Magazinrundschau - Archiv

London Review of Books

517 Presseschau-Absätze - Seite 4 von 52

Magazinrundschau vom 09.05.2023 - London Review of Books

Andrew Cockburn reist durch Georgien, wo die Zivilgesellschaft gegen den moskautreuen Kurs der Regierung unter dem Oligarchen Bidzina Iwanischwili opponiert, ohne sich den Fall des im Gefängnis sitzenden, immer wieder irrlichternden Michail Saakaschwili zu eigen zu machen. Cockburns Blick auf den Machtkampf zwischen den beiden wirkt denn auch recht abgeklärt: "Kurioserweise braucht Iwanischwili den Mann, den er von der Macht verdrängt hat, um über die von ihm kontrollierte Partei Georgischer Traum seine eigene Herrschaft fortzusetzen. Nach seiner Abwahl und einer Phase komfortabler Arbeitslosigkeit in einem gehobenen Viertel von Brooklyn fand Saakaschwili eine neue Heimat: 2015 machte ihn Petro Poroschenko, damals Präsident der Ukraine und Freund aus Studienzeiten, zum ukrainischen Staatsbürger und ernannte ihn zum Gouverneur von Odessa. Doch die beiden zerstritten sich bald. Saakaschwili begann, gegen seinen ehemaligen Verbündeten zu hetzen, und beschimpfte ihn als Quell der ukrainischen Korruption. Ein wütender Poroschenko entzog ihm seine neue Staatsbürgerschaft und beschuldigte ihn, korrupte Geschäfte mit russischen 'kriminellen Elementen' zu machen. Er wurde von der Polizei von einem Dach gezerrt, wo er damit gedroht hatte, sich das Leben zu nehmen. Als Wolodimir Selenski 2019 Präsident wurde, sah Saakaschwili die Chance für eine Rückkehr an die Macht in Georgien. Selenskis Regierung gehören Vertraute Saakaschwilis aus seiner ehemaligen georgischen Regierung an, und im Oktober 2021 schmuggelte er sich mit ihrer Unterstützung in einem Kühlwagen zurück nach Georgien. Er rechnete offensichtlich damit, von der Bevölkerung begrüßt zu werden, doch er wurde nach wenigen Tage verhaftet, vor Gericht gestellt und für Skandale während seiner Regierungszeit verurteilt. Seitdem sitzt er im Gefängnis, aber eine gut finanzierte Kampagne in Washington stellt ihn als Opfer eines von Putin inszenierten Komplotts dar. Auf die Frage, ob man sich nicht den Ärger ersparen könnte und Saakaschwili einfach in ein Flugzeug setzen, antworten georgische Beamte, dass man ihnen niemals verzeihen würde, wenn sie einen zu Recht verurteilten Verbrecher freilassen würden. Wahrscheinlich treffender ist, dass er für das Regime ein äußerst nützliches Faustpfand darstellt, das daran erinnern soll, dass die Alternative zu seiner Herrschaft eine Rückkehr zur Korruption der alten Zeiten ist. Und die internationale Unterstützung für Saakaschwili untermauert die Botschaft des Regimes, dass der Westen plant, Georgien in den Ukraine-Krieg hineinzuziehen."

Magazinrundschau vom 18.04.2023 - London Review of Books

James Meek sieht sich auf den einschlägigen Telegram-Kanälen all die Video-Clips an, die von ukrainischen oder russischen Soldaten hochgeladen werden und die für ihn eine ganz neue Form von Information darstellen: message news. Die Aufnahmen von brennenden Hubschraubern oder Panzerkolonnen unter Beschuss sind subjektiv und agitatorisch, aber viel substanzieller als reine Propaganda. "Diese Videos sind weder körnig, noch verwackelt oder undeutlich. Sie wurden auch nicht, wie die meisten Kampfaufnahmen in früheren Kriegen, aus einem eingeschränkten Blickwinkel auf dem Boden gedreht oder bei Nacht, das Ereignis in der Ferne verwirrend verschwommen. Es handelt sich um hochauflösende Panoramabilder im Breitbildformat, bei Tageslicht mit einer Drohne aufgenommen wurden. Alle etablierten Nachrichtenagenturen haben diese Videos aufgegriffen. Für Zivilisten meiner Generation sehen sie geradezu filmisch aus, wie Luftaufnahmen aus einem High-Budget-Epos. Aber sie haben auch ein Merkmal von Videospielen, nämlich die gottgleiche Perspektive, sie können das sehen, was direkt vor ihnen liegt, aber auch die Konfliktarena von oben betrachten. Eine Möglichkeit, die Kommandanten, geschweige denn einfache Soldaten, in der Vergangenheit nicht hatten. Dank handelsüblicher Drohnen haben sie die jetzt." Manche Videos sind aber auch so erschütternd, schreibt Meek, dass sie von beiden Seiten gleichermaßen geteilt werden. Der Clip eines russischen Soldaten zeigt seine Einheit unter heftigem Granatenbeschuss an der Schwelle des Todes: "'Das ist mein Panzer, der brennt', berichtet der Videoautor. In etwa dreißig Minuten wird die Munition in die Luft gehen. Ein großes Hallo an alle, live von der Front. Hier seht ihr aus erster Hand, was los ist. Das ist die Stadt der Fotzen, aber wir setzen sie unter Druck, scheiß drauf. Ruhm sei Russland.'"

Der indische Oligarch Gautam Adani, der selbst dann noch von Jo Johnson, Jared Kushner und Benjamin Netanjahu hofiert wurde, als sich sein Imperium in Luft aufgelöst hatte, ist nicht der einzige, der seine Nähe zu Premier Narendra Modi in Geld verwandeln konnte. In einem für ihn typischen Rundumschlag zürnt Pankaj Mishra gegen die indische Elite und ihre Kostgänger in West und Ost: "Die Zahl der Inder, die hungrig schlafen gehen, stieg von 190 Millionen im Jahr 2018 auf 350 Millionen im Jahr 2022; fast zwei Drittel der Kinder unter fünf Jahren, die im vorigen Jahr starben, fielen Unter- und Mangelernährung zum Opfer. Gleichzeitig ging es Modis Höflingen prächtig. Der Economist schätzt, dass der Anteil der Milliardäre in Indien, die ihren Reichtum der Vetternwirtschaft verdanken, innerhalb von sechs Jahren von 29 Prozent auf 43 Prozent gestiegen ist. Einem aktuellen Oxfam-Bericht zufolge besaß das reichste Prozent Indiens im Jahr 2021 mehr als 40,5 Prozent des gesamten Reichtums - eine Zahl, an die die berüchtigten Oligarchien in Russland und Lateinamerika nicht annähernd heranreichen. Die neue indische Plutokratie verdankt ihren rasanten Aufstieg Modi, und dieser hat unverhohlen klargestellt, welche Gegenleistung er erwartet. Im Rahmen des von ihm 2017 eingeführten Systems der 'Wahlanleihen' kann jedes Unternehmen oder jede Interessengruppe seiner Partei unbegrenzte Geldsummen zukommen lassen, wobei die Transaktion vor der öffentlichen Kontrolle verborgen bleibt."

Magazinrundschau vom 28.03.2023 - London Review of Books

Schiffe auszuflaggen ist gängige Praxis, lernt Laleh Khalili aus zwei neuen Büchern über verwaiste Seeleute: Dabei wird ein Schiff in einem anderen Land wie etwa Panama oder Honduras registriert, um Steuern zu sparen und arbeitsrechtliche Bestimmungen zu umgehen. Für die Reedereien sehr praktisch, entbindet sie das doch oft auch von der Verpflichtung, sich um ihre Besatzung zu kümmern, wenn eine Pandemie sie an Bord festkettet - sie macht die Seeleute zu Verantwortlichen für das Schiff, anstatt sich selbst zu kümmern. Diese Schattenseiten bekam der Syrer Muhammad Aisha zu spüren, der jahrelang von den ägyptischen Hafenbehörden als einziger auf einem Schiff festgehalten wurde mit der Begründung "unbezahlter Löhnen, unzulänglicher Bestimmungen, unmenschlicher Bedingungen, ausgelaufener Verträgen. Der Besitzer teilt der Crew mit, er habe kein Geld, sie zu bezahlen oder zu ersetzen. Die indischen Besatzungsmitglieder haben eine Gebühr bezahlt, um überhaupt angestellt zu werden. Der zuständige indische Agent ist nicht aufzuspüren, der Besitzer des Schiffs reagiert nicht. Die vorherige Crew wurde auch nicht bezahlt. Das Schiff wird von drei Gläubigern festgehalten.' Die Familien der ägyptischen und indischen Crew-Mitglieder haben sie vom Schiff freigekauft, aber einer muss Verantwortung für das Schiff übernehmen, die ägyptischen Gerichte bestimmten dazu Aisha. Er ist verpflichtet, auf einem Schiff ohne Treibstoff, ohne Elektrizität, Essen oder Wasser zu bleiben, alle paar Tage kann er kurz an Land kommen, um das Nötigste abzuholen und sein Handy zu laden. Zu dem Zeitpunkt als die Ever Given im Suez-Kanal feststeckte, hatte er schon fast vier Jahre auf der Aman gelebt und litt unter Mangelernährung, Anämie und Depressionen. Erst durch die mediale Aufmerksamkeit, die nach dem Ever-Given-Desaster auch auf die Aman übergeschlagen ist, hat sich die ägyptische Regierung bereit erklärt, ihn freizulassen und er hat das Schiff im April 2021 verlassen können. Der verwaiste Schiffsrumpf liegt nach wie vor dort vor Anker."
Stichwörter: Seerecht

Magazinrundschau vom 21.03.2023 - London Review of Books

Sehr schön schreibt Ian Penman über Charles Baudelaire, dessen Poesie jeden feingeistigen Jugendlichen betört, auch wenn er - anders als der ewig junge Rimbaud - nie das Bild eines queeren Pans abgab, sondern zart, sinnlich und grob zugleich, das eines "frühgealterten Dandy mit Wasserschaden": "Seit fünfzig Jahren ist Baudelaire Teil meines Lebens. Er gehört nicht zu den Figuren, die in der Jugend wie verrückt verehrt und später als peinlich abgetan werden. Er verblasst eher wie alte Tinte und ist dann plötzlich wieder da und spricht weiter. Offensichtlich ist ein gewisses hypnotisches Stehvermögen im Spiel. In meiner Jugend gehörte er zur Pflichtlektüre. Ich sehe noch die Penguin-Anthologie von Mitte der 1970er Jahre vor mir, die ich wie einen Talisman mit mir herumtrug: parallel englische und französische Texte, auf dem Cover Carlos Schwabes Gemälde 'Spleen et Idéal'. OK, ich gestehe: Ich stand auf den Baudelaire-Mythos, obwohl ich die Poesie nie ganz verstanden habe. Ich erinnere mich, dass mich das ganze 'Oh Muse!'-Gesäusel abschreckte, das mehr Dachbodenmuff als Großstadtneon verströmte. Er wurde zum ersten Modernisten erklärt, aber er fühlte sich nicht so 'modern' an wie Rilke, Jarry oder Apollinaire. (Ganz zu schweigen von anderen Teenie-Darlings wie Charlie Parker und William Burroughs, Frank O'Hara und Andy Warhol). Er fühlte sich wie ein wahrer Dichter an, der in den Windungen von Kirche und Satan, Bösem und Schönem, Sünde und Verdammnis ringt. Was für einen mürrischen, halbkatholischen Heranwachsenden weiß Gott durchaus seinen Reiz hatte. Aber Baudelaire, der Dichter, schien eher der Ära eines Napoleons zu Pferde anzugehören als den Futuristen in Flugzeugen oder den Blues-Musikern, die den Greyhound-Bus nehmen. Erst in jüngster Zeit, dank des Chansonniers Léo Ferré (der Baudelaire-Vertonungen drei Alben gewidmet hat), macht die Poesie endlich Sinn, als etwas, das laut deklamiert wird. Liest man sie als trockenes englisches Gedicht auf dem Papier, wird sie nur schwer lebendig. Gehört als eine Störung in der Luft, ist sie verführerisch und schwindelerregend. Das wollüstige Lied eines säuerlichen Romantikers."

Und hier kann man Ferré hören:

Stichwörter: Baudelaire, Charles, Queer

Magazinrundschau vom 14.03.2023 - London Review of Books

Dirigieren ist Macht: Der maestro kristallisiert die für ihn stimmende Bedeutung der Musik, ihre Essenz, heraus und hält die Fäden der Interpretation in der Hand, lernt Nicolas Spice nicht nur von Tár, bei den Oscars am Wochenende leer ausgegangen, sondern auch von den Erfahrungen der britischen Dirigentin Alice Farnham, "In Good Hands", und Wagners neu ins Englische übersetzten Essays übers Dirigieren: Den Löwenanteil der Arbeit erbringen die Instrumentalisten, die eigentlich wissen, dass sie auch ohne Leitung gute Ergebnisse erzielen können. Diese heimst aber letzten Endes die Lorbeeren ein. Ein feines Balancieren zwischen Macht und Ohnmacht zeichnet diese Rolle aus: "Gegenüber einer Gruppe der besten Musiker der Welt hat man nur einen kleinen Rahmen, innerhalb dessen man sich ihren Respekt verschaffen kann. Über der ersten Probe steht immer die Frage: 'Was denkst du, wer du bist?' Man muss zeigen, dass das eigene Gehör überragend ist, dass die Einsichten apart und profiliert sind, dass der Rhythmus stimmt, dass man in der Lage ist, musikalisch aufsehenerregende Resultate in kürzester Probenzeit aus komplexen Stücken herauszuholen. Man sollte nur dann sprechen, wenn man wirklich etwas zu sagen hast (einem berühmten Dirigenten, neu bei den Wiener Philharmonikern, wurde gesagt 'jedes Wort ist ein Nagel in deinem Sarg'), und alles, was man sagt, muss schon an der Gestik abzulesen sein."

John Lanchester liest Chris Millers Geschichte des Mikrochips und ihm eröffnet sich damit eine Erzählung von sublimer Technologie und ökonomischer Kriegsführung: Nur eine niederländische Firma, ASML, beherrscht überhaupt das Verfahren, Silizium mithilfe ultravioletter Lithografie auf die Chips zu ätzen, nur Intel, TSCM und Samsung können Hochleistungschips herstellen. Das von Präsident Joe Biden verhängte Exportverbot trifft China hart, denn einen Kalten Krieg haben die USA mithilfe der Mikrochips schon gewonnen: "Die Sowjetunion verfügte über mehr Männer und Material, so dass die USA sich darauf verlegten, diese Vorteile durch überlegene Technologie auszugleichen: Sie haben mehr Männer und mehr Material, aber unsere Waffen treffen das Ziel - das war die Idee, und das erste Mal konnte man sie im Golfkrieg 1991 in der Praxis sehen. Dieser erste erstaunliche Schwall von Bomben und Marschflugkörpern beim Angriff auf Bagdad, den niemand, der ihn live im Fernsehen verfolgt hat, je vergessen wird, beruhte auf einer enormen technologischen Überlegenheit, die wiederum auf dem allgegenwärtigen Mikrochip beruhte. Wie Miller es ausdrückt, 'war der Kalte Krieg vorbei; das Silicon Valley hatte gewonnen'. Das wäre nicht passiert, wenn die Sowjetunion in der Lage gewesen wäre, mit der amerikanischen Chipproduktion gleichzuziehen. Dass ihr dies nicht gelang, lag zum Teil daran, dass die Sowjetunion seit William Shockleys erstem Durchbruch auf Industriespionage angewiesen war, um mit den USA Schritt zu halten. Eine ganze Abteilung des KGB war auf das Stehlen und Kopieren von US-Chips spezialisiert. Das Problem war, dass die Fortschritte in der Mikrochip-Industrie so rasant waren, dass man, wenn man einen bestehenden Chip erfolgreich kopiert hatte, weit hinter dem Stand der Technik zurücklag. Gordon Moore hatte vorausgesagt, dass sich die Leistung von Chips alle achtzehn Monate verdoppeln oder ihr Preis halbieren würde, und obwohl es sich dabei nicht um ein Gesetz, sondern um eine Vorhersage handelte, bewahrheitete sie sich. Das Mooresche Gesetz verlieh der Chipindustrie einen besonderen Charakter. Nichts anderes, was die Menschheit je erfunden oder geschaffen hat, verdoppelt seine Leistung kontinuierlich alle achtzehn Monate. Dies war das Ergebnis eines unerbittlichen, fanatischen technischen Einfallsreichtums." Zum Vergleich: Im Vietnamkrieg brauchten die USA noch 638 Bomben, um die Thanh-Hoa-Brücke einmal zu treffen.

Magazinrundschau vom 07.03.2023 - London Review of Books

Nach der unverhohlen fingierten Wahl von Bola Ahmed Tinubu zum neuen Präsidenten von Nigeria macht sich Adewale Maja-Pearce wenig Hoffnung für die Zukunft des Landes, das jetzt von einem Schurken regiert werde, wie Maja-Pearce erklärt: "Tinubu behauptet, ein Nachfahre des erfolgreichsten einheimischen Sklavenhändlers im Lagos des 19. Jahrhunderts zu sein, nach dem ein prominenter Platz in der Innenstadt benannt ist (es sagt etwas über unser verzerrtes Geschichtsbewusstsein aus, dass noch niemand vorgeschlagen hat, ihn umzubenennen). Er behauptet auch, siebzig Jahre alt zu sein, und doch feierte sein erstes Kind, Folasade, vor zwei Jahren ihren sechzigsten Geburtstag mit dem ganzen Trara eines selbstbewussten Yoruba-Chiefs (Heute behauptet sie, 46 Jahre alt zu sein; ihre Wikipedia-Seite wurde seither mindestens dreimal geändert) ... Wir wissen allerdings, dass er eine Menge Geld hat, das meiste davon aus seiner Zeit als Gouverneur des Bundesstaates Lagos. Zu seinem Vermögen gehört ein fabelhaftes Immobilienportfolio - er dürfte nach der Bundesregierung der größte Grundbesitzer des Landes sein -, aber auch der Anteil von zehn Prozent an allen Steuereinnahmen von Lagos, die von einem Unternehmen, Alpha Beta Consulting, erhoben werden, das bei seinem Amtsantritt 1999 registriert wurde. Obwohl er 2007 nach den obligatorischen zwei Amtszeiten aus dem Amt schied, hat ihm das Unternehmen im Jahr 2021 schätzungsweise 176 Millionen Dollar eingebracht."
Stichwörter: Nigeria, Innenstadt

Magazinrundschau vom 28.02.2023 - London Review of Books

Als William Davies aufhörte zu twittern, dachte er zunächst, ihm ginge etwas verloren. Jetzt fühlt er sich eher wie ein glücklicher Aussteiger. Denn inzwischen lebt eine ganze Ökonomie davon, permanent Reaktionen zu provozieren, zu messen und für sich zu nutzen, egal ob Soziale Netzwerke, Influencer oder Onlinehändler. In der Reaktionsökonomie spielt die Autonomie des menschlichen Geistes keine Rolle mehr, fürchtet Davies: "Als Akademiker weiß ich nur zu gut, welche Mühen die Universitäten auf sich nehmen, um ihre Studenten dazu zu bringen, im Rahmen der nationalen Studentenumfrage Feedback zu geben. Negative Rückmeldungen sind natürlich ein Grund zur Sorge, aber die eigentliche Angst ist, dass die Studenten überhaupt nicht an der Umfrage teilnehmen: Wenn eine Universitätsabteilung die Mindestschwelle nicht erreicht, wird sie aus den Ranglisten verschwinden. In ähnlicher Weise besteht die Angst der Online-Influencer nicht vor negativen Reaktionen, sondern darin, dass das 'Engagement' sinkt. In einem kybernetischen Kontext ist die Person oder Organisation, die kein Feedback erhält, nicht mehr in der Lage, sich zu verändern oder weiterzuentwickeln. Sie ist im Grunde tot. Der Begriff 'Kybernetik' leitet sich vom griechischen kybernetes ab, dem Steuermann eines Schiffes. Die Kybernetiker beschäftigt, wie komplexe Systeme -  Gehirne, Organisationen, Insektenschwärme oder Computernetze - unter Kontrolle gebracht werden. Wenn man das herausgefunden hat, stellt sich die Frage, wie sie auf ein bestimmtes Ziel hin gelenkt werden können. Für Kybernetiker ist Feedback die Information, die dem Steuermann sagt, wie er sein Verhalten in einer bestimmten Weise anpassen muss, um sein Ziel besser zu erreichen. Die Gefahr besteht jedoch darin, dass wir uns in unserer verzweifelten Jagd nach Feedback und unserem Bedürfnis, anderen Feedback zu geben, in Richtungen lenken lassen, denen wir nicht zugestimmt haben und die wir vielleicht auch nicht wollen. Dies erinnert an die Ängste vor Werbung, PR und Propaganda aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, mit dem Unterschied, dass wir uns heute, im Zeitalter der Reaktionsketten, zu Kontroversen, absurden öffentlichen Spektakeln, endlos mutierenden Memen, Trollen und so weiter hingezogen fühlen. Bei diesen Feedback-Duschen liegt der Reiz in der schieren Menge an Reaktionen, die in Umlauf gebracht werden. Rückkopplungsmechanismen, die von den Kybernetikern als Instrumente zur Erreichung von Autonomie und zur Erleichterung der Navigation angesehen wurden, erweisen sich als Falle."

Weiteres: James Butler untersucht die Krise im britischen Pflegesystem, das in zehn Jahren Austeritätspolitik, Privatisierung und Kapitalabfluss heruntergewirtschaftet wurde.
Stichwörter: Soziale Medien, Influencer

Magazinrundschau vom 14.02.2023 - London Review of Books

Ein langes Porträt widmet der Historiker Adam Shatz dem abenteuerlich-turbulenten Leben des großen Passfälschers Adolpho Kaminsky, das allzu oft auf seine Fälschertätigkeiten zu Zeiten der Résistance reduziert werde, wie Schatz bedauert. Er macht es dann auch anders und geht - von Algerien über Lateinamerika bis zu Daniel Cohn-Bendit - die verschiedenen Stationen ab, an denen Kaminsky Freiheits- und Oppositionsbewegungen unterstützt hat. Dabei lehnte er es ab, sich für Aktionen gegen Zivilisten vereinnahmen zu lassen, wie Shatz betont, der Kaminskys kompromisslos humanistisches Engagement hochhält: "Als sein Fälschungstalent unter den Gruppierungen der Résistance zunehmend die Runde macht, nimmt seine Werkstatt in der Rue des Saints-Pères bis zu fünfhundert Aufträge die Woche an, aus Paris, aus der freien Zone im Süden Frankreichs, aus London. In einem besonderen Fall berichtet sein Mitstreiter Marc Hamon, alias Pinguin, davon, dass eine Razzia jüdischer Häuser unmittelbar bevorsteht und innerhalb von drei Tagen Papiere für dreihundert jüdische Kinder benötigt werden. Insgesamt neunhundert Dokumente, es scheint unmöglich. Aber Kaminsky rechnet aus, dass er dreißig Dokumente die Stunde anfertigen kann und weigert sich zu schlafen, bis er sie alle fertig gestellt hat: Nur eine Stunde Schlaf, überlegt er, bedeutet für dreißig Menschen den Tod. Einer seiner Kollegen erinnert ihn: 'Wir brauchen einen Fälscher, Adolpho, keinen weiteren Toten.'"

Literaturtheoretiker Terry Eagleton denkt in einer Rezension von Peter Brooks' "Seduced by Story: The Use and Abuse of Narrative" über den Begriff des Narrativen und die Narration als grundlegende Struktur nach. Eagleton stört sich an der Verwässerung des Begriffs, der in viele Disziplinen und auch in den Alltagsgebrauch eingezogen ist. Und Brooks traue dem Konzept auch viel zu viel zu: "Brooks' zufolge ist eine der wertvollsten Funktionen fiktionaler Narrative, dass sie Mitgefühl mit anderen erzeugen können. Mit unserer Vorstellungskraft könnten wir unser Erleben auf Menschen projizieren, die uns ansonsten undurchschaubar blieben und die Literatur könne uns zeigen, wie das geht. Fiktionalität sei das Gegengift zum Egoismus, sie lasse uns die Welt mit fremden Augen sehen. Im echten Leben ist unsere vermeintliche Unergründlichkeit für Andere damit aber überschätzt. Wir sind sprachlich-kommunikative Wesen, wir können mittels der Sprache jederzeit Einblicke in uns fremde innere Empfindungen erhalten."

Weiteres: James Wolcott verfolgt mit Andrew Kritzman die Zersetzung des Rudy Giuliani. Bee Wilson sieht Paul Newman in die blauen Augen.

Magazinrundschau vom 31.01.2023 - London Review of Books

Nach drei Staatsstreichen scheint Mali unregierbar geworden zu sein. Die Militärjunta dient sich Russland an und verhöhnt den Westen. Rahmane Idrissa will das westafrikanische Land dennoch nicht aufgeben: "So wie die Verherrlichung der malischen Demokratie durch den Westen übertrieben war, so könnte es auch die derzeitige Enttäuschung darüber sein", meint er. "2021 führte das Büros des Niederländischen Instituts für Mehrparteiendemokratie in Bamako eine anspruchsvolle landesweite Umfrage durch und schloss dabei auch viele von Dschihadisten kontrollierte Gebiete ein, um die Einstellungen zur Demokratie zu untersuchen. Ich bekam eine Zusammenfassung der Ergebnisse. In der Umfrage wird Mali in 'Kulturregionen' unterteilt, definiert durch Geschichte und Geografie - ein besseres Modell als ethnische Zugehörigkeit. In jeder Region stellte das Institut eine weit verbreitete Abneigung gegen die repräsentative Demokratie und ihr Prinzip 'ein Mensch, eine Stimme' fest. Mein erster Gedanke war, dass sich hier eine reaktionäre Ansicht zeigte, die auf dem Glauben beruhte, dass einige Stimmen mehr zählen sollten als andere. Doch tatsächlich ergibt 'ein Mensch, eine Stimme' für Malier keinen Sinn, weil damit der Glaube einhergeht, dass die Mehrheitsmeinung der einzige Weg ist, in einer komplexen, heterogenen Gesellschaft über schwierige Fragen der Gerechtigkeit und Macht zu entscheiden. Der Grundsatz der Gerechtigkeit in den alten Sahel-Regimen, auch wenn er oft genug verletzt wird, lautet, dass jeder etwas bekommen muss und niemand mit leeren Händen dastehen darf. Die hartnäckigste Kritik an der Wahldemokratie in der Region - nicht nur in Mali, sondern auch in Niger und Burkina - besteht darin, dass sie zu Ausgrenzung führt und die Unterlegenen von jeglicher Teilhabe an Wohltaten oder den Entscheidungen ausschließt, während die Gewinner sich über den Sieg von 'notre régime, notre pouvoir' freuen. Im Westen sind die Herrschaft der Mehrheit und das Ritual des gnädigen Eingestehens der Niederlage Teil der politischen Kultur (oder waren es früher). Für die Menschen im Sahel sind sie ein Rezept für Konflikt und Spaltung."

Ausführlich beschäftigt sich Jonathan Rée mit Leben und Denken des Erzliberalen Friedrich Hayek, dem Bruce Caldwell und Hansjoerg Klausinger eine zweiteilige und offenbar sehr instruktive Biografie widmen. Am Ende seines Lebens habe der verbitterte Hayek Reagan, Thatcher und Pinochet nahegestanden, räumt Rée ein, aber er sei nie so ein Fundamentalist des Marktes gewesen wie Ludwig Mises oder Milton Friedman, das hätten schon seine frühen britischen Gegner in den vierziger Jahren falsch eingeschätzt: "'Der Weg zur Knechtschaft' wurde nicht von vielen gelesen, aber seine schärfsten Argumente - dass Sozialisten besessen seien von 'zentraler Lenkung aller wirtschaftlichen Aktivitäten nach einem einzigen Plan' und dass sie 'Totalitaristen' seien, die die liberalen Grundlagen der 'westlichen Zivilisation' zerstören wollten - waren bald berüchtigt, und sein Autor ('der schreckliche Dr. Hayek', wie Isaiah Berlin ihn nannte) wurde weithin als Verletzung eines wohlmeinenden nationalen Konsenses angesehen. George Orwell lobte Hayek für den Mut, 'unmodisch' zu sein, zeigte sich aber ansonsten unbeeindruckt. Wir wissen bereits, so Orwell, dass der Kollektivismus nicht von Natur aus demokratisch ist'; aber wir wüssten auch, dass der Laissez-faire-Kapitalismus 'eine Tyrannei beinhaltet, die wahrscheinlich schlimmer, weil unverantwortlicher ist als die des Staates'. Hätte Orwell den 'Weg zur Knechtschaft' genauer gelesen, hätte er vielleicht mehr Sympathien gehabt. Ihm wäre in erster Linie aufgefallen, dass Hayek ein 'dogmatisches Laissez-faire' ablehnt... Er hätte sicherlich auch Hayeks Unterstützung für staatliche Interventionen begrüßt, die darauf abzielen, 'Mobilität' zu fördern, 'Chancenungleichheit' zu verringern und sogar 'Wissen und Information' zu verbreiten. Orwell hätte vielleicht auch anerkannt, dass Hayek darauf achtete, seine sozialistischen Gegner mit gewissenhafter Höflichkeit anzusprechen, indem er nicht von Bosheit oder Torheit sprach, sondern von der 'Tragödie', die einträte, wenn wir 'unwissentlich das genaue Gegenteil von dem produzieren, was wir anstreben'. (Der Sozialismus, sagte er, 'kann nur mit Methoden verwirklicht werden, die die meisten Sozialisten missbilligen'). Hayek machte auch die bemerkenswerte Beobachtung, dass ein Land, das sich den Sozialismus zu eigen macht, zumindest in dem Maße, in dem es all seinen Bürgern das Recht auf einen komfortablen 'Lebensstandard' einräumt, wahrscheinlich einem fremdenfeindlichen Nationalismus erliegt."

Magazinrundschau vom 17.01.2023 - London Review of Books

Deborah Friedell liest zwei Bücher über die amerikanische Starreporterin Dorothy Thompsons, die als eiserne Nazi-Gegnerin Hitler interviewte und jahrelang den Kriegseintritt der USA propagagierte, um am Ende ihre Sympathien für Deutschland zu entdecken und ihren Aversionen gegen Juden freien Lauf zu lassen - "wie ein gestrandetes Schiff, wenn die Wasser zurückgegangen sind". Doch 1934 war sie die berühmteste, meistgelesene - dank ihrer Kolumne für die Herald Tribune, die weltweit lizensiert wurde - Hitlergegnerin in der englischsprachigen Presse: "Diejenigen, die anderer Meinung waren als sie, waren 'Schwachköpfe', 'Feiglinge' und 'Strauße', 'Architekten des Zynismus', 'die Angst haben, aufzuwachen und zu leben'. Besonders verärgert war sie über den Nationalhelden Charles Lindbergh. Er war ihr 'lieb und teuer' gewesen, als er im Alleingang von New York nach Paris geflogen war; aber er hatte sich an die Spitze von Kundgebungen gesetzt, um das Neutralitätsgesetz gegen die 'britische und die jüdische Rasse' zu verteidigen, die 'unser Land in den Untergang führen' würden. Er war der von Thompson am meisten gefürchtete Amerikaner, 'Amerikas Sorgenkind Nummer eins', der schöne Mann, der, da war sie sich sicher, 'Amerikas Führer' werden wollte (wie er es in Philip Roths Roman 'Das Komplott gegen Amerika' tut). Seine Fans beschuldigten Thompson der Hysterie - die Angriffe gegen sie waren fast immer sexistisch. Eine Bemerkung (die Alice Roosevelt Longworth zugeschrieben wird) lautete, Thompson sei die 'einzige Frau in der Geschichte, die ihre Menopause in der Öffentlichkeit hat und dafür bezahlt wird'. Sie erhielt so viel Post, viele davon Hassbriefe, dass sie ihr mit speziellen Lastwagen zugestellt werden mussten; drei Sekretärinnen, die alle Madeline hießen, halfen ihr beim Sortieren der Briefe und übergaben die bedrohlichsten an das FBI. Vor dem Weißen Haus versuchte eine Gruppe von Frauen, sie symbolisch zu erhängen: Sie sagten, sie seien alle Mütter, und Thompson wolle 'das Leben von einer Million Jungen in Blut und Schmerz opfern'. Senatoren aus Idaho, Montana und North Dakota forderten, gegen sie als 'britische Agentin' zu ermitteln. Wie sonst lasse sich ihre Bemerkung während der Schlacht um Britannien erklären, dass 'wenn die Demokratie in Großbritannien untergeht, dann nicht, weil das britische Volk Hitler nicht mit allem, was es hatte, bekämpft hat, sondern weil ... die größte Demokratie und die größte freie Nation der Welt zugelassen hat, dass sie ohne angemessene Hilfe untergeht'?"