Magazinrundschau - Archiv

Sinn und Form

6 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 19.01.2016 - Sinn und Form

Daniel Kehlmann denkt über Bilder und Wirklichkeit nach, über Schönheit und Schein und Eskapismus, und kommt auch auf das menschliche Auge zu sprechen. Sinn und Form hat einen Auszug online gestellt: "Strecken Sie den Arm aus und blicken Sie auf Ihren Daumennagel, so klein ist der Fleck, den Sie scharf und farbig sehen können, größer nicht. Alles darum herum glauben Sie nur zu sehen, aber Sie sehen es nicht, sondern erinnern sich nur daran, dass Sie es soeben oder vorhin oder irgendwann gesehen haben oder meinen es gesehen zu haben, und setzen es aus vagen und oft nicht korrekten Erinnerungen zusammen, und das, was dabei herauskommt, ist löchriger, als wir meinen... Unsere Augen bewegen sich unablässig, unser Gehirn ist dauernd damit beschäftigt, aus dem Nacheinander der Eindrücke ein Nebeneinander zu machen, ein stabiles Modell von Dingen in einem in drei Dimensionen ausgespannten Raum. Die Welt, wie sie uns wirklich entgegentritt, sieht einem Braque ähnlicher als einem Watteau."

Magazinrundschau vom 15.02.2011 - Sinn und Form

Was ist ein Roman? Und was ist der Unterschied zwischen Realismus und Naturalismus im Roman? Martin Mosebach erzählt eine Anekdote, um ersteres zu illustrieren: "Ein inzwischen verstorbener Pianist erzählte mir von den Verhältnissen im Hause Rubinstein, die er kannte, weil er dort so lange zu Gast gewesen war, bis Madame Rubinstein ihn auf die Straße setzte. Er bewahrte der Dame deshalb kein gutes Andenken. 'Sie war eine fürchterliche Frau', sagte er, 'stellen Sie sich vor: sie hatte auf dem Klo einen Goya hängen.' Ein Zuhörer protestierte: 'Aber bitte - sie hatte doch keinen Goya auf dem Klo hängen!' Der Pianist revidierte sich etwas gereizt: 'Natürlich hatte sie keinen Goya auf dem Klo hängen - aber so war sie!'" (Hier eine Leseprobe).

Auszüge lesen darf man außerdem aus Adam Zagajewskis Essay über Europa und aus Joachim Kalkas Text über die Mythologie der geheimen Gesellschaften.

Magazinrundschau vom 28.09.2010 - Sinn und Form

"Muss man modern sei?" So lautet die Überschrift eines Essays aus Alain Finkielkrauts Band "Nous autres, modernes". Roland Barthes schrieb am 13. August 1977 in sein Tagebuch: "Auf einmal ist es mir gleichgültig geworden, daß ich nicht modern bin." Dieser Satz, so Finkielkraut, war nur möglich, weil Barthes eine Sterbende liebte. "Ein Kummer, nicht einmal Liebeskummer, sondern ein grausamer Schmerz - doch so tief in die Ordnung der Dinge eingegraben, daß man sich fast für ihn entschuldigen möchte - überwand Barthes' Vorsicht und seinen Konformismus. Warum? Weil ihn diese Trauer zum Überlebenden machte und man nicht überleben und zugleich ganz und gar modern sein kann. Weil in der einfachen Tatsache, daß man die überlebt, die man liebt, ein Dementi der Zeitvorstellung liegt, von der die Idee der Modernität wesentlich getragen wird. Der Moderne empfindet die Vergangenheit als Last. Dem Überlebenden fehlt sie. ... Der Moderne ist froh, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, der Überlebende ist darüber untröstlich. Denn für ihn ist die Vergangenheit nicht tödlich, sondern sterblich; nicht unterdrückend, sondern prekär." (Hier der Anfang des Essays)

Einen Auszug lesen darf man außerdem aus Peter Rühmkorfs Rede zum Johann-Heinrich-Voß-Preis. Nur im Print: Ein Fragment von Tschechow, "Bauern". Ein Essay von Laszlo F. Földenyi über "das echte Schwarz. Das Schwarz der Seite in Sternes Roman, das Schwarz der Karikatur von 1771, das Schwarz des 'Schwarzen Quadrats' von Malewitsch". Und ein Interview Prot Stetschkins aus dem Jahr 1906 mit Lew Tolstoi, der fröhlich Goethe, Ibsen und Shakespeare niedermacht, und dann kommt noch das:
"TOLSTOI: ... In der Technik steht Tschechow weit über mir! Er ist in seiner Art ein einzigartiger Schriftsteller.
STETSCHKIN: Und Maupassant?
TOLSTOI: Maupassant? Ja, meinetwegen ? Aber ich weiß noch nicht, wem ich den Vorzug geben soll. Haben Sie das notiert?"

Magazinrundschau vom 30.03.2010 - Sinn und Form

Wie schon in den Zeitungen berichtet, ist in dieser Ausgabe ein kritischer Essay von W.G. Sebald über Jurek Beckers Romane abgedruckt. Uwe Schütte schreibt in seiner Anmerkung zu dem Essay, die wir in einem sehr karg bemessenen Auszug lesen dürfen: " Als literarisches Kernproblem identifiziert er 'die Absenz des Autors' und dessen stete Sorge, 'daß er nicht mit hineingerät in sein Werk', das unter dem Vorzeichen eines 'Erinnerungsembargos' stehe. Dies sei, wie Sebald am Ende konzediert, als Schutzmechanismus zu verstehen, um 'das Aufsteigen der Erinnerung' an die Becker durch seine Ghetto- und KZ-Kindheit 'aufgebürdete Last' zu verhindern, damit sie nicht 'das sich erinnernde Subjekt mit ihrer zerstörerischen Gewalt einholt'. 'Ich möchte zu ihnen hinabsteigen und finde den Weg nicht' - der Titel unterstreicht Sebalds Diagnose, denn er zitiert den Schlußsatz von Beckers Essay über Fotos aus dem Ghetto Lodz, worin dieser eingesteht, auch mit Hilfe der Aufnahmen die verschüttete Erinnerung an die Kindheit nicht freilegen zu können."

Magazinrundschau vom 26.01.2010 - Sinn und Form

Der Literaturwissenschaftler Marc Fumaroli schreibt über den italienischen Komparatisten Mario Praz, Verfasser eines berühmten Werks über die "schwarze Romantik" (mehr hier). Praz starb 1982, aber noch heute bekreuzigen sich einige Wissenschaftler, wenn sie seinen Namen hören. Einen Auszug aus dem Essay kann man online lesen, hier der Anfang: "Mario Praz. Bis vor kurzem (obwohl er bereits 1982 starb) geschah es mitunter schon bei der Andeutung seines Namens, daß ein italienischer Gesprächspartner Ihnen mit einer Hand den Mund zuhielt und die Finger der anderen beschwörend kreuzte. L'Innominabile! Und dann überhäufte man den Ausländer, der ahnungslos, unbedacht oder dumm genug gewesen war, auf Okkultes anzuspielen, zur Erbauung mit mehr oder weniger tragischen Geschichten, um die verhängnisvolle Macht des 'Unnennbaren' zu beweisen, dessen Name noch immer Furcht einflößte. Nomen, numen. Das ging vom völligen Stromausfall bei einem Fest, das der Professor soeben verlassen hatte, bis zum Unfall eines Unglücklichen, der dem schrecklichen jettatore über den Weg gelaufen war."

Außerdem lesen kann man einen Auszug aus einem Essay des George-Biografen Thomas Karlauf, der sich mit der Frage auseinandersetzt, was George, Stauffenberg und Hitler verbindet, und einen Auszug aus den Erinnerungen des Komponisten Rudolf Wagner-Regeny an das Ende des Zweiten Weltkriegs.

Magazinrundschau vom 20.10.2009 - Sinn und Form

Der Slawist und Übersetzer Fritz Mierau erzählt, wie er im Sommer 1965 auf die Krim reiste um einen Ort zu suchen, von dem er nicht genau wusste, wo er lag oder wie er aussah. An einer Bucht, unmittelbar am Meer fand er ihn. Hier ein Auszug: "Die russische Geistesgeschichte kennt den Ort als Koktebel und den Mann, der ihn berühmt machte, 'fand', gar 'erfand', als den Dichter und Maler Maximilian Woloschin. (...) Nach Jahren in St.Petersburg, Moskau und Paris hatte er sich lange vor dem Ersten Weltkrieg hier angesiedelt, am alten Karawanenweg von Asien nach Europa seine eigene Karawanserei bauen lassen und dabei tischlernd selbst mit Hand angelegt: Koktebel erschien ihm als der Ort, der ihm und dem er bestimmt war. Tatsächlich ist Woloschins Leben in Koktebel einem Anschmiegen an das Wirken der Elementarkräfte verglichen worden. Ossip Mandelstam erzählt, wie ihm ein Zimmermann Woloschins Grab zeigte, das hoch in den Bergen des Karadag über dem linken Ufer der Iphigenie-Bucht liegt. Als sie Woloschins sterbliche Überreste an den Ort trugen, den der Dichter im Testament bestimmt hatte, seien alle von der weiten Rundsicht überrascht gewesen, die sich ihnen von da über Meer, Berge und Steppe eröffnete. Allein Maximilian Alexandrowitsch habe den Blick für diesen Ort besessen."

Auszüge lesen darf man außerdem aus einem Text von John Carey über John Donne und aus einem Gespräch, das Ralph Schock mit Christoph Hein führte. Nur im Print: Texte von Hans Magnus Enzensberger, Michail Ryklin, Giwi Margwelaschwili, Emine Sevgi Özdemir u.a.