Masha Gessen, deren Essay über die ihrer Meinung nach verfehlte Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, aber auch Polen und der Ukraine in unguter Erinnerung ist, liefert nun eine ausführliche
Reportage über den
Kriegsalltag in der Ukraine, die immerhin den Vorteil hat, nüchtern bei den Fakten zu bleiben.
Viel Hoffnung scheint Gessen der Ukraine nicht mehr zu geben. Um die Demokratie zu verteidigen, muss sie die Demokratie zumindest suspendieren, beobachtet sie. Die geplanten
Präsidentschaftswahlen sind ausgesetzt, auch mit Rücksicht auf all die Ukrainer, die im Krieg sind, das Land verlassen haben oder interne Flüchtlinge sind. Und doch: Selenski hatte als ein Kandidat gegen das Establishment begonnen, aber nun ähnele er jenen Funktionären, die er verjagen wollen,
verschanzt in eine Festung. Der Krieg verstetigt sich. Die
Spannungen in der Bevölkerung verschärfen sich. "Diejenigen, die im Land geblieben sind, haben oft wenig Geduld mit den
Ukrainern im Ausland. 'Ich bin sehr wütend auf Frauen, die gehen und ihre Männer hier lassen', sagt Kateryna Ukraintseva (eine Aktivistin aus Butscha). "Entweder man ist eine Familie oder nicht. Man sollte die Dinge gemeinsam durchstehen.' Die
Scheidungsraten sind stark gestiegen, und es ist eine Binsenweisheit, dass viele Frauen, die nach Westeuropa gegangen sind, sich ein neues Leben aufgebaut haben. 'Jeder Mann, den ich kenne, der seine Frau und seine Kinder ins Ausland geschickt hat, ist inzwischen geschieden', sagt mir der Soziologe Denys Kobzin. 'Die Kluft zwischen denen, die im Krieg gekämpft haben, und den anderen wird immer größer.' Serhiy Leshchenko, Berater von Zelensky, stimmt zu. 'Es ist an der Zeit, dass jene, die
sich als Ukrainer sehen, zurückkommen', sagt er. 'Die Schulen in Kiew sind geöffnet - sie haben alle Luftschutzbunker. Freunde von mir, die mit immer neuen Ausreden kommen, sind keine Freunde mehr.'"
Was hält die
Zukunft des Internets bereit,
fragt sich Akash Kapur. Als
Projekt der ultimativen Freiheit gedacht, muss es sich jetzt angesichts der wachsenden Bedrohung durch die Techgiganten fragen, ob Regierungskontrollen mehr schaden oder nutzen. Indien versucht mit der Plattform
India Stack einen Mittelweg: "Auf einem grundlegenden Level war das Programm eine Bemühung, so etwas wie Sozialversicherungsnummern zu schaffen - keine ganz einfach Leistung für ein so großes Land wie Indien, aber an sich nicht wirklich revolutionär. Unter der Leitung des Tech-Milliardärs Nilekani hat die Plattform sich gegen die öffentliche Skepsis durchgesetzt, gegen bürokratische Lähmungen und gesetzliche Hürden, und 1,4 Milliarden Bürger registriert. Diese verfügen nun über eine
Identitätsnummer aus zwölf Ziffern, die als Aadhaar (Hindu für Grundlage) bekannt ist und mit
biometrischen Daten wie Irisscans und Fingerabdrücken gefüttert ist. Die wahre Errungenschaft Nilekanis ist es aber, die ID-Nummern als Grundlage einer integrierten digitalen Ökologie ('the stack') zu nutzen. Sie besteht aus
staatlich ermöglichten Modulen (sie werden gemeinhin als digital public infrastructure oder DPI bezeichnet), die es den Bürgern erlauben, Online-Bezahlvorgänge durchzuführen, Sozialleistungen zu beziehen, Bankgeschäfte zu tätigen und offizielle Dokumente zu hinterlegen und bescheinigen zu lassen (zum Beispiel Covid-Impfdokumente). So baut die Regierung das, was die World Bank als 'ausloten' einer kontrollierteren - und vielleicht weniger toxischen - Version des Internets versteht, mit Raum für private Programmierer, die, darauf aufbauend, neue Plattformen und Services entwickeln." Ob dadurch nicht auch eine neue Möglichkeit
staatlicher Überwachung geschaffen wird, fragt sich dabei nicht nur Kapur. Sicher ist nur der stetige Wandel: "Das Internet bleibt ein Work in Progress. Aber es gibt Gründe, davon auszugehen, dass seine Zukunft von einem
ganz anderen Standpunkt aus geschrieben wird als seine Vergangenheit."
Weiteres: John Seabrook
fragt sich, wie KI der
Musikindustrie nutzen wird. Merve Emre
stellt die Naturphilosophin, Autobiografin und Romanautorin
Margaret Cavendish (1623-73) vor. Alex Ross
hört die Oper "Chornobyldorf" von
Roman Grygoriv und
Ilia Razumeiko.