runter in den Garten?", rief er.
"Wenn du willst. Gefällt?s dir hier oben nicht?"
"Das ist vielleicht eine Frage!" Er lachte auf.
"Ich würde gern in den Garten gehen", sagte er, als er zurückkam. Er schloss die Tür des Badezimmers und setzte sich neben sie, auf die Ecke des Bettes.
"Weißt du", sagte er, ohne sie anzusehen, "wenn ich an dich gedacht habe, dann habe ich an den Garten gedacht. Ich liebe diesen Garten, weißt du? . . . Was ist denn? Ich kann doch nichts dafür. Nimmst du mir das jetzt übel?" 
"Wo denkst du hin? Ich weiß, das geht vielen so: Man erinnert sich besser an Dinge als an Menschen. So ist das eben . . . "
Sie war sichtlich enttäuscht, versuchte aber zu lächeln, als sie ihn ansah. Er umschlang ihren Hals.
"Du hast es geglaubt! Du hast es geglaubt!" Er lachte schallend. "Wenn ich an dich gedacht habe, habe ich an dich gedacht. Das weißt du doch! Hast du das mit dem Garten wirklich geglaubt?"
Er drückte sie aufs Bett und ließ sich auf sie fallen. Sie versuchte, sich zu befreien. "Siehst du. Ich glaube dir immer. Selbst wenn du etwas Schlechtes über dich sagst. Wir sollten jetzt runtergehen", wechselte sie übergangslos das Thema. "Los, beweg dich ein bisschen. Du erdrückst mich! Ist das heiß hier."
Sie erhoben sich gemeinsam. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen vor ihn und strich ihm die Haare glatt. Für einen Moment standen sie voreinander und sahen sich an. Irene lächelte zuerst.
"Ich mag das nicht, wenn deine Haare so verstrubbelt sind. Aber so ist es auch nicht besser. Hol mal meinen Kamm. Er ist in der Tasche."
"Ich habe selbst einen", sagte er und zog seinen Kamm aus der Innentasche des Jacketts. "Also bleiben wir im Garten. Dann gehen wir heute nicht mehr weg?"

Teil 2