Magazinrundschau - Archiv

Words without Borders

5 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 10.01.2023 - Words without Borders

Die portugiesische Autorin Lídia Jorge spricht im Interview mit Margara Russotto und Patrícia Martinho Ferreira über ihre Arbeit und über die Veränderungen in der portugiesischen Gesellschaft, besonders bei den Frauen, deren Zeugin sie war: "Was den sozialen Wandel betrifft, so hat die Tatsache, dass Portugal nach der Revolution Teil Europas wurde, ein Land, das an zu vielen archaischen Überzeugungen festgehalten hatte, stark belastet, und der schnelle Weg, den es einschlagen musste, hat tiefe Konflikte innerhalb der portugiesischen Gesellschaft zutage gefördert. Ich gehöre zu der Gruppe von Schriftstellern, die diesen sozialen und historischen Wandel buchstäblich sichtbar gemacht haben, aber aus der Innenwelt der Figuren, durch veränderte individuelle Sichtweisen. Wenn ich eine Inschrift entwerfen müsste, die alles umfasst, was ich bisher geschrieben habe, würde ich sagen: In diesen Büchern geht es um eine Zeit, in der die Idee des Imperiums verblasste und eine freie Gesellschaft aufkam. ... Natürlich habe ich auch andere Perspektiven in Betracht gezogen, wie den Wandel der Familie und die Rolle der Frau, wie sie mit den Veränderungen in Portugal und den Veränderungen in Europa und der Welt konfrontiert waren. In den 1960er Jahren war eine von drei portugiesischen Frauen Analphabetin, was eine Menge über eine Gesellschaft aussagt. Trotz dieser Geschichte der geringen Bildung und des Festhaltens an überholten Vorstellungen haben viele portugiesische Frauen bewiesen, dass sie frei und Herr über sich selbst sein wollten. Andere, vielleicht viele andere, blieben Gefangene eines schwierigen Erbes. Ich möchte diese soziologischen Aspekte des portugiesischen Lebens nicht mit der Literatur verwechseln, aber dennoch muss ich erwähnen, dass portugiesische Schriftstellerinnen diesem Thema Tausende von Seiten gewidmet haben. Es ist unmöglich, gegenüber den entrechteten Mitgliedern einer Gesellschaft gleichgültig zu sein, in der das Erbe der Unterdrückung am stärksten zu spüren ist. Schreiben ist ein Blutstrom, der von Körper zu Körper geht."

Der amerikanische Autor Jaroslav Kalfař erinnert sich daran, wie er nach dem Zerwürfnis mit seinem Vater als Teenager seiner Mutter von Tschechien nach Amerika folgte. Sein Vater hielt nie etwas von seinem Interesse für Literatur (sein Stiefvater in Amerika auch nicht) und prophezeite ihm komplettes Versagen, zumal der junge Jaroslav kein Englisch konnte: "In einigen Dingen hatte mein Vater recht. Obwohl ich nie zurückkehrte, um ihn um Vergebung zu bitten, waren meine ersten Jahre in den Vereinigten Staaten weitaus schwieriger, als ich es mir hätte vorstellen können. In der High School hatte ich Angst, überhaupt zu sprechen und erntete dafür Misstrauen und Spott von meinen Mitschülern. ... Ich wollte das Schreiben aufgeben. Aber ich tat es nicht. Stattdessen vertiefte ich mich in die gleichen parasitären kreativen Aktivitäten, die mir mein Vater vorwarf. Ich las die tschechischen Romane, die ich mit nach Amerika gebracht hatte, immer wieder - Asimovs "I, Robot", Čapeks "War with the Newts", Le Guins "The Dispossessed". In der Bibliothek lieh ich mir die englischen Versionen dieser Romane aus und las sie Seite an Seite, so dass meine Geburtssprache und meine Adoptivsprache nebeneinander lagen. Ich verglich die Unterschiede in der Syntax und erforschte die Nuancen des Vokabulars. Schließlich kehrte ich zu den handgeschriebenen Kurzgeschichten zurück, die ich aus der Tschechischen Republik mitgebracht hatte. Ich verbrachte Stunden damit, meine Werke ins Englische zu übersetzen, unbeholfen und mit Ergebnissen, die im Nachhinein lächerlich sind. Aber es funktionierte. Zwischen diesem literarischen Streben und der Umgangssprache der Fernsehsendungen und meiner weitaus cooleren Highschool-Kollegen, zwischen dem Zwang, mit den Kunden zu scherzen, denen ich bei Friendly's Eis servierte, und dem Erreichen einer Zwei in meinem ersten Aufsatz am Community College - ein B- in Englisch, was für ein Traum - begann meine neue Sprache einen Sinn zu ergeben. Sie wurde instinktiv. Lebendig."

Magazinrundschau vom 02.08.2022 - Words without Borders

Sehr schön erzählt die indische Autorin und Übersetzerin Saudamini Deo, wie es ihr in der furchtbarsten Zeit der Corona-Pandemie in Indien, als die Menschen wegen des völlig überforderten Gesundheitssystems auf der Straße starben, half, eine Sprache, in diesem Fall Französisch zu lernen. Eine neue Sprache war für sie wie der Übertritt in eine andere Welt: "Als die zweite Welle Indien überrollte, war die französische Sprache nicht mehr nur etwas ganz anderes; sie war mein Geländer im Blackout. Ich erkannte, dass es möglich ist, eine Sprache zu bewohnen, so wie man eine Stadt bewohnt. Es ist auch möglich, in einer Sprache Zuflucht zu nehmen. Die Sprache stellt einen eigenen physischen Raum dar. Jeden Tag waren diese zwei Stunden Französischunterricht die einzige Zeit, in der ich nicht an etwas Schreckliches dachte oder darüber sprach. Als ich mir keine Zukunft mehr vorstellen konnte, habe ich sie mit Hilfe der Sprache und ihrer Ebenen neu erfunden."

Magazinrundschau vom 14.06.2022 - Words without Borders

In Words without borders denkt die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk über einen Begriff nach, der die heutige Komplexität der menschlichen Welt erfassen könnte. Sie beschreibt den paradoxen Zustand der Welt, die durch globale Vernetzungen und dauernd anwachsenden Wissensstand einerseits schrumpft und immer einheitlicher zu werden scheint. Andererseits paddeln die Menschen oft hilflos in der schier unendlichen Datenmenge des Internets. Diese gegenläufige Gleichzeitigkeit verändert das Bild vom Menschen, meint sie: "Es verändert sich durch die Klimakrise, die Epidemie und die Entdeckung der Grenzen wirtschaftlicher Entwicklung, aber auch durch unsere neuen Reflexionen im Spiegel: Das Bild des weißen Mannes, des Eroberers im Anzug oder mit Safarihelm, verblasst und verschwindet, an seiner Stelle sehen wir Gesichter, ähnlich wie sie Giuseppe Arcimboldo malte - organisch, hochkomplex, unverständlich und hybrid. Gesichter, die eine Synthese aus biologischen Zusammenhängen, Anleihen und Referenzen sind. Heute sind wir weniger ein Biont als vielmehr ein Holobiont, das heißt eine Gruppe verschiedener Organismen, die in Symbiose zusammenleben. Komplexität, Multiplizität, Vielfalt, gegenseitige Beeinflussung, Metasymbiose - das sind die neuen Perspektiven, aus denen wir die Welt betrachten. Vor unseren Augen verschwindet ebenso ein wichtiger Aspekt des alten Systems, der bisher grundlegend schien - die Aufteilung in zwei Geschlechter. Heute zeigt sich immer deutlicher, dass das menschliche Geschlecht eher einem Kontinuum mit einer Bandbreite an Merkmalen gleicht als dem alten polaren Antagonismus zwischen zwei Geschlechtern. Jeder kann hier seinen einzigartigen und eigenen Platz finden. Was für eine Erleichterung!" Um diesen Prozess, den sie ihn ihrem sehr langen Essay beschreibt, zu erfassen, schlägt sie das Wort "Ognosia" vor.

Magazinrundschau vom 16.10.2018 - Words without Borders

Words without Border bringt in diesem Monat eine Ausgabe mit Dalit-Literatur, die auf Hindi geschrieben wurde. Lesen kann man unter anderem einen Auszug aus Kausalya Baisantrys Erinnerungen an ihre Kindheit. Ihre Familie stach in ihrem Dorf heraus: Sie besaßen ein Grammophon und Schallplatten, sangen und die Mädchen gingen alle zur Schule. Viele, auch viele Verwandte, akzeptierten das nicht. Sie hassten sie für ihren Willen weiterzukommen: "Es gab keine Arbeit für den Pöbel in unserem Bezirk, und sie erhielten auch keine Ausbildung. Also konnten sie nur Unsinn machen. Einige kniffen die Augen zusammen, verstört vom Fortschritts anderer. Es hat sie nur angestachelt. Sie lebten dafür, Liebesbekundungen zwischen Jungen und Mädchen zu entdecken, und versuchten alles, um herauszufinden, wo sich die beiden Liebenden trafen, wohin sie gehen würden. Dann schnappten sie sich die beiden und brachten sie zurück, um sie zu beschämen. Die armen Liebenden wurden von ihren Eltern mit Prügeln bestraft. Sie gingen mit gesenkten Köpfen, jetzt, da ihr Familienstolz in den Dreck gezogen worden war. Diese Gundas! Niemand widersprach jemals diesen Sticheleien, aus Angst, selbst verprügelt zu werden. Sie schrieben wirklich schmutzige Dinge mit den Namen der Liebenden in Kreide oder Kohle an die Wände der Toiletten. Einige waren beleidigt. Einige fanden es lustig. Dies waren die Missetaten von Jungen, die es gerade mal bis zur dritten oder vierten Klasse geschafft hatten. Ma hatte viel Mut, und Baba hatte endlose Geduld. Sie schenkten diesen Eckenstehern keine Beachtung. Manchmal schleuderte Ma Flüche auf sie, wenn sie versuchten, uns zu belästigen. Diese Jungs, sie hatten Angst vor Ma. Sie war schrecklich."

Magazinrundschau vom 19.07.2011 - Words without Borders

Der arabische Frühling ist Schwerpunkt der Juli-Ausgabe von Words without Borders. Übersetzt wurde unter anderem ein sehr schöner Brief (franz./engl.) Boualem Sansals an Mohamed Bouazizi, den jungen Gemüsehändler, dessen Selbstverbrennung die tunesische Revolution und damit den arabischen Frühling auslöste. Hier der Anfang: "Lieber Bruder, ich schreibe dir diese Zeilen, um dich wissen zu lassen, dass es uns im großen und ganzen gut geht, auch wenn sich das von Tag zu Tag ändert: Manchmal dreht sich der Wind, es regnet Blei, das Leben fließt uns aus den Poren. Um die Wahrheit zu sagen, ich bin mir nicht ganz sicher, wo wir stehen. Wenn man bis zum Hals im Krieg steht, kann man erst am Ende sagen, ob man feiern oder trauern soll. Und das ist sie, die entscheidende Frage: Soll man den anderen folgen oder vorausgehen? Die Konsequenzen sind nicht dieselben. Manche Siege können sich als kurzfristig herausstellen, während manche Niederlagen der Beginn wirklich großer Siege sein können. In diesem Spiel, bei dem man jederzeit vom Tod überrascht werden kann, gibt es die Zeit davor und die Zeit danach, aber nur einen einzigen ungeheuer flüchtigen Moment, in dem man sich entscheiden kann."

Weiteres: Nawal El Saadawi kritisiert scharfzüngig die nationale und internationale Presse, die die ägyptischen Revolutionäre mit einigen kosmetischen Operationen ruhigstellen wollten. Außerdem gibt es Prosa und Lyrik in englischer Übersetzung (alles online hier zu finden).