Magazinrundschau - Archiv

The New York Review of Books

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Magazinrundschau vom 21.07.2020 - New York Review of Books

In der neuen Nummer des Magazins versucht Namwali Serpell, mit Hilfe der 1978 entstandenen Fotografien von Ming Smith das Mysterium des 1914 in Alabama geborenen Jazzmusikers Sun Ra, geboren Herman Poole Blount, zu ergründen: "Sein Jazz oszilliert wild von Wirrwarr zu Melodie, reitet Dissonanzen in Harmonien, jagt dahin zwischen sprudelnden Noten und plötzlicher Stille - die Synkope, die einen Rhythmus zu einem Rhythmus macht. Sun Ras Kunst in all ihren Erscheinungen bietet diese Herausforderung für seine schwarzen Hörer: Wenn wir alle nichts sind, sondern nur Mythen, warum das nicht in Form übersetzen? Warum nicht glitzernde schwarze Materie erschaffen, glitzernde schwarze Materie sein? … Glaubte Sun Ra tatsächlich, er wäre früher einmal zum Saturn transmaterialisiert worden? Wollte er wirklich seine schwarzen Brüder und Schwestern retten, indem er sie ins All schickte? … Egal. Sun Ra hat niemals einen Rückzieher gemacht und erklärt, alles sei nur ein Witz gewesen. Mit seinen Strategien der Unterlassung verwandelte er einen 'Nigger' in einen 'farbigen Intellektuellen' in einen Gott, machte aus Luft Gold, wurde groß, lebender Mythos, Mensch unter Menschen, ein freundliches Prisma. Das ist es, was die schillernden dunklen Fotografien Ming Smiths von Herman Blount, Sonny, Le Sony'r Ra, Sun Ra enthüllen. Er ist der Junge, der 'Feuer' schrie, er ist das Feuer selbst, er ist das schimmernde Dazwischen."

Für einen musikalischen Einstieg: Sun Ra und sein Intergalactic Arkestra 1972:



Außerdem: Jason DeParle bespricht Bücher, die sich mit dem Problem der Kinderarmut befassen. Und Mark Mazower stellt Biografien über den marxistischen Historiker Eric Hobsbawm vor.
Stichwörter: Sun Ra

Magazinrundschau vom 23.06.2020 - New York Review of Books

Die amerikanischen Colleges waren einst eine egalitäre Kraft, seufzt Jonathan Zimmerman, heute verstärken sie noch die sozialen Unterschiede. Dass hier Eliten reproduziert werden, können weder die wenigen Stipendien für ärmere Studenten verschleiern noch die gern zelebrierte Diversität: "40 Prozent aller Undergraduates gehen vorzeitig ab. 34 Millionen Amerikaner, mehr als ein Prozent der Bevölkerung, haben ihr College ohne Abschluss, aber mit Schulden verlassen. Sie werden doppelt so häufig arbeitslos wie Studierende mit Abschluss, und viermal häufiger können sie ihre Kredite nicht zurückzahlen", schreibt Zimemrmann: "Die Studienkredite in Amerika überstiegen kürzlich 1,5 Billionen Dollar. 22 Prozent der Schuldner sind in Verzug. Die Zahl wird sich noch erhöhen, da die Trump-Regierung Restriktionen für profitorientierte Colleges gelockert hat, deren Studenten die höchste Verzugsrate überhaupt haben. Selbst wenn sie nicht säumig werden, können verschuldete Studenten seltener ein Haus kaufen, auf weiterführende Unis gehen und für die Rente sparen, dafür müssen sie häufiger Heirat und Elternschaft hinausschieben, wie der Ökonom und frühere College-Präsident James V. Koch in seinem Buch 'The Impoverishment of the American College Student' schreibt. Die Schuldenlast drückt am schwersten auf Nichtweißen, besonders auf Frauen. Vier von fünf schwarzen Amerikanern schließen ihr College verschuldet ab, im Durchschnitt tragen sie siebzig Prozent mehr Schulden als weiße Studenten. Das liegt auch daran, dass sie häufiger profitorientierte Einrichtugnen besuchen. Wie Tressie McMillan Cottom in ihrer Studie 'Lower Ed' schreibt, studieren dort mehr arme schwarze und lateinamerikanische Frauen als an allen staatlichen und privaten Colleges zusammen. Eine sinnvolle Wahl für sie, denn die profitorierntierten Schulenhaben das Beantragen von Krediten vereinfacht: Das Geld kann auch für die Miete, Kinderbetreuung und tausend andere Kosten genutzt werden, mit denen arme Amerikaner zu kämpfen haben."

Kann man Donald Trump mit seinen Fantasien von Reinheit und Größe, der Dämonisierung seiner Gegner und seinem Hass auf die freie Presse und alles Intellektuelle als Faschisten bezeichnen? Kann Amerika überhaupt faschistisch sein? Und wie sähe ein amerikanischer Faschismus aus? In einem dramatischen Artikel blickt Sarah Churchwell auf die dreißiger Jahre zurück, als Lynchmorde, Ku-Klux-Klan-Terror und die SA-ähnlichen Paradetrupps von Louisianas Senator Huey Long eine Ahnung davon gaben: "Samuel Moyn argumentierte kürzlich gegen einen Vergleich des Trumpismus mit dem Faschismus, weil seine Politik tief in der amerikanischen Geschichte wurzele. Es brauche keine Analogien zu Hitler, um diese zu erklären. Aber eine solche Argumentation geht davon aus, dass der Faschismus nicht seine eigenen tiefen Wurzeln in Amerika haben könnte. Es ist zweifelhaft - um nicht zu sagen exzeptionalistisch - zu glauben, dass alles, was genuin amerikanisch ist, nicht faschistisch sein kann. Fachleute wie Robert O. Paxton, Roger Griffin und Stanley betonen seit langem, dass der Faschismus seinen Anhängern niemals als etwas Fremdes erscheint: Seine Behauptung, für das Volk zu sprechen und nationale Größe wiederherzustellen bedeutet, dass jede Version von Faschismus seine eigene lokale Identität hat. Wer glaubt, dass eine nationalistische Bewegung nicht faschistisch sei, weil sie im eigenen Land entstanden ist, verkennt den entscheidenden Punkt."

Weiteres: Jessica Riskin besteht auf dem Fünfklang der wissenschaftlichen Methode, der aus "Beobachtung, Hypothese, Vorhersage, Experiment und Bestätigung" bestehen kann oder aber aus "Vergleich, Formalisierung, Analogie, Interpretation und Veranschaulichung". FintanO'Toole widmet sich der Clankriminalität in Washington.

Magazinrundschau vom 26.05.2020 - New York Review of Books

Wie konnte Amerika nur so ein unglückliches Land werden, fragt die Schriftstellerin Marilynne Robinson in einem großen Abgesang auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die Löhne sinken, die staatlichen Schulen und Universitäten verlieren an Unterstützung, die Lebenserwartung für Weiße sinkt. Immer weniger Amerikaner glauben noch, dass es ihren Kindern besser gehen wird, kaum jemand glaubt noch an die amerikanischen Ideale: "Das Coronavirus kann sich möglicherweise abschwächen, vielleicht kann es behandelt werden. Aber ein Niedergang an Hoffnung und Sinn ist eine Krise der Zivilisation, die Nachdenken erfordert und eine eingehende Sorge um das Wohl der gesamten Gesellschaft und ihren Platz in der Welt... Die Vereinigten Staaten zogen Millionen von Einwanderern an. Sie schufen großartige Städte und Institutionen wie auch eine unverwechselbare Kultur, die in der ganzen Welt Einfluss genoss. Bis vor kurzem brachten sie gerechte, anständige Regierungen hervor, die einigermaßen plausibel den Idealen einer Demokratie gerecht wurden. Das ist die bescheidene Beschreibung jener Energien, die Generationen bewegt haben. Optimismus ist immer die oberste Rechtfertigung der eigenen Existenz. Er scheint naiv, bis er nicht mehr da ist. Der Glaube, dass die Dinge besser werden, und die Erwartung, dass sie es sollten, schaffen aber erst den gesellschaftlichen Nährboden, auf dem Fortschritt entsteht."

Ein Grund könnte die miserable Ernährung sein. "Hoch stapeln und billig verkaufen", lautet die Devise der amerikanischen Nahrungsmittelindustrie, doch in der Coronakrise offenbaren Michael Pollan nicht nur zusammenbrechende Lieferketten, massenhafte Erkrankungen in den Schlachthöfen und kilometerlange Autoschlagen vor Essenstafeln die Mängel der Branche. Verheerend sei auch eine industrielle Landwirtschaft, die vor allem auf dem Anbau von Mais und Soja beruht: "Was wir anbauen, ist nicht unbedingt Essen, sondern Futter für Tiere oder Grundstoffe, die zu Fastfood, Snacks und Limonaden verarbeitet werden können, fruktosehaltiger Maissirup. Während einige Bereiche der Landwirtschaft während der Pandemie ums Überleben kämpfen, werden die Mais- und Sojaernten vermutlich mehr oder weniger unbeschadet bleiben. Das liegt daran, dass sie wenig Arbeitskraft benötigen, meist nur einen einzigen Farmer auf einem Traktor, der allein Hunderte von Hektar ernten kann. Solche Nahrung wird als letzte aus den Supermärkten verschwinden. Leider macht uns dieses Essen (ebenso wie viel Fleisch und wenig Obst und Gemüse) anfällig für Fettleibigkeit und chronische Krankheiten wie Bluthochdruck und Diabetes Typ 2. Aufgrund dieser Risikofaktoren wird ein mit Covid-19 infizierter Mensch sehr wahrscheinlich mit einem schweren Krankheitsverlauf im Krankenhaus enden. Das Center für Disease Control and Prevention berichtet, dass 49 Prozent aller im Krankenhaus Behandelten unter Bluthochdruck litten, 48 Prozent waren übergewichtig und 28 Prozent hatten Diabetes."

Angesichts einer weiteren drohenden Krise empfiehlt Francesca Mari Aaron Glantz' "Report "Homewreckers", der rekonstruiert, wie die Politik nach der Finanzkrise die Banken rettete, aber Millionen von Hausbesitzern in den Ruin trieb, deren Immobilien sich dann Investoren unter den Nagel reißen konnten: "Diese Politik verschafften Unternehmen nicht nur die finanziellen Anreize für Zwangsvollstreckungen, sondern ermöglichte auch einen riesigen und anhaltenden Wohlstandstransfer von Hauseigentümern zu privaten Investoren, wobei Tausende von Eigenheimen in Mietobjekte verwandelt wurden, die über dem Marktwert vermietet werden."

Magazinrundschau vom 12.05.2020 - New York Review of Books

Mehrere Bücher sind jüngst über Franz Boas und die von ihm gegründete Schule der Anthropologie erschienen, zu der Margaret Mead, Zora Neale Hurston und Ruth Benedict (also nebenbei eine Menge Frauen) gehörten. Boas, der in Deutschland aufgewachsen war und in Heidelberg und Kiel studiert hatte, bevor er 1886 nach Amerika ging, und schließlich an der Columbia University lehrte, hat zwar noch im Auftrag der amerikanischen Regierung Schädel vermessen, um rassische Differenzen zu sondieren - aber er war einer der ersten, der die komplette Fruchtlosigkeit solcher Studien erkannte und sich gegen einen "wissenschaftlichen" Rassismus wandte. Kwame Anthony Appiah bespricht drei Bücher über Boas und seine Schule, darunter ist das wichtigste, Charles Kings "Gods of the Upper Air - How a Circle of Renegade Anthropologists Reinvented Race, Sex, and Gender in the Twentieth Century", schon auf Deutsch erhältlich. Er schildert Boas' heroischsten Moment: "Im Jahr 1925, nachdem der Johnson-Reed Act eine Beschränkung 'nicht nordischer' Immigration verfügt hatte, veröffentlichten Boas und einige seiner Schüler - darunter Melville Herskovits und Edward Sapir - eine Serie kraftvoller Essays in The Nation, in denen sie den wissenschaftlichen Rassismus entlarvten und kritisierten. Diese Interventionen veränderten das intellektuelle Klima. Thomas F. Gossett übertrieb in seiner klassischen Studie "Race - The History of an Idea in America" (1963) nicht, als er schrieb: 'Das wichtigste Ereignis, das sich der Flut des Rassismus in den zwanziger Jahren entgegenstellte, war ein Mann, der ruhig fragte, wo denn der Beweis sei, dass 'Rasse' Mentalität und Temperament festlegt."

Kings Buch wird zeitgleich auch von Jennifer Wilson in The Nation besprochen, für die Boas' und Meads Anthropologie leider eine kulturalistische Kehrseite hat: "Auch wenn ihre Befunde als revolutionär gelten - sowohl für die Sozialwissenschaften als auch für das allgemeine Publikum - sie legten doch die Basis für einen neuen, linksliberalen Rassismus, der mehr auf kulturelle als auf physiologischen Differenzen basierte."

Magazinrundschau vom 28.04.2020 - New York Review of Books

Aleksandr Deineka: Donbass, 1947


Fürs neue Heft besuchte Sopie Pinkham eine Schau über den Sowjetrealismus in der Manege Central Exibition Hall in St. Petersburg. Sie war zugleich zentrale Ausstellung des 8. Internationalen Kulturforums St. Petersburg 2019, wo sie als Fußball-Wettkampf zweier bedeutender Sowjet-Künstler aus rivalisierenden Städten inszeniert wurde: des in Moskau lebenden Malers Aleksandr Deineka und seines weniger bekannten Leningrader Kontrahenten Aleksandr Samokhvalov (hier gibt es eine 3D-Tour durch die Ausstellung). Beide waren gemäßigt modern und hatten damit Erfolg im stalinistischen Russland, aber auch im Westen, erzählt Pinkham. Deineka war in den USA 1934 durch die Wanderausstellung "The Art of Soviet Russia" bekannt geworden: "Die figurativen Tendenzen der Ausstellung kamen gut an in einem Land, in dem die Kunst jener Zeit figurativer und weniger abstrakt war als in Westeuropa. Die Thematik war angenehm vertraut: Ein Besucher soll zustimmend bemerkt haben, dass ein Gemälde von Eisenbahnhöfen 'von einer Einheit des Clubs der Ingenieure von Baltimore gemalt worden sein könnte'. Vanity Fair beauftragte Deineka, nach Lake Placid zu reisen, wo er eine Skisprungszene zeichnete, die als Titelbild für die Zeitschrift diente. (Das Titelbild und die Skizzen von Lake Placid wurden in der Manege gezeigt). Deineka wurde auch in Westeuropa gelobt. Während seine Arbeit für einige seiner eifrigeren Kollegen zu Hause nicht annähernd ideologisch genug war, verstanden und bewunderten die Europäer seinen gedämpften Modernismus und seinen relativ subtilen politischen Inhalt. Matisse bezeichnete Deineka 1934 als 'den talentiertesten' und 'den fortschrittlichsten' aller jungen sowjetischen Künstler. Seine Werke wurden in ganz Europa gezeigt und für wertvolle Devisen verkauft. Rivalen warfen ihm bald wieder Formalismus vor - auch in 'Die Verteidigung Petrograds' (1928), das bereits zu einem sowjetischen Klassiker geworden war -, aber es gelang ihm, die Angriffe abzuschütteln. Er wich den Säuberungen aus, die viele seiner Künstlerkollegen und sogar seine erste Frau, die Künstlerin Pavla Freiburg, die kurz nach ihrer Verhaftung starb, zu Fall brachten."

Weitere Artikel: Susan Tallman besucht zwei New Yorker Gerhard-Richter-Ausstellungen: im Met Breuer und in der Marian Goodman Gallery. Matthew Aucoin schreibt über drei Operninszenierungen: Aribert Reimanns "Lear" in Paris, Manfred Trojahns "Orest" in Wien und Chaya Czernowins "Heart Chamber" an der Deutschen Oper Berlin. Leslie Jamison sah die Ausstellung "Private Lives - Public Spaces" im Museum of Modern Art. Und Joan Acocella sah noch eine Vorstellung von "The White Helicopter", das Alvis Hermanis zusammen mit Mikhail Baryshnikov am Neuen Riga Theater im lettischen Riga inszenierte.

Magazinrundschau vom 07.04.2020 - New York Review of Books

Ed Park bespricht einen Roman des amerikanisch-koreanischen Autors Younghill Kang mit dem langweiligsten Titel der Welt: "East Goes West", aber dahinter verbirgt sich laut Park ein Spaßfeuerwerk, Erscheinungsjahr 1937: "Der jugendliche Chungpa Han kommt allein von Korea nach New York City, zwei Empfehlungsschreiben, vier Dollar und das Gefühl neu zu beginnen in der Tasche (er stellt fest, dass das koreanische Wort für Boot und Schoß das gleiche ist). Er preist Manhattan als 'magische Stadt auf dem Fels, aber ohne Bodenhaftung, nervös, voll mit jungen, dürren, prächtigen Dingen, hoch wie tausend Häuser, abseits von Natur, geschmückt mit Diamanten aus gefrorenen elektrischen Phänomenen, mechanischer Brutkasten, aus dem er selbst steigen wird.' Die Beschreibung geht praktisch in Flammen auf und erinnert an Kerouac. Der bloße Anblick der Stadt bewegt seine Seele, weil sie die Apotheose des Maschinenzeitalters darstellt, das Gegenteil seiner Heimat , die sich gegen den Wandel stellte."

Außerdem: Jason Farago stellt Caleb Crains zweiten Roman "Overthrow" vor, der junge Idealisten von Occupy-Wallstreet ins Zentrum rückt. Nadja Spiegelman liest Virginie Despentes' "Vernon Subutex". Und Rae Armantrout steuert das Gedicht "The Steps" bei.

Magazinrundschau vom 24.03.2020 - New York Review of Books

Es ist eine jener typischen Kritiken aus der New York Review, fair bis in die Zehenspitzen, immer darauf aus, vor den Einwänden das Positive zu benennen. Und Tim Wu, Erfinder der "Netzneutralität", eines Grundbegriffs der digitalen Ära, Rechtsprofessor an der Columbia-Universität und Autor einiger wichtiger Bücher über die Digitalisierung, bespricht Shoshana Zuboffs Buch "The Age of Surveillance Capitalism", und er findet einiges Wichtige darin, das wichtigste im Titel selbst: "Überwachungskapitalismus" sei eine wahrhaft geniale Prägung. Zuboff sieht die Internetnutzer als Versuchskaninchen in einem gigantischen behaviouristischen Experiment, das darauf abzielt, unser Verhalten zu manipulieren. Wu kann Zuboff weithin zustimmen, wenn sie den allumfassenden Zugriff von Google, Facebook und anderen Plattformkonzernen auf die Daten der Nutzer kritisiert, allerdings kann er ihr nicht folgen, wenn sie Google als das Böse an sich sieht: Nach all ihren Argumenten, so Wu, "bleibt eine harte Frage: wie wichtig ist das überhaupt? Haben Google und Facebook als Beeinflusser unseres Verhaltens tatsächlich eine größere Durchschlagskraft auf uns als traditionelle Werbekonzerne oder andere Einflussquellen? Dem Marlboro Man, der 1954 debütierte, schrieb man eine Steigerung der Zigarettenverkäufe um 3.000 Prozent zu, nachdem die Zigarette zunächst als Frauenmarke vermarktet worden war (Slogan: 'Mild wie der Mai'). Und wie sollen wir den Einfluss Googles gegenüber dem eines Mediums wie Fox News bemessen, der der traditionellen Propagandaformel folgt? Kann der Einfluss von Plattformen tatsächlich mit früheren Formen der Propaganda verglichen werden, die etwa die Deutschen hinter Hitler versammelte?" Nun ja, der Hinweis auf China, das den Überwachungskapitalismus mit dem Totalitarismus verbindet, kommt in Wus Kritik auch - es wird aber nicht ganz klar, ob auch Zuboff zu dem Thema etwas sagt.

Coco Fusco stellt zwei kubanische Romane vor, die zeigen, wie sehr sich das Leben auf Kuba in den letzten zwanzig Jahren verändert hat, nicht zuletzt wegen der digitalen Technologien, die auch dazu beigetragen haben, die alten Antagonismen zwischen linken Revolutionären und ihren hartleibigen Gegnern aufzulösen. Heute lässt sich niemand mehr vorschreiben, was er auf Facebook, Youtube oder Whatsapp zu sagen hat: "Zwei im vergangenen Jahr veröffentlichte Romane, Carlos Manuel Álvarez' 'The Fallen' und Enrique Del Riscos 'Turcos en la niebla' (Die Orientierungslosen), sind Beispiele für diese Entschlossenheit. 'The Fallen' wurde von Frank Wynne mit großer Präzision ins Englische übersetzt. Del Riscos Roman ist noch nicht übersetzt, aber er sollte es sein, wenn auch nur, um Kubaphile, die kein Spanisch sprechen, dazu zu ermutigen, nicht mehr von Che Guevara und Fidel zu fantasieren und zur Kenntnis zu nehmen, wie die gegenwärtige amerikanische und kubanische Politik das Leben der Kubaner prägt. Diese Schriftsteller sind nicht nur kritisch gegenüber ihren Ältesten und der Welt, die sie geschaffen haben, sondern blicken auch ziemlich ironisch auf die scheinheilige Haltung der Gegner der kubanischen Regierung und die verwirrende Selbstgefälligkeit ihrer Landsleute. Obwohl beide Autoren das Gefühl vermitteln, dass die Revolution gescheitert ist, halten sie sich nicht mit Ursachenforschung oder Schuldzuweisungen auf, sondern widmen sich den Mühen und Selbsttäuschungen der einfachen Kubaner."

Außerdem in der NYRB: Anne Enright, Madeleine Schwartz, Joshua Hunt, Anna Badkhen, Lauren Groff und andere Autoren berichten in kurzen Briefen von ihren Erfahrungen mit der Pandemie. Fintan O'Toole nutzt Bernie Sanders' Memoiren zu einem umfassenden Porträt des Politikers. Janet Malcolm verliert sich in einem Foto, das Erinnerungen an eine frühe Liebe wachruft. Luc Sante liest Essays von Glenn O'Brien. Und Ethan Bronner liest zwei Bücher zum Stand der Beziehungen zwischen amerikanischen und israelischen Juden.

Magazinrundschau vom 10.03.2020 - New York Review of Books

In der aktuellen Ausgabe widmet sich Helen Epstein sehr eingehend einem Buch der Ökonomen Anne Case und Angus Deaton ("Deaths of Despair and the Future of Capitalism"). Die Autoren nehmen sich der Zehntausenden Toten an, die neuerdings für eine fallende Lebenserwartung in den USA sorgen - weiße Erwachsene ohne Bachelorabschluss: "Seit den frühen 1990ern ist die Todesrate bei den 45-54-jährigen weißen US-Amerikanern mit BA um 40 Prozent gefallen, bei denen ohne BA stieg sie um 25 Prozent … Die Autoren zeigen, wie die Krise sich, beginnend mit den Babyboomern über die Generationen entwickelte … Wachsende ökonomische Unsicherheit ist eine der Hauptursachen … Menschen ohne BA müssen mit schlecht bezahlten Service-Jobs vorliebnehmen, ohne Gesundheits- oder Altersvorsorge. Das Ende der Gewerkschaften bedeutet, dass diese Leute quasi keine Verhandlungsmacht besitzen. Einer von fünf Arbeitern unterliegt der Wettbewerbsverbotsklausel, sodass er nicht mal von einem Job als Hamburger-Brater zum nächsten wechseln darf … Andrew Cherlin und Timothy Nelson interviewten Dutzende Männer ohne BA, die meisten wechselten von einem aussichtslosen Job zum nächsten. Einer flog als Redaktionsassistent bei einer Lokalzeitung raus, als Stellen gestrichen wurden. Er wurde Parkplatzwächter, aber dann durch einen Automaten ersetzt. Danach arbeitete er für eine Catering-Firma, doch die ging leider pleite. Diese Instabilität spiegelt sich auch im Privatleben solcher Menschen wieder  … Laut Cherlin gehören amerikanische Familien zu den am wenigsten stabilen weltweit, was wieder für die häufig auftretenden Entwicklungsstörungen bei Kindern in den USA verantwortlich sein dürfte."

Magazinrundschau vom 25.02.2020 - New York Review of Books

In der aktuellen Ausgabe des Magazins macht sich Lili Loofbourow Gedanken über das Genre des posttraumatischen Romans und was es können sollte: "Wonach ich mich als Leserin sehne, ist eine Literatur, die über die Zeugenaussage vor Gericht und sentimentale Appelle hinausgeht und eine posttraumatische Zukunft eröffnet. Wie sieht das Dasein Überlebender aus, die ihre Verletzungen preisgeben mussten und den Täter verurteilt sehen - und auch, dass sich nicht allzu viel ändert. Mich interessiert ihre Sicht der Dinge und wie die Dinge ihrer Meinung nach sein sollten. Es gibt Chanel Millers Sachbuch 'Know My Name' und in der Belletristik Miriam Toews' 'Women Talking' und Rachel Clines 'The Question Authority'. Beide Romane sind fiktionale Bearbeitungen wirklicher Geschehnisse, beide vermischen die lähmenden Formeln, die wir aus Missbrauchsgeschichten kennen, und beide weiten sich in Subjektivitäten, die, wenngleich nicht immer hoffnungsvoll oder klar, so doch singulär und aus unserer Welt sind … Wenn Me Too der Vorwurf gemacht wird, mit zu breitem Pinsel zu malen, kommt es mir vor, als wenn Empörung und Differenzierung schwer zusammengehen, weil sie einander ausschließen. Diese Beeinträchtigung ergibt ein falsches Bild. In der Auseinandersetzung mit sexuellem Fehlverhalten tendiert unsere kampfbereite Gesellschaft dazu, die eine Seite in ein unvorstellbares Monster zu verwandeln und die andere in ein Opfer, dessen Zukunft schlicht nicht denkbar ist. So ein Muster hat ernste formale und erzählerische Mängel. Es gibt dem breiten Spektrum an Reaktionsmöglichkeiten auf Missbrauch und seine Enthüllung keinen Raum, ein Spektrum, das Verzweiflung und Ambivalenz beinhalten kann, Wut, Trauer, Erstarrung, Leugnung und sogar Hoffnung."

Eine Ausstellung zum Comickünstler und Erfinder Rube Goldberg und ein Buch erinnern Art Spiegelman an alte Zeiten, als Comics noch für Kinder waren: "Jetzt, wo Comics lange Hosen angezogen haben und mit den Erwachsenen herumstolzieren, indem sie sich Graphic Novels nennen, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass Comics ihre Wurzeln in subversiver Freude und Unsinn haben. Zum ersten Mal in der Geschichte der Form beginnt der Comic eine Geschichte zu haben. Attraktiv gestaltete Sammlungen von 'Little Nemo', 'Krazy Kat', 'Thimble Theater', 'Barnaby', 'Pogo', 'Peanuts' und so vielen anderen - alle mit intelligenter historischer Wertschätzung - finden ihren Weg in Bibliotheken. Paul Tumey, der Comic-Historiker, der vor sieben Jahren das Buch 'The Art of Rube Goldberg' mit herausgegeben hat, hat kürzlich eine faszinierende und exzentrische Ergänzung zu den wachsenden Regalen der Comic-Geschichte zusammengestellt. Die Zukunft der Comics liegt in der Vergangenheit, und Tumey macht eine heldenhafte Arbeit, indem er in 'Screwball!' ein neues Licht auf die verborgenen Ecken dieser Vergangenheit wirft: Die Cartoonisten, die die Witze witzig machten. Es ist ein aufwendiges Bilderbuch mit über sechshundert Comics, Zeichnungen und Fotos, von denen viele seit ihrer vierundzwanzigstündigen Lebenszeit in Zeitungen vor etwa einem Jahrhundert nicht mehr gesehen wurden."

Und hier ein klassischer Goldberg von 1924:



Weitere Artikel: Caroline Fraser sieht die demokratische Präsidentschaftskandidatin Elizabeth Warren in der Falle. Bill Kibben gibt uns nur noch wenig Zeit im Kampf gegen die Klimaerwärmung. Charles Petersen liest sich durch einen Stapel Bücher, der sich mit der Ausbeutung des akademischen Personals dort befasst. Und Ruth Franklin taucht ein in den kosmischen Katechismus der Kinderbuchautorin Madeleine L'Engle.

Magazinrundschau vom 11.02.2020 - New York Review of Books

Ein schrankenloser Glaube an Markt und Technologie hat den Niedergang des Journalismus bewirkt, glaubt Nicholas Lemann, der frühere Leiter der Columbia Journalism School. Die Werbepreise sind in den USA von 7.000 auf 20 Dollar gestürzt, die Werbeeinnahmen von 45 auf 18 Millarden gefallen und 60 Prozent weniger RedakteurInnen werden beschäftigt werden. Nach der Lektüre der einschlägigen Bücher von Jill Abramson bis Alan Rusbridger nimmt Lemann alte und neue Finanzierungsmodelle unter die Lupe: "Während der durch üppige Werbung finanzierten Goldenen Jahre neigte der Journalismus, wie Matthew Pressman darlegt, zu einem konsumorientierten Lifestyle-Journalismus. Ein von den eigenen Lesern finanzierter Internet-Journalismus rückt den redaktionellen Inhalt in eine stärker ideologisch ausgerichtete Richtung, eine die eher bestätigt als herausfordert, was die eigene Leserschaft bereits denkt. So macht es auch das Kabelfernsehen. Die Schwäche der großen regulierten Fernsehanstalten ist ihr exzessiv nüchterner, auf die Mitte ausgerichteter und entschieden unkontroverser Journalismus. Von Wohltätern und Stiftungen unterstützter Journalismus neigt zu einer Fokussierung auf Themen, die wohlhabenden Philanthropen wichtig sind - mehr Klimawandel und weniger Arbeiterorganisation - und dazu, direkte politische Ergebnisse zu erbringen, wies es Journalismus eigentlich nicht leisten kann." Was bleibt also? "Es gibt eine andere Möglichkeit, den Journalismus zu retten und wie alle anderen ist sie nicht perfekt: direkte staatliche Unterstützung."

Noch nie gingen die Welten in der Mode so weit auseinander, beobachtet Cintra Wilson beim Blättern durch die Modezeitschriften: Das neue Schick liegt nicht mehr leicht über dem, was man sich leisten kann, es liegt jenseits unserer Vorstellungskraft: "Es herrscht Geheimhaltung. Die extrem Reichen haben sich selbst von jenen Zirkeln entfernt, zu denen sie lange gehörten. Superplutokraten sind mit ihren gepanzerten Privatsphären, Firewalls und atombombensicheren Fluhgzeugen noch weiter emporgestiegen, in das Mysterium und die Unbegreifbarkeit des Göttlichen." Das Gewissen der Mittelklasse leidet derweil an der Fast Fashion, was Wilson absolut verständlich findet angesichts der Umweltbelastungen der schnellen Billigmode, die ihr Dana Thomas mit ihrem Buch "Fashionopolis" vor Augen führt. Aber Modeverleih, wie Thomas empfiehlt, sei keine Lösung: "Sie fällt damit einer gewissen Kurzichtigkeit der Mittelklasse zum Opfer. Leihen statt zu kaufen, ist vielleicht ein vielversprechender Schritt bei der Entwöhnung von fataler Modesucht, aber genau so unbefriedigend wie das Zurückholen von Arbeitsplätzen in die von Nafta verheerten Gegenden zu schlechteren Bedingungen. Das Leihen von Kleidung macht nur Sinn, wenn man komfortabel über der Armutsgrenze lebt. Wer weniger Glück hat, ist auf Läden wie H&M oder Zara angewiesen, um stylish auszusehen, bei einem Budget, das nach vierzig Jahren Lohndumping übrig ist."

Außerdem übernimmt die NYRB einen Essay von Zadie Smith aus dem Ausstellungskatalog zu Kara Walkers großer Ausstellung in der Londoner Tate, in dem sie das Verhältnis der Künstlerin zur Geschichte beleuchtet. Michael Gorra liest Samuel Mosers Susan-Sontag-Biografie.