Magazinrundschau - Archiv

Desk Russie

24 Presseschau-Absätze - Seite 2 von 3

Magazinrundschau vom 05.12.2023 - Desk Russie

So irreführend die postkoloniale Sicht auf den Nahostkonflikt ist, so fruchtbar ist sie im Blick auf den anderen aktuellen Krieg - nur dürften Russland und die Ukraine in der Agenda der meisten Postkolonialisten kaum vorgekommen sein, weil die Täter nicht im Westen und die Opfer weiß waren. Mykola Rjabtschuk analysiert die falschen, von Russland geprägten Schemata, in denen viele westliche Historiker, Politologen und Politiker über Osteuropa dachten und denken. Gerade die "politischen Realisten", die im Westen in "Einflusssphären" dachten und viele westliche Politiker sind in ihrer angeblichen Nüchternheit dem Irrationalismus des russischen Imperialismus auf den Leim gegangen: Denn "es handelt sich um einen 'Kulturkrieg', einen Krieg um Geschichte und Identität, der nicht in die Theorie der politischen Realisten passt, die glauben, dass es in den internationalen Beziehungen in erster Linie um die Anhäufung von Macht und Reichtum und um die Stärkung der Sicherheit geht. Sie verfügen über wenig oder gar keine fachliche Expertise zur Ukraine oder zu Russland, geben aber reichlich Ratschläge, wie man den Krieg beenden und eine 'Verhandlungslösung' erreichen kann. Sie sind davon überzeugt, dass alle politischen Akteure rational und kompromissfähig sind, und können einfach nicht davon begreifen, dass einige Führer irrational und paranoid handeln."

Magazinrundschau vom 21.11.2023 - Desk Russie

Der Journalist und Essayist Jean-Francois Bouthors untersucht die Ursprünge der antisemitischen Welle, die seit dem 7. Oktober "die Welt flutet". Wladimir Putin, dem keine Verurteilung des Massakers über die Lippen kam, profitiert sowohl von den grausamen Taten der Hamas als auch von den gespaltenen Reaktionen darauf. Bouthours zeichnet die Geschichte des russischen Engagements für die Sache der Palästinenser nach und zeigt, wie Moskau den Konflikt vor allem instrumentalisierte, um den Westen zu schwächen. Das hat sich bis heute nicht geändert, stellt er fest: "Es scheint als wäre Putin entschlossen, den Brandstifter zu spielen und die Gemüter zu erhitzen. Alles, was die westlichen und insbesondere die europäischen Gesellschaften weiter spaltet, ist ihm recht. Zu diesem Zweck ist ihm jedes Mittel recht, auch die Instrumentalisierung des Antisemitismus und der Emotionen, die er weckt. Soeben wurde bekannt, dass die Davidsterne, die Ende Oktober in Paris und seinen Vororten, in den Departements Hauts-de-Seine und Seine-Saint-Denis mit Schablonen gesprüht wurden, von ausländischen Personen verursacht wurden. Es wurden vier Untersuchungen eingeleitet. Am 27. Oktober wurde ein Paar aus Moldawien festgenommen, und ein weiteres verdächtiges Paar ausländischer Herkunft, dessen Nationalität nicht angegeben wurde, verließ Frankreich überstürzt. Die festgenommenen Personen erklärten, sie hätten im Auftrag eines Russen gehandelt, der sie dafür bezahlt habe. Eine solche Aktion könnte durchaus das Ziel gehabt haben, die Gemüter zu polarisieren. Sie ruft natürlich die Empörung all derer hervor, die von dem Pogrom am 7. Oktober angewidert waren, seien es Juden oder Nichtjuden. Doch während die angekündigte Zahl der Opfer der israelischen Reaktion in Gaza Angst und Schrecken verbreitet - was man verstehen kann, ohne die Verbrechen der Hamas zu billigen -, kann das Auftauchen der Davidsterne an den Wänden an 'sensiblen' Orten (man erinnere sich an die Krawalle, die Anfang des Sommers auf den Tod des jungen Nahel in Nanterre folgten) auch antisemitische Taten unter den Bewohnern von Stadtvierteln mit einem hohen Anteil an Muslimen, mit Migrationshintergrund und mit natürlichen emotionalen Bindungen zu den Ländern des Südens fördern."

Magazinrundschau vom 31.10.2023 - Desk Russie

Der usbekische, in der Ukraine lebende, Journalist und Autor Vladislav Davidzon wirft einen genauen Blick auf die Beziehungen zwischen Israel und Russland aus der Sicht der Ukraine: Die Reaktionen Wladimir Putins nach den Hamas-Angriffen waren äußerst zurückhaltend. Erst eineinhalb Wochen nach den Angriffen meldete sich der russische Präsident bei Benjamin Netanjahu per Telefon, eine Verurteilung der terroristischen Attacken kam ihm nicht über die Lippen. Dabei hatte die israelische Regierung jahrelang darauf geachtet, ein gutes Verhältnis mit dem Kreml zu unterhalten. Nun scheinen "die Karten neu gemischt", schreibt Davidzon. Der israelische Ministerpräsident verfolgte aus sicherheitspolitischen Gründen eine strikte "Politik der Nicht-Einmischung", was Russlands Kriege gegen die Ukraine und in Syrien betraf: "Die ursprüngliche Vereinbarung mit Moskau spiegelte den Wunsch des konfliktscheuen Netanjahu wider, die Israelis aus dem Hexenkessel des syrischen Bürgerkriegs herauszuhalten. Die Positionierung der vorrückenden iranischen Streitkräfte und ihrer Stellvertreter in einiger Entfernung von der israelischen Nordgrenze war eine Folge der Vereinbarung, die festlegte, dass die Iraner nicht entlang der Golanhöhen operieren durften, wobei die Russen de facto als Schiedsrichter fungierten, wer das an Israel angrenzende Gebiet kontrollierte." Lang schon wurde von vielen Seiten bezweifelt, ob sich Israel mit seiner Weigerung, die Ukraine gegen die russischen Invasoren zu unterstützen, nicht "auf die falsche Seite des historischen Flächenbrandes" stelle, meint Davidzon. Nun scheint sich immer mehr zu zeigen, dass Netanjahu auf den falschen Verbündeten setzte: "Bei den technischen Meisterleistungen, die offenbar erforderlich waren, um den milliardenschweren israelischen Zaun zu zerstören, musste zwangsläufig Hilfe aus Russland oder dem Iran in Anspruch genommen werden. Wenn die US-Geheimdienste durch aktive Signale im Libanon oder anderswo vorgewarnt wurden, was im Begriff war zu geschehen, scheint es durchaus möglich, dass auch die Russen von ihren iranischen Verbündeten vorgewarnt wurden. Auch in den Vereinten Nationen hat Moskau Israel in den letzten Wochen nicht unterstützt. Nachdem die Israelis letzte Woche die Flughäfen von Damaskus und Aleppo zerstört hatten, erlaubten die Russen iranischen Militärflügen - die wahrscheinlich Nachschub, Waffen und Militärberater transportieren -, ihre Operationen unter Nutzung eines russischen Militärflugplatzes im Norden Syriens fortzusetzen."

Magazinrundschau vom 24.10.2023 - Desk Russie

Die französische Russland-Expertin Françoise Thom analysiert Putins diesjährige Rede beim politischen Waldai-Forum in Sotschi vom 5. Oktober. Putin lobte in der Rede ausdrücklich die AfD und Gerhard Schröder und wurde im Weiteren programmatisch. Thom vergleicht sie mit der Rede Andrei Schdanows 1947, die endgültig die Kooperation mit den Westalliierten aufkündigte und den Kalten Krieg einläutete. In der Rede preist Putin ein angeblich multipolares Modell der Weltordnung, das laut Thom nur darin besteht, dass jeder Mafiaboss das Territorium der anderen Mafiabosse respektiert. Das Interessante aber ist, wie sich bei Putin Elemente des Postkolonialismus mit Diskursen der extremen Rechten zur Unkenntlichkeit vermischen: "Putin versteht nichts von der westlichen Zivilisation. Aber er hat einen untrüglichen Instinkt dafür, was sie zerstören kann. Er setzt auf Relativismus, der im Westen gerne mit Objektivität verwechselt wird: 'Es gibt viele Zivilisationen, und keine von ihnen ist besser oder schlechter als die andere', verkündet er. Sein Feindbild ist der Universalismus: Dass Regeln, die er nicht selbst definiert hat, für alle gelten sollen, ist für ihn unerträglich. Putin ist ein Outlaw im wahrsten Sinne des Wortes. 'Zivilisation ist kein universelles Konzept, eines für alle - das gibt es nicht', sagt er. Er hegt einen tödlichen Groll gegen Russen, die den zivilisatorischen Vorhof der 'russischen Welt' verlassen, die er als sein Eigentum betrachtet: 'Natürlich ist es verboten, seine Zivilisation zu verraten. Das führt zu allgemeinem Chaos, ist unnatürlich und abstoßend, würde ich sagen'."

Magazinrundschau vom 17.10.2023 - Desk Russie

Wer in Russland und auf Russisch aufgewachsen, trägt den Imperialismus und eine Sprache der Gewalt schon in sich, schreibt Michail Schischkin in einem verzweifelten und düsteren Text. Russland wird diese Tradition der Gewalt kaum abwerfen können. Eine "Entputinisierung" wird es nicht geben: "In abgelegenen russischen Städten werden die Büros der Nato-Kommandeure keine Plakate mit ermordeten ukrainischen Kindern aufhängen, Plakate, auf denen steht: 'Das ist eure Schuld, die Schuld eurer Stadt', wie es die Amerikaner in Deutschland nach dem Krieg getan haben. Auf der russischen Landkarte wird es kein Nürnberg geben. Es wird keine russische Reue geben. Diejenigen, die nach Putin kommen, werden nicht in Butscha, Mariupol, Prag, Budapest, Vilnius oder Tiflis niederknien. so etwas macht ein Zar nicht. Darum wird es auch keinen Marshallplan geben. Aber einen Handschlag mit dem ersten Kremlchef, der dem Westen verspricht, das rostige Atomwaffenarsenal Russlands zu kontrollieren."

Magazinrundschau vom 19.09.2023 - Desk Russie

Der Westen hat es vielleicht noch nicht gemerkt, obwohl er es unbewusst auch gewollt haben könnte. Aber er hat die Ukraine in eine Position manövriert, die zwar nicht einem russischen Sieg auf ganzer Linie gleichkommt, wohl aber einer Situation, die Russland strategisch gelegen kommt, schreibt die Russlandexpertin Françoise Thom in einer großen Analyse über russische Desinformation und Einflusspolitik, die passagenweise wie ein Warnruf klingt: "Die russische Führung glaubt, dass sie die westlichen Führer schon so weit hat, einen Sieg der Ukraine zu verhindern. Noch im Frühjahr schien sie ratlos zu sein, aber dann kam für sie die freudige Überraschung, dass der Westen Kiew nicht mit genügend Waffen ausstattete, um der ukrainischen Armee bei ihrer Gegenoffensive im Sommer den Sieg zu sichern. Nun ist der Moment gekommen, die verständliche Verbitterung der Ukrainer auszunutzen, die mit gefesselten Händen und Füßen gegen einen Gegner kämpfen müssen, dem der Westen das Eskalationsmonopol zugestanden hat. Die Russen können zur zweiten Phase ihrer psychologischen Kriegsführung übergehen, in der sie in der Ukraine das Gefühl des Verrats durch den westlichen 'Partner' schüren, um den Weg für eine politische Krise zu ebnen - und die soll dazu führen, dass in Kiew getarnte Prorussen an die Macht kommen."

In einem zweiten lesenswerten Artikel erklärt der Historiker Mykola Rjabtschuk, wie zäh sich auch im Westen das "imperiale Narrativ" über die russische Geschichte gehalten hat: Wer erinnert sich nicht an Texte berühmter Russlandexperten wie Jörg Baberowski, die schlicht behaupteten, es gebe die Ukraine eigentlich gar nicht. Ähnliche Zitate sind von Dutzenden Großkopferten von Helmut Schmidt bis Günter Verheugen überliefert. Sie übernahmen hier die Erzählungen sowjetischer Historiker und wichtiger Exilrussen, die in diesem Punkt einmütig die "imperiale Erzählung" hochhielten. Nach dem Mauerfall sah man die Ukraine so: "Die De-jure-Unabhängigkeit verschaffte der Ukraine keine De-facto-Unabhängigkeit. Westliche Experten und die internationalen Medien stützten sich noch immer weitgehend auf die 'imperiale Erzählung' (und die aktualisierte russische Propaganda, die sich diese Erzählung zunutze machte) und beschrieben die Ukraine ständig als 'temporäres Phänomen', 'zerklüftetes Land' oder verächtlich als 'unerwünschtes Kind der Perestroika'. Düstere Vorhersagen über eine unvermeidliche Spaltung der Ukraine entlang zahlreicher regionaler, ethnischer, religiöser und anderer Bruchlinien tauchten immer wieder auf und wurden von apokalyptischen und stark übertriebenen Debatten über die atomare Abrüstung der Ukraine begleitet."

Magazinrundschau vom 04.07.2023 - Desk Russie

Cécile Vaissié erzählt in einer Serie über Menschen, die "den Putinismus aufbauten", die abstoßende und faszinierende Geschichte des Michail Lessin, der mal Putins wichtigster Medienmann war, bevor er mit 57 Jahren in einem Washingtoner Hotel - dem Vernehmen nach - so brutal zusammengeschlagen wurde, dass er daran starb. Lessin ist der Erfinder von Russia Today und einer der Medienpioniere Putins: "Lessin soll bereits 1999/2000 die Verbreitung von Putin-Fotos mit nacktem Oberkörper in der russischen Presse gefördert haben, aber ohne sie an die westliche Presse weiterzugeben: 'Putins Sport- und Bizeps-Bilder sind für das Volk und die Dritte Welt bestimmt.' Wieder einmal erfährt man in diesem Artikel, wie früh Putin sein Regime durch Medienzensur und -zentralisierung festigte, und wie früh der Westen hätte reagieren sollen. "Eine ideologische 'Säuberung' beginnt unmittelbar nach Putins Amtsantritt und zielt laut der Journalistin Elena Tregubowa insbesondere auf im Kreml akkreditierte Journalisten ab: Diese werden von 'Putins neuem PR-Team' gesiebt und auch mal aussortiert. Dann beaufsichtigt Lessin die Übernahme des Senders NTW und von Media-Most … Schon damals wird Lessin in seinem engsten Umkreis als 'der Mann mit dem gutmütigen Gesicht eines Kindermörders' bezeichnet." Fortan lernen die russischen Journalisten, über Putin zu reden "wie über einen Toten, entweder gut oder gar nicht." Lessin fällt später in Ungnade und verprasst die von ihm gescheffelten Hunderte von Millionen Dollar in Amerika, wo sein Sohn Anton Filme mit Brad Pitt und Arnold Schwarzenegger produziert. Nach Lessins Tod verkauft sein Sohn eine seiner Hollywood-Villen für 28 Millionen Dollar.

Frühere Teile der Artikelserie widmeten sich dem Fernsehmann Alfred Koch (hier) und dem Politikwissenschaftler Gleb Pawlowski (hier und hier).
Stichwörter: Lessin, Michail

Magazinrundschau vom 16.05.2023 - Desk Russie

Trotz ihrer starken Amerikafixierung spiegeln die europäischen Medien kaum wider, dass es den Streit zwischen Putinisten und Putin-Kritikern auch in Amerika gibt, und dass er angesichts der Figur von Donald Trump und der Tatsache, dass die USA der wichtigste Waffenlieferant der Ukraine sind, erheblich größere Auswirkungen haben kann als hiesige Debatten. Laurence Saint-Gilles liefert einen Überblick über die breite Szene der Putin-Unterstützer in den USA, zu denen ein paar sehr bekannte Namen zählen: "Unter diesen Unterstützern ist es nicht immer leicht, zwischen Einflussagenten mit einer echten Nähe zum russischen Regime und solchen, die aus ideologischer Sympathie handeln, zu unterscheiden. Allerdings sind amerikanische Journalisten aus dem rechten und linken Spektrum, die ihr Renommee in den Dienst des 2005 gestarteten russischen Nachrichtenmediums RT America gestellt haben, wie der ehemalige CNN-Starinterviewer Larry King, Chris Hedges und Ed Schultz, ein Unterstützer von Bernie Sanders, de facto zu offiziellen Propagandisten geworden. Die Tatsache, dass RT Anfang März 2022 aus dem Kabelnetz und von YouTube ausgeschlossen wurde, ist für Russland nur eine kleine Niederlage, denn der Sender war nicht sein größter Propagandasender. Es sind die amerikanischen Medien und Journalisten der nationalistischen Rechten, die diese militante Funktion erfüllen. Seit Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine richten sie sich konsequent nach dem Narrativ Moskaus." Prominente Figuren des braunroten Kontinuums sind auf der Rechten der gerade von Fox gefeuerte Tucker Carlson und auf der (ehemals?) Linken der Blogger Glenn Greenwald, der sich bei Fox gern von Carlson interviewen ließ.

Magazinrundschau vom 28.03.2023 - Desk Russie

Es war eine Gruppe französischer Anwälte, die vor dem Internationalen Strafgerichtshof Klage gegen Wladimir Putin wegen der Verschleppung ukrainischer Kinder erhob. Der Anwalt Emmanuel Daoud erzählt im Gespräch mit Ksenia Tourkova, wie er von der Gruppe "Pour l'Ukraine, pour leur liberté et la nôtre", in der auch Jonathan Littell aktiv ist, auf das Thema gebracht wurde. Die Anwälte konnten die Beweise, die die Russen offen ins Netz gestellt hatten, schnell zusammentragen. Es handelt sich um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit genozidalem Charakter, ist Daoud überzeugt. Auf die Frage, ob er überrascht war, dass der Internationale Strafgerichtshof so schnell einen Haftbefehl erließ, antwortet Daoud: "Ich war davon überzeugt, dass der IStGH angesichts der Schwere der Verbrechen an den ukrainischen Kindern und ihren Familien sehr schnell reagieren musste. Also ja, es ist eine Überraschung im Vergleich zu der Zeit, die der Gerichtshof normalerweise braucht, bevor er internationale Haftbefehle ausstellt. Ja, es ist eine Überraschung, weil es das erste Mal ist, dass ein amtierender Staatschef eines Mitglieds des UN-Sicherheitsrats Ziel einer solchen gerichtlichen Handlung ist. Und nein, es ist keine Überraschung, denn angesichts der Schwere der Taten - es geht um die illegale Verschleppung und Verbringung von Kindern, den schutzbedürftigsten Menschen - musste reagiert werden."

Magazinrundschau vom 08.11.2022 - Desk Russie

Viele Linke glauben der frommen Lüge, dass es kein Hufeisen gebe. Dabei ist an den beiden Enden gerade in Frankreich ein solches Gewimmel, dass sich die Positionen unmöglich trennen lassen. Vincent Laloy erzählt von zwei Beispielen. Von Ségolène Royal, einst der linken Präsidentschaftskandidatin, war auch in Deutschland schon die Rede. Sie ist eine der größten Verteidigerinnen Putins in Frankreich und wurde dafür auch schon von Eric Zemmour gelobt. Ein anderer Kandidat ist Florian Philippot, bei dem man eigentlich nicht weiß, ob er nun links oder rechts ist. Der in Frankreich so tief verinnerlichte Antiamerikanismus ist oft das Bindemittel. "Er engagierte sich zunächst beim Linkspopulisten Chevènement und lobte dessen Projekt, das seiner Meinung nach 2002 von Marine Le Pen dann weiter vorangetrieben wurde, was er zwölf Jahre später bestätigte: 'Der Chevènementismus führt zum Marinismus'. Dieser Befürworter des Austritts sowohl aus der Europäischen Union als auch aus der Nato zögert nicht, im November 2014 an einem Treffen von Mélenchon teilzunehmen sowie im Februar darauf die Partei der radikalen griechischen Linken zu unterstützen. Wer soll sich da noch über seine Verbindung zu Bertrand Dutheil de La Rochère wundern, der nacheinander Kommunist, Chevènementist und schließlich Front National war, wie im Übrigen viele Überläufer aus der stalinistischen Partei oder der extremen Linken?"

André Glucksmann, gestorben vor sieben Jahren, hatte zuletzt in Deutschland nicht mehr viele Freunde. Die Perlentaucher sind stolz, dass sie 2005 und 2006 seine Artikel gegen Putin nachdruckten, in denen er vorm "Petrozar" warnte (hier und hier). Deutsche Verlage übersetzten seine Bücher nicht mehr. Deskrussie bringt als Hommage einen Auszug aus einem Buch von 2011: "Die Überwindung des Sowjetismus läuft nur über zwei Wege, den Weg Havels oder den Weg Milosevics. Der Weg der Demokratisierung ist mühsam und steinig und daher langsam. Der schnellere, kriegerische und terrorisierende, wenn nicht gar terroristische Weg ist der Weg einer autoritären Neugestaltung. Wenn Geheimpolizei, Armee und Nomenklaturisten den Kreml unter sich aufteilen, ist Milosevic ganz nah dran, die Oberhand zu gewinnen. Jedes Mal, wenn der Westen blindlings auf die russische Fata Morgana gesetzt hat, ist er gestolpert und in ein schwarzes Loch gefallen. Man hat Fantasien, deliriert, und der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Europa hat sich an den Rand des Abgrunds gesetzt, als es den Herren des Kremls freie Hand ließ, wer sie auch sein mögen und was sie auch tun mögen, und trägt noch dazu bei, diesen Abgrund zu vertiefen. Noch ist nichts entschieden, aber diejenigen, die uns regieren, schlagen die falsche Richtung ein."