Magazinrundschau - Archiv

La regle du jeu

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Magazinrundschau vom 23.06.2020 - La regle du jeu

Was haben anti-israelische Parolen auf den Demonstrationen gegen Rassismus verloren?, fragt Bernard-Henri Levy erbost. Und warum wurden auf Martinique sogar Denkmäler des Humanisten Victor Schoelcher gestürzt, der für die Abschaffung der Sklaverei in Frankreich gekämpft hatte? "Dass das Vaterland seine großen Menschen ehrt und seine verächtlichen nicht, ist eine Sache, so entsteht eine nationale Erzählung. Aber es ist eine andere, die Geschichte zu revidieren, die gemeinsame Erinnerung zu verfälschen und, wie es in jenen Tage geschehen ist, den großen Gandhi zu einem Rassisten zu machen, den unermesslichen Churchill zu einem Faschisten und den Abolitionisten Victor Schoelcher zu einem Sklavenhalter. Glauben sich diejenigen, die dies tun, bei Orwell? In der letzten Farce des Pére Ubu? Oder sind sie einfach Schweinehunde, die absichtlich die Geste der Taliban aufnehmen, als diese die Buddhas von Bamjan sprengten? Die schöne Revolte , die seit der Ausgangssperre Frankreich erfasst, verdient Besseres als diese finsteren Momente. Sie muss unverzüglich zurückerobert werden von diesen Brandstiftern der Seele, die von der Négritude und ihren Schattierungen so besessen sind, dass sie die Lektion der Brüderlichkeit von Césaire, Senghor, Taubira und Désir vergessen haben. Und gebe es Gott, Jüngere Brüder, dass unter all diesen Erschütterungen die Solidarität nicht zerbricht, die Euch Eure älteren Brüdern vererbt haben."

Magazinrundschau vom 19.05.2020 - La regle du jeu

Diesen Artikel sollten Filmhochschulen für didaktische Zwecke unbedingt übersetzen. Konziser lässt sich der Unterschied zwischen der Ästhetik der modernen Serien, wie sie nach den "Sopranos" entstanden, und dem Autorenfilm französischer (aber auch italienischer und deutscher) Prägung nicht beschreiben, als es der Filmkritiker Jean-François Pigoullié hier tut. Dass er von den Cahiers du Cinéma kommt, merkt man seinen Vorlieben an, aber zum Glück nicht seinem Schreiben, das auf alle Schwurbelei verzichtet. Denn wider Willen und trotz aller Bewunderung für die neuen Formate, die die Arbeitsteilung Hollywoods für das intime Medium des Streaming neu deklinieren, kann er nicht umhin, die Überlegenheit des Cinéma d'Auteur zu verfechten. Es erzählt die Welt nicht, es zeigt sie, es ist die Wahrheit, 24mal die Sekunde. Es lässt die Schauspieler sie selbst sein, schreibt er: "Von allen Symptomen, an denen man den Wert des Spiels messen kann, hat eines der triftigsten mit den Tränen zu tun. Was sieht man, wenn ein Schauspieler oder eine Schauspielerin in einer Serie weint, in den meisten Fällen? Aus dem Auge, das sich nicht erst mit Tränen füllt, rinnt ein Tropfen und läuft das Gesicht entlang, das von keiner tiefen Emotion gezeichnet ist. Zwischen diesen Kinotränen und jenen in den Augen der Kinoheldinnen des Cinéma d'Auteur (die Brüder Dardenne, Kéchiche), ist ein tiefer Kontrast. Selten findet man in Serien Schauspieler, deren Spiel dieselbe emotionale Wucht hat." Fragt sich nur, warum nicht auch Serien mit den Mitteln der Nouvelle Vague entstehen können. ein Beispiel nennt Pigoullié: "P'tit Quinquin" von Bruno Dumont.

Magazinrundschau vom 12.05.2020 - La regle du jeu

Colin van Heezik hat irgendwo in Florida ("wo die Ferienhäuser aussehen wie in der Sonne zerlaufene Kuchen") Ben Ferencz besucht. Ferencz ist heute hundert Jahre alt und macht täglich hundert Kniebeugen. Mit 27 Jahren war er der jüngste Staatsanwalt bei den Nürnberger Prozessen. Im Gespräch erklärt er, wie er entdeckte, was die "Einsatzgruppen" waren: "Aufgabe der Einsatzgruppen war es, jeden Juden, den sie fanden - Mann, Frau, Kind -, zu eliminieren. Ebenso sollten sie mit Sinti und Roma und anderen angeblichen Feinden des Reichs verfahren. Und das haben sie gemacht. Jeden Tag haben sie einen Bericht geschrieben, den sie nach Berlin schickten. Als junger Rechercheur für das Nürnberger Gericht bin ich auf diese Berichte gestoßen. Ich habe meinen Rechenmaschine genommen: 30.000 Morde an diesem Tag, 46.000 am nächsten... Ich habe zusammengezählt. Als ich bei einer Million angekommen war, habe ich mir gesagt, das reicht. Bis dahin war für die Einsatzgruppen kein eigenes Verfahren vorgesehen. Aber ich bin mit meinen Beweisen zu Telford Taylor gegangen, dem von Präsident Truman ernannten Generalstaatsanwalt, und habe ihm gesagt: 'Wir müssen dafür eine eigenes Verfahren einrichten.' Taylor hat gesagt: 'Ok, leg los.' Es war mein erster Fall. Ich hatte vorher nie einen Fuß in einen Gerichtssaal gesetzt!" Ferencz gehörte nach dem Krieg zu den Pionieren, die eine internationale Strafgerichtsbarkeit aufbauten. Überschrift des Gesprächs: "Ich habe keine Zeit zu sterben."

Magazinrundschau vom 14.04.2020 - La regle du jeu

Bernard-Henri Lévy erinnert an zwei Pandemien, die heute vergessen sind, die "asiatische Grippe" von 1957 und die "Hongkong-Grippe" von 1968/69, die weltweit wesentlich mehr Menschenleben kosteten als bisher Covid-19 - und dennoch keineswegs die selbe Reaktion auslösten wie heute: "Diese beiden Präzedenzfälle, die vor Ähnlichkeiten zu den heutigen Ereignissen bersten, offenbaren etwas: Das Spektakel ist entscheidend. Ein Ereignis ist nur 'historisch' und 'verändert die Welt' nur..., wenn die Medien es in ihrer Selbstbesoffenheit so entscheiden." Lévy ist zwiespältig: Einerseits zeige die Reaktion, dass die heutige Öffentlichkeit nicht bereit sei, Tausende von Toten einfach so akzeptieren und das sei "herrlich". Andererseits sieht er die Gefahr der Übertreibung: Wir müssten uns fragen, "ob der gerechte Kampf gegen die Pandemie das schwarze Loch in unseren Köpfen über die Rückkehr des Islamischen Staats im Nahen Osten, die Expansion der russischen und chinesischen Reiche oder das fatale Auseinanderdriften der EU rechtfertigt."

Magazinrundschau vom 31.03.2020 - La regle du jeu

Claude Sitbon zeichnet ein sehr liebevolles Porträt des tunesisch-jüdisch-französischen Autors Albert Memmi, der im Dezember hundert Jahre alt geworden wäre. Der Sohn eines Sattlers aus Tunis nahm an der Dekolonisierung teil und sagte: "Ich habe den Nationalisten geholfen und wusste, dass ich keinen Platz in diesem Abenteuer habe." Memmi war überzeugter Zionist, zog aber das Exil in Paris vor, wo er im Umkreis von Sartres Zeitschrift Les temps modernes publizierte. In seinem letzten Buch, "Porträt eines Kolonisierten" (mehr hier), spricht er über jüdische Identität. Wie komplex Identität war, bevor das grauenhafte 20. Jahrhundert mit seiner ethnischen Bereinigung der Territorien kam, beschreibt Sitbon, indem er Memmis Kindheit schildert: Seine Familie wohnte am Rand des jüdischen Ghettos von Tunis, in Hara. Das war "kein Zufall, sondern zeugte von den Bindungen zu der Gemeinde und zugleich von kommerziellem Interesse. Die Halfter, die sein Vater François mit seinem italienischen Arbeiter Peppino fertigte, verkaufte er an maltesische Kutscher oder Wagenführer in der Stadt Gabès. Seine Frau war Berberin reinster Herkunft, die nur das jüdische Arabisch sprach, während François sich auf Arabisch, Maltesisch, Italienisch und ein wenig auf Französisch verständigen konnte. Der Duft des Leders, die jüdischen und arabischen Handwerker, die Familien- und Sprachtraditionen waren für Memmi eine Quelle der Inspiration und Reflexion." Memmi war ein früher Theoretiker des Rassismus. Die Wikipedia zitiert eine Definition, die den heutigen Antirassismus aus seinen intellektuellen Sackgassen führen könnte: "Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver biologischer Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der eine Aggression gerechtfertigt werden soll." Einige Bücher Memmis wurden von den sechziger bis achtziger Jahren übersetzt - vielleicht Zeit für ein paar Neuauflagen oder Übersetzungen?

Magazinrundschau vom 03.03.2020 - La regle du jeu

Für Paris Match (nachgedruckt in La Règle du Jeu) hat Bernard-Henri Lévy die Front des russisch-ukrainischen Kriegs besucht - auf der ukrainischen Seite, natürlich. Es ist nicht so, schreibt er, dass dieser Krieg nicht immer noch Tote produziert. Dennoch hat die Szenerie, die er beschreibt, etwas Gespenstisches. Über die Front ganz im Norden, in der Nähe der kleinen Stadt Pisky, unweit von Donezk erzählt er: "Von den paar tausend Seelen, die diese Ansiedlung vor dem Ausbruch des Wahnsinns zählte, sollen nur noch drei Familien übrig sein, die sich in ihren Kellern verschanzt haben. Wenn überhaupt! Der Chef des Patrouillenabschnitts hat sie seit Wochen nicht mehr gesehen. Vielleicht, ruft er lachend aus und zählt an den Fingern ab, gibt es hier niemand Lebendigen mehr außer ihm selbst, den russischen Scharfschützen, die sich einschleichen und nachts durch Infrarotfernrohre zielen, und einigen Dutzend seiner Männer, die sich mit ihren Maschinengewehren in Erde und Eis vergraben haben! Aber selbst sie bleiben für uns unsichtbar. Selbst er, der Kommandant mit dem schwarzen Humor, erscheint uns in diesem irrealen Ort wie gefangen."

Magazinrundschau vom 17.12.2019 - La regle du jeu

In Nigeria findet vor den Augen einer wie stets indifferenten Weltöffentlichkeit ein Morden statt, über das Bernard-Henri Lévy in der Pariser Zeitschrift Paris Match berichtet (online steht sein Text in La Règle du Jeu). Milizen der Fulani, auch Peul genannt, richten - immer mit einem Koran-Vers auf den Lippen - entsetzliche Massaker an Christen des Landes an, besonders im "Mittelgürtel" des Landes, dessen Regionen den Norden vom Süden trennen. Armee und Polizei greifen nicht ein: "'Wer sollte sich darüber wundern', fragt Dalyop Solomon Mwantiri, einer der wenigen Anwälte der Region, die sich für die Opfer einsetzen. Der Generalstab der nigerianischen Armee gehört selbst den Fulani an. In der Verwaltung gibt es starke Gruppen von Fulani. Und Präsident Mohammadu Buhari, diese afrikanische Mischung aus Erdogan und Mohammed Bin Salman, der das Land schon von 1983 bis 85 nach einem Staatstreich regierte und der heute dank der Subventionen aus Ankara, Katar und der Chinesen überlebt, ist selbst ein Fulani."

Magazinrundschau vom 12.11.2019 - La regle du jeu

Aufruf an den Hanser-Verlag oder sonst an alle anderen Verlage: diese Philip-Roth-Erinnerung des New-Yorker-Autors Adam Gopnik ist ein Text von erhabener Leichtigkeit und Tiefe. Er reicht vielleicht nicht ganz für ein Büchlein, aber zusammen mit ein paar älteren Kritiken wird's schon gehen. Man spürt, dass Gopnik sich an seinem Gegenstand vielleicht nicht messen, aber doch zumindest nicht vor ihm versagen wollte. Den Rahmen bildet ein offenbar amerika-typisches Reste-Essen nach Thanksgiving, ein informeller Abend also, wo alles, was man für den Abend zuvor zubereitet hatte, noch viel besser schmeckt und die Unterhaltung viel lockerer ist. Man erfährt vieles in diesem Text, etwa über Roth' Verhältnis zu John Updike, seinen jüdischen Lieblingswitz und was er über Woody Allen dachte (das ist ungerecht, nichts Gutes). Und man erfährt, wie sehr es ihn quälte, den Nobel-Preis nicht erhalten zu haben, den ihm eine sadistische Jury bis zuletzt vorenthielt. In seinen letzten Tagen erfuhr er, dass ein Amerikaner den Nobelpreis erhalten würde. Gopnik und er waren an diesem Abend verabredet. Und nachdem der Name gefallen war - Bob Dylan! -, hatte Gopnik große Angst vor diesem Termin. "Aber ich würde ihn natürlich wahrnehmen, mir blieb ja nichts übrig. Ich stieß die Tür auf. Er hatte sie angelehnt gelassen, weil seine Wirbelsäule ihm zu schaffen machte. Ich begrüßte ihn mit lauter Stimme. 'Adam, antwortete er mir, ich habe eine große Neuigkeit.' 'Ah, was denn?' 'Ich werde in die Rock'nRoll Hall of Fame aufgenommen!' Ich war so überrascht, dass ich lachen musste. Natürlich hatte er diesen Witz vorbereitet… und Stunden später fand er eine Alternative für andere Freunde. 'Ich bin sehr enttäuscht, das muss ich sagen. Ich hatte auf Peter, Paul and Mary gesetzt.'" Hier Teil 2 und Teil 3 des langen Textes.

Magazinrundschau vom 13.08.2019 - La regle du jeu

Der Attentäter von El Paso verfocht die rechtsextreme, übrigens zuerst in Frankreich ausgedachte Verschwörungstheorie des "Bevölkerungsaustauschs". Welch eine bittere Ironie der Geschichte, schreibt David Isaac Haziza, wenn man die Geschichte des Staates Texas betrachtet. Hier hatten zunächst die Spanier die Ureinwohner "ausgetauscht", nach deren Wort für "Freundschaft" Texas bis heute benannt ist. Dann ließen die Spanier zu, dass ein paar versprengte Siedler aus dem Norden hinzuzogen, meist Protestanten. Aber die wurden immer mehr. Und "da sich eine Mehrheit der Texaner den Vereinigten Staaten anschließen wollte und der Expansionismus der letzteren so auf seine Kosten kam, annektierte man 1844 die ephemere Republik von Texas, aus der im folgenden Jahr ein neuer Bundesstaat wurde. Zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko, das sich von seinem Nachbarstaat verraten sah..., war der Krieg unvermeidlich, und dies um so mehr als die Vereinigten Staaten darin das Mittel erblickten, sich weitere mexikanische Territorien einzuverleiben, etwa das vielversprechende Kalifornien."

Magazinrundschau vom 02.07.2019 - La regle du jeu

Die Intervention des Westens im Irak mag ein Desaster gewesen sein, die Nicht-Intervention in Syrien war es um so mehr, auch wenn es niemanden hinter dem Ofen hervorlockt. Der Artikel von Gilles Hertzog über den Krieg der Kurden und Iraker gegen den "Islamischen Staat" ist geeignet, einem die Schamesröte ins Gesicht zu treiben, und sei es nur, weil man es den zumeist kurdischen "Proxies" überließ, Daech zu bekämpfen und ihnen dann wieder einmal nicht die geringste Unterstützung bei ihren Unabhängigkeitsbestrebungen zukommen ließ. Hertzog bezieht sich im übrigen auf die Kritik des französischen Obersts François-Régis Legrier an der "Proxie"-Strategie: "Sein Abschlussbericht zur Mission, der zuerst von der Revue défense nationale publiziert und dann wieder zurückgezogen wurde, hat ihm einen Ordnungsruf und ein Blacklisting der militärischen Obrigkeit eingebracht. Oberst Legrier warf der auf Vorortkämpfern basierenden westlichen Kriegsführung vor, dass sie drei lange Jahre in Anspruch nahm, ohne dass das Kalifat auch nur im geringsten aus dem Territorium zurückgedrängt wurde und dass man den Terroristen also während dieser ganzen langen Zeit Zugriff auf die gequälte Zivilbevölkerung ließ, und schließlich, dass man im Moment der so späten Abschlussoffensive eine unermessliche Zerstörung der von Daech gehaltenen Städte durch die Luft- und Artillerieangriffe zuließ. Denn die Proxies, die vor Ort kämpfenden Einsatzkräfte, hatten nicht die Ausbildung und die Mittel, sie durch Häuserkampf zu erobern, während sich Fremdenlegionäre und ihre britischen und amerikanischen Pendants als kriegerische Profis genau hierfür bestens geeignet hätten. Ergebnis: Mossul und Raqqa sind zu 90 Prozent zerstört. Um von den Tausenden Zivilisten zu schweigen, die nicht durch Daech getötet wurden, sondern weil sie zwischen dem Beschuss beider Seiten in der Falle saßen."