Efeu - Die Kulturrundschau - Archiv

Musik

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Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.06.2024 - Musik

In ihrer Musik und Kunst arbeitet die Band Laibach mit der Ästhetik des Totalitarismus , die sie drastisch überhöht und damit subversiv untergräbt. Im Welt-Gespräch anlässlich der Europatournee denkt Ivan Novak, der Sprecher (aber nicht der Sänger) der Band, dazu passend über Wohl, Wehe und Zukunft der EU nach, die er sich "stark und weise" wünscht und die "in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht vielleicht die Strategie der Blockfreiheit des ehemaligen Jugoslawien übernehmen könnte. ... Historisch gesehen fällt Europa ständig auseinander, und es scheint, als sei das Auseinanderfallen die Art und Weise, wie Europa sich konstituiert. Jedes Mal, wenn es versucht, sich neu zu konstituieren, scheitert es besser und kommt stärker zurück. Diese Entwicklung war in der Vergangenheit sicherlich nicht friedlich und wird es wahrscheinlich auch in Zukunft nicht sein. Aber wir hoffen aufrichtig, dass die Idee eines geeinten Europas gerettet werden kann."

Thomas Bärnthaler ist in der SZ hin und weg vom Album "Diamond Jubilee", das Patrick Flegel unter seinem Künstlernamen Cindy Lee ohne die üblichen Streamingdienste, Labels und CD-Pressungen im Rücken als Youtube-Video samt Downloadlink veröffentlicht hat und das seit einer jubelnden Besprechung auf Pitchfork komplett durch die Decke geht. Diese Musik "ist besitzergreifend wie der Gesang der Sirenen, trotz des durchweg gemächlichen Tempos, und trägt einen weit fort in einen Echoraum, wo verloschene Sounds und Genres des vergangenen Jahrhunderts wiederauferstehen. ... Flegels Nostalgie ist absolut, wirkt aber trotzdem nie kalkuliert oder puristisch. In seinem streng subjektiven Retro-Kosmos darf alles nebeneinander existieren: Sunshine-Pop, New Wave, Sixties-Psychedelia. Dabei ist sein Wildern im Kanon nie bloß Reminiszenz, sondern einer spirituellen Essenz von Pop auf der Spur, einer Sprache der Sehnsucht."



Weitere Artikel: Klaus Walter denkt in der FR darüber nach, ob man gewalttätige Musiker von ihrer Musik trennen sollte. Samir H. Köck plaudert für die Presse mit Marco Wanda über das neue (im Standard besprochene) Album seiner Band. Martin Gropp verabschiedet sich in der FAZ von der Punkband NOFX, die nach über 40 Jahren Bandgeschichte dieser Tage ihre Abschiedskonzerte in Deutschland spielen.

Besprochen werden neue Veröffentlichungen zur Geschichte der Hamburger Schule (taz), ein Auftritt von Olivia Rodrigo (FAZ, FR), das neue Album der Nürnberger Punkband Akne Kid Joe (taz) und das Debütalbum der jamaikanischen Rapperin J Noa (für tazlerin Hannah Möller eine der "wichtigsten neuen Stimmen im Rap").

Stichwörter: Lee, Cindy, Retro, Laibach, Europa

Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.06.2024 - Musik

Wer beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk Geld sparen will, verweist gerne auf die Rundfunkorchester, die man ja wahlweise zusammenlegen, ganz abschaffen oder deren Präsenz im Radio man reduzieren könne. Dabei ist ihr Anteil am großen Topf des Rundfunksystems mit 187 Millionen Euro im Jahr verhältnismäßig gering, hat Axel Brüggemann für Backstage Classical ausgerechnet - und man bekommt dafür einiges: "Die großen Rundfunkorchester spielen viele Konzerte vor Ort, gehörten zu den großen musikalischen Playern ihrer Regionen und sind durchaus dabei, ihre Rolle im Zeitalter der Multimedien neu zu definieren." Etwa das Orchester des Hessischen Rundfunks "meint es ernst, wenn es darum geht, Musik allen Menschen zur Verfügung zu stellen und reagiert mit viel Kraft auf den digitalen Medienwandel. ...  Sender stecken mit ihren Orchestern bereits in der digitalen Erneuerung und interpretieren den einstigen Auftrag, Musik für das Programm einzuspielen, längst neu. Sie verstehen, dass das Radio von gestern das Netz von heute ist - und dass die Legitimation der Rundfunkgebühren auch darin besteht, allen Menschen im Land Musik zugänglich zu machen."

Der SWR wusste bereits im Vorfeld der Berichterstattung davon, dass ein Tenor seines Vokalensembles sich auf Social Media durch Liebesbekundungen an Putin und mit Fotos, auf denen er mit russischer Flagge vor russischen Panzern posiert, hervortut, berichtet Axel Brüggemann auf Backstage Classical. "Dass der Sender nicht handelte, erklärte der SWR damit, dass es sich um 'private Äußerungen auf einem privaten Facebook-Account' gehandelt habe, und dass Alexander Y. in Deutschland das Recht auf Meinungsfreiheit genieße." Pikant dabei: Das SWR-Vokalensemble soll heute unter dem Dirigat von Teodor Currentzis Benjamin Brittens "War Requiem" aufführen, vom SWR als Statement für den Frieden gebrandet. "Ein War Requiem als Kritik am Angriffskrieg Russlands - mit einem Dirigenten, der in Russland mit Gazprom und der VTB-Bank kooperiert und eventuell mit einem Tenor, der auf seiner Facebook-Seite den Sieg Russlands wünscht. Wer soll das verstehen?"

Hartmut Welscher blickt für VAN auf die Reaktionen zu den Vorwürfen, die dem Dirigenten François-Xavier Roth in den letzten zwei Wochen gemacht wurden und die ihn binnen kürzester Zeit über weite Strecken im Klassikbetrieb zu Fall brachten. Dass der Intendant der Kölner Philharmonie, Louwrens Langevoort, weiterhin zu seinem "Freund" Roth stehen will, findet Welscher nicht nur sanft irritierend: "Im Fall Currentzis hatte Langevoort letztes Jahr moralische Kriterien angeführt, als er den griechisch-russischen Dirigenten auslud, weil dieser sich nicht kritisch zu Russlands Angriff auf die Ukraine geäußert habe. ... Da muss die Frage erlaubt sein: Wer entscheidet, wer in der Kölner Philharmonie auftreten darf, die Moral, das Recht, oder der Kölsche Klüngel? In dieser Hinsicht werden die kommenden Wochen auch zeigen, wer in Köln zu welchem Zeitpunkt wie viel wusste, warum die Vorwürfe nicht früher ans Licht kamen und wer möglicherweise geschwiegen oder verschwiegen hat, zum Beispiel, weil im Zweifelsfall das Ansehen und die künstlerische Entwicklung eines Orchesters als wichtiger erachtet wurden."

Weitere Artikel: Die Pianistin Elena Bashkirova, die ab morgen in Berlin das Kammermusikfestival Intonations in Berlin ausrichtet und dafür das Jerusalem Chamber Music Festival in die Stadt holt, findet es "feige", wenn Veranstalter von Konzerten mit israelischen Orchestern diese aus Furcht vor einschlägigem Radau absagen, sagt sie im FAZ-Gespräch: "Ich habe keinen Respekt davor." Mit Sorge betrachtet Merle Krafeld in VAN, dass mit dem durch herben Personalmangel bedingten Dahinsiechen des Musikunterrichts langsam auch "der Boden, auf dem das klassische Musikleben in Deutschland wurzelt, erodiert". Holger Noltze verzweifelt im VAN-Kommentar über jene Teile des Konzertpublikums, die mit Husten, Handyklingeln, Nasepopeln und auf dem Boden zum Rollen gebrachten Flaschen noch jede Aura eines Klassikkonzerts zunichte machen. Für VAN blickt Gunnar Leue auf die Beziehung zwischen Fußball und Klassik. Konstantin Nowotny schreibt im Freitag zur Kartellklage in den USA gegen eine Konzertticketplattform. Christoph Amend schreibt in der Zeit über Madonnas Verhältnis zu ihrem Vater.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.06.2024 - Musik

Standard-Kritiker Ljubiša Tošić lässt sich vom Hype um den Jazz-Saxofonisten Kamasi Washington, der mit "Fearless Movement" gerade ein neues Album veröffentlicht hat, spürbar nicht beeindrucken: Alles gut bei Coltrane abgeschaut, findet er, doch "instrumentaltechnisch kann Washington gerne noch für ein paar Übungsstunden an die Coltrane-Uni zurückkehren. ...  Dafür ist der Wuschelkopf ein wahrer Professor der Selbstinszenierung." Dass Washinghton mit der Geburt seiner Tochter sich der eigenen Sterblich- wie Unsterblichkeit bewusst wurde, nimmt Tošić ihm gerne ab, "die musikalischen Auswirkungen dieser Erkenntnis sind jedoch keinesfalls gewaltig. ... Der Eröffnungstrack 'Lesanu' setzt mit Beschwörungsformeln gebetartig ein. Umwölkt von orchestraler Orgiastik, die in tanzbare Grooves mündet, über denen eine nette Melodie schlurft, hebt der Saxofonist schließlich in expressive Sphären ab. ... Dass er die große Zukunft des Jazz ist, muss Washington allerdings noch beweisen."



Harald Eggebrecht erfreut sich in der SZ am Wohlklang im Spiel des jungen Bratschisten Timothy Ridout, der morgen und übermorgen in München mit den BR-Symphonikern und Simon Rattle zu erleben ist. "In seinen besten Momenten erfasst ihn ein, man kann es nicht anders sagen, romantisches Sehnen, das seinem Spiel noble Leidenschaftlichkeit und wunderbar sprechende Phrasierungsdeutlichkeit verleiht. Ridout vermag zu erzählen, darzustellen, zu charakterisieren und stilistisch zu differenzieren je nach Musik. Also klingt Telemann bei ihm selbstverständlich historisch informiert, aber nie verliert er dabei die Sinnlichkeit seines sich am Register der tiefen Altstimme orientierenden Tons und die Fähigkeit, melodisch und strukturell große Bögen zu spannen. ... Bei Béla Bartóks Viola-Konzert wiederum bleibt er rhythmisch streng und expressiv ohne Larmoyanz." Hier ein Eindruck aus seiner aktuellen CD, eine Hommage an den Bratischisten Lionel Tertis.



Außerdem: Im Podcast von Backstage Classical ärgert sich die Dirigentin Marie Jacquot darüber, dass Dirigentinnen immer noch oft ganz besonders betont als Frau angekündigt werden: "Wir kündigen Christian Thielemann doch auch nicht an mit dem Zusatz, dass da heute ein Mann dirigiert." Der Hamburger Kultur- und Mediensenator Carsten Brosda freut sich in der SZ, dass Jimmy Webb sein erstes Konzert in Deutschland überhaupt in der Hamburger Elbphilharmonie spielen wird.

Besprochen werden die von Oksana Lyniv dirgierte Aufführung von Jevhen Stankovychs "Kaddish Requiem 'Babyn Jar'" durch das Kyiv Symphony Orchestra bei den Wiener Festwochen (FAZ, mehr dazu bereits hier) und ein neuer Song von Eminem (Presse).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.06.2024 - Musik

Bei den Wiener Festwochen hat das Kyiv Symphony Orchestra unter dem Taktstock von Oksana Lyniv Jevhen Stankovychs "Kaddish Requiem 'Babyn Jar'" aufgeführt. Das 2016 uraufgeführte Stück "ist ein tönendes Monument des historischen Grauens", schreibt Ljubiša Tošić im Standard. Von den Musikern verlangt es "Nuanciertheit im Diskreten ebenso wie drängend umgesetzte Dramatik. Hier treten die Schatten der Toten anklagend hervor und begehren nach einem Gericht, das die Frage nach der Verantwortung stellt. ... Was mit artifiziellen Tonband-Einsprengseln von Wagner-Musik begann, mündete in ebenso schwermütigen wie eindringlichen Situationen, in denen Geiger Andrii Murza und das Orchester - rund um Sprecher Kelz - das von Celan in poetische Worte verwandelte Grauen der Menschenvernichtung in düsteren Klang bannten, in dem sicher auch einige Gedanken an das schlummerten, was der Ukraine gerade angetan wird."

Nineties-Klassentreffen in Berlin: Beth Gibbons, die frühere Sängerin von Portishead, gab eines ihrer äußerst seltenen Konzerte. Und es war intensiv, aufwühlend. "Plötzlich ist alles wieder da", schreibt Laura Ewert auf Zeit Online: "Das Versprechen von Zukunft. Die Enge der großen Freiheit. ... Und die Traurigkeit, diese gottverdammte Traurigkeit, die einen von den anderen zu unterscheiden schien. Alles wieder da, als Beth Gibbons die ersten Töne singt. ... Ihre Hände am Mikro verschränkt, die Schultern schmal, der Kopf dazwischen, ihre Haare vor dem Gesicht, das Licht von unten. Da weinen die Ersten schon." Gibbons' "Ton hat seine eigene, himmlische Frequenz und Reiseflughöhe, man hört nicht einmal die Spur der Membranen und Atemwege, durch die er vermutlich hindurchmuss", schreibt Joachim Hentschel in der SZ. "Ihr Gesang klingt, als wäre er gerade eben mit bereits größtmöglicher Schwermut auf die Welt gekommen, ein zeitentrückter Blues mit großem, dunklem Augenaufschlag."

Außerdem: Für die SZ spricht Moritz Baumstieger mit der iranisch-stämmigen israelischen Sängerin Liraz über deren Hoffnung, dass sich Iraner, Araber und Israelis nach dem Ende des Regimes in Teheran und der Hamas in Frieden begegnen können.  Die Welt hat Elmar Krekelers Bericht von seiner Begegnung mit Elena Bashkirova online nachgereicht. Christian Ihle hat fürs taz-Blog dankenswerterweise zusammengetragen und verdichtet, was für Aufregungen, Turbulenzen und Schockatmungen eine NDR-Doku über die "Hamburger Schule" in den letzten Tagen auf Social Media unter damaligen Wortführern, Szenegängern und Journalisten nach sich gezogen hat.
Besprochen werden Lena Kampfs und Daniel Dreppers Buch "Row Zero" über Machtmissbrauch in der Musikbranche (54 Books), ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Andris Nelsons (Standard) und ein Auftritt von Olivia Rodrigo in Berlin (taz),

In der neuen Folge seiner "Clip//Schule ohne Worte" im Logbuch Suhrkamp präsentiert Thomas Meinecke "zehn afrikanische Schallplatten, die ich letzte Woche bei Ketu Records in Marseille erwarb":

Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.06.2024 - Musik

Soll man Gigi d'Agostinos Song "L'Amour toujours" verbieten, nachdem er erst im dumpfen Kirmes-Morast zu einem rassistischen Hetzsong eingedeutscht und dann in dieser Variante via TikTok schließlich von den Idioten von Sylt medienwirksam aufgegriffen wurde? Helmut Mauró hat in der SZ erhebliche Zweifel: "Dann haftet also der Songschreiber für die feindliche Übernahme seines Produkts. In Zeiten reflexartiger Moralapostelei kann das schnell fatale Folgen haben. Zum materiellen Schaden kommt ein kaum abschätzbarer Imageverlust, möglicherweise verbunden mit Absagen von Konzertveranstaltern. Für die Politik ist es kostengünstig und öffentlichkeitswirksam, ein Verbot auszusprechen. Das wirkt entschlossen und suggeriert eine Problemlösung - die aber auch in diesem Fall nichts bewirkt", wie im Fall des Oktoberfests: "Wird man denn dann einen Schritt weitergehen, und wie bei Geisterspielen in Fußballstadien, betroffene Bierzelte räumen lassen auf der Wiesn?"

Weiteres: Gerald Felber berichtet in der FAZ vom Musikfest Prager Frühling. Besprochen werden eine Disney-Doku über die Beach Boys (NZZ) das Konzert von Metallica im österreichischen Ebreichsdorf (Presse, Standard), Olivia Rodrigos Berliner Auftritt (BLZ) und Jlins "Akoma" (FR).
Stichwörter: D'agostino, Gigi, Sylt, Tiktok

Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.06.2024 - Musik

Mathis Raabe bringt auf Zeit Online Hintergründe dazu, dass das US-Justizministerium durchsetzen will, das US-Großveranstalter Live Nation die Plattform Ticketmaster verkauft. Gerald Felber resümiert in der FAZ die ersten Tage des Mozartfests in Würzburg. Elmar Krekler erzählt in der WamS von seinem Treffen mit der russischen Pianistin Elena Bashkirova. Nachdem eine alte Gitarre von John Lennon bei einer Auktion annähernd drei Millionen Dollar erzielt hat, denkt Stephanie Caminada  in der NZZ über die Aura von Stars und deren Hinterlassenschaften nach. In der Welt würdigt Dennis Sand Ferris MC, der nach Deutschrap nun Punkrock macht. Julian Weber erinnert in der taz an die 1982 aufgelöste schottische Postpunk-Band Josef K, die sich nach Kafkas wohl berühmtester Figur benannt hatte: "Die Songs klingen nach Kosakenkaffee und nikotinhaltiger Luft", überdies stößt man hier auf "überzeitliche metaphysische Existenzangst und In-die-Welt-geworfen-Sein". Wir hören rein:

Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.05.2024 - Musik

Der ukrainische Dirigent Vitali Alekseenok organisiert in Charkiw allen russischen Bombardements zum Trotz weiterhin Konzerte. Ort des Geschehens ist ein Bunkerkeller unter dem Opernhaus. Dieses Jahr war es besonders gefährlich: "Ich bin unter Bomben angereist", erzählt er Tomas Avenarius im SZ-Gespräch, "kam eine Stunde nach dem Angriff auf das Druckhaus in Charkiw an. Noch am selben Abend haben wir gespielt. Das hatte etwas Absurdes. Aber es ist enorm wichtig, dass wir auch in dieser Lage musizieren, die ukrainische Kultur pflegen. ... Dass wir für den heutigen Abend ein Orchester mit 50 Musikern zusammenstellen konnten, ist außergewöhnlich in dieser Situation. Es ist das erste Mal seit Kriegsbeginn, dass wir ein so großes Orchester auf die Bühne bringen. Und fast alle sind aus Charkiw, nur einige wenige sind aus Kiew gekommen. Einer hat abgesagt: Er musste zur Armee, in den Krieg. Wir spielen daher ohne Tuba. In ganz Charkiw gibt es keinen weiteren Musiker, der dieses Instrument spielt."

Außerdem: Albrecht Selge berichtet für VAN vom Klavierfestival Berlin. Für die FAZ spricht Robin Passon mit dem Bratschisten Lawrence Power über dessen Arbeitsweise und die Musik von Cassandra Miller. Jeffrey Arlo Brown denkt in VAN mit Kafkas letzter Kurzgeschichte "Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse" über die Kunst des Singens nach. Jakob Thaller porträtiert für den Standard den Salzburger Rapper Young Krillin, der einst den Cloud Rap mit auf den Weg brachte. Lucien Scherrer spricht für die NZZ mit dem Popstar Gigi D'Agostino, dessen Song "L'Amour Toujours" gegen seinen Willen als rechtes Propaganda-Mem eingedeutscht wurde. Mina Brucht liefert in der taz Hintergründe dazu, dass der Leipziger Club Institut für Zukunft schließen muss. Die taz sammelt Stimmen aus der Berliner Szene zum Tod von Monika Döring, die das Berliner Nachtleben seit den Achtzigerjahren prägte. Jürg Zbinden staunt in der NZZ über den durch Social Media befeuerten, internationalen Erfolg von Bodo Wartke und Marti Fischer und ihrem Song "Barbaras Rhabarberbar".

Besprochen werden ein Konzert von Grigory Sokolov in Frankfurt (FR), Ibibio Sound Machines Album "Pull the Robe" (taz), ein Konzert von Eric Plandé Unit mit Musik von Joachim Kühn (FR), zwei von Mirga Gražinytė-Tyla und Marie Jacquot dirigierte Konzerte der Dresdner Staatskapelle in Wien (Standard), ein Auftritt von Mitski in Frankfurt (FR) und ein neues Album von Hermanos Gutiérrez (NZZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.05.2024 - Musik

Im Standard-Gespräch mit der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv geht es noch einmal um den Skandal, dass bei den Wiener Festwochen die von ihr dirigierte Ur-Aufführung von Jevhen Stankovychs "Kaddish Requiem 'Babyn Jar'" mit einem von Teodor Currentzis' dirigiertem Konzert von Benjamin Brittens "War Requiem" gekoppelt werden sollte. Nachdem sie dagegen protestiert hatte, wurde Currentzis' Konzert abgesagt. Von dem Doppelprogramm war sie kurz vor der offiziellen Pressekonferenz informiert worden, sagt sie: "Ich war schockiert. Wir leben ja in der Gegenwart, nicht 20 Jahre nach diesem Krieg, die Bomben fallen jetzt auf unsere Städte, Familien und Kinder werden ermordet. Es kommen die Musikerinnen und Musiker ja aus der Ukraine. Jeder und jede von ihnen ist betroffen, ob man nun jemanden verloren hat, jemanden an der Front hat oder kein Zuhause mehr besitzt. Da sollen wir mit Currentzis zusammengeführt werden, um eine Debatte auszulösen? Das ging nicht. Er ist nicht die Person, mit der ich mich auseinandersetzen möchte. Ich habe persönlich nichts gegen ihn. Ich habe gebeten, diese Konzerte zu entkoppeln, ansonsten würde ich nicht kommen. ... Intendant Milo Rau hat sich entschuldigt, er hat gemeint, es wäre der Versuch einer Friedensutopie gewesen. Das ging nicht."

Spotify geht zu wenig gegen rechtsradikale Musik auf seinem Angebot vor, wirft Thomas Wochnik dem Streamingdienst im Tagesspiegel vor. Insbesondere der Eklat um Gigi D'Agostinos "L'amour toujours" - von Rassisten zu einem rechtsradikalen Propagandasong eingedeutscht - zeige dies an: Wer nach dem Lied suche, lande dank der Kraft der Algorithmen unweigerlich im Rechtsrock-Sumpf. "Der Algorithmus, der den Anblick von 'L'Amour Toujours' neben dem Panzerlied von Kurt Wiehle ganz normal erscheinen lässt, könnte nicht nur manchen Panzerlied-Fan an die Musik D'Agostinos gewöhnen, wenn er ihm nahelegt: Das hören Menschen, die denken wie du. Er könnte auch dem ein oder anderen D'Agostino-Fan das Panzerlied schmackhaft machen.  ... Spotify spielt der Hundepfeifen-Strategie von Rechtsradikalen in die Hände, bei denen es mittlerweile schon fast Tradition ist, popkulturelle Labels für ihre Botschaften zu vereinnahmen, bis diese Labels dann zum Verkünder ebendieser Botschaften werden."

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Auf Backstage Classical antworten Dorothee und Henry C.Brinker auf Thomas Schmitt-Ott, den Orchesterdirektor des Deutschen Symphonieorchesters, der an dieser Stelle über Frauenfeindlichkeit in der Klassik nachgedacht hat. Sein Fazit: Das Patriarchat unterjoche Frauen in der Musik. Dies verdeckt mehr als es erhellt, entgegen die Brinkers: Dabei war es gerade die gescholtene Kirche, die "für die Frauen als musikalische Akteure Spielräume öffentlich-offiziellen Musizierens geschaffen hat, die andernorts so nicht exisitierten. Viele Beispiele finden sich im gerade erschienenen Buch von Arno Lücker '250 Komponistinnen'. Die erste Komponistin notierter Musik: die Nonne Cassia, in Byzanz um 800 eine Meisterin der Gregorianik, bis heute geschätzt. ... Von durchgängiger Frauenfeindlichkeit in der Musikgeschichte zu sprechen, verbietet sich aber auch aus ganz anderen Gründen. Im Digitalen deutschen Frauenarchiv findet sich reiches Material. Der mittelalterliche Minnesang hat es über spätere geistliche und weltliche Madrigale, Motetten und Kantaten-Werke, die Oper, das Kunstlied, Operette und Musical geschafft, die Liebe zur Frau zu dem zentralen Thema der Musik werden zu lassen, bis heute und über alle Sparten."

Außerdem: Zwei Podcasts (einer vom NDR und ab 1. Juni einer von der SZ) arbeiten die MeToo-Kontroverse um Rammstein-Sänger Till Lindemann auf, berichtet Benjamin Knödler im Freitag. Karl Fluch erinnert im Standard an das vor 30 Jahren erschienene Album "Ill Communication" der Beastie Boys. Dem entstammt auch der Hit "Sabotage" und der dazugehörige Musikvideo-Klassiker von Spike Jonze - wobei dieser aus dem "Derrick"-Fundus schöpfende Spoof fast noch toller ist:



Besprochen werden Beth Gibbons' Konzert in Zürich (NZZ) und eine Schönberg-Ausstellung in Wien (Standard).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.05.2024 - Musik

Alina Bzhezhinskas und Tony Kofis zwischen Ambient und Jazz pendelndes Album "Altera Vita" ist Balsam für wunde Seelen, schreibt Yelizaveta Landenberger in der taz. "Die Musik des Duos fühlt sich tatsächlich wie ein anderes Leben an, inmitten globaler Krisen. In den Genuss dieser kontemplativen Sounds kommen zu dürfen und die Aufmerksamkeit auf die schlichte, an keine bestimmte Zeit und Trends gebundene Schönheit des Zusammenspiels aus Harfe und Saxofon zu richten, tut gut." Die beiden Musiker "spielen nicht einfach zusammen, sie treten in einen suchenden Dialog, der in der eigenwilligen Formensprache ihrer Musik die grundlegenden Fragen menschlicher Existenz ergründet. ... Zum Tenorsaxofon von Kofi gesellen sich äußerst dynamische, ihn überlagernde positive Klänge von Bzhezhinskas Harfe, auch Percussion versprüht magischen Drive. Eine wunderbare Symbiose."



Weitere Artikel: Martin Fischer berichtet im Tagesanzeiger von Recherchen, dass offenbar zahlreiche ESC-Teilnehmer - darunter offenbar auch Nemo - planten, aus Protest gegen Israel ihre Teilnahme am Wettbewerb abzusagen. Das Oktoberfest verbietet Gigi D'Agostinos Hit "L'amour toujours", nachdem Idioten ihn zu einem rassistischen Song umgetextet haben, berichtet Jonas Hermann in der NZZ. Frankreich begeistert sich für die Popsängerin Zaho de Sagazan, schreibt Johanna Adorján in der SZ.



Besprochen werden ein Konzert des Ensemble Modern in Frankfurt (FR) und neue Popveröffentlichungen, darunter ein neues Album von Slash mit Coverversionen ("hüftsteif und schreihalsig", winkt Standard-Kritiker Karl Fluch ab).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.05.2024 - Musik

Paavo Järvi hat das Ende von Schostakowitschs Fünfter richtig verstanden, freut sich NZZ-Kritiker Christian Wildhagen nach dem Konzert des Tonhalle-Orchesters: "Bei Dirigenten, die nicht genau hinschauen, klingt das schnell, als wäre Beethoven, der Erfinder solcher Jubelschlüsse, nach Hollywood ausgewandert." Doch "in Wahrheit ist diese Fünfte jedoch ein Kassiber aus der finsteren Zeit des sogenannten Großen Terrors. Järvi macht dementsprechend den Zwang deutlich, unter dem hier gejubelt wird. Schon den zweiten Satz schärft er zur Groteske. ... Im Finale demaskiert Järvi die Musik dann endgültig: Deren kämpferische Rhetorik dröhnt so sinnentleert wie politische Worthülsen, und der Schluss ist nicht nur bedrängend langsam gedreht, er kippt auch um ins Brutale. In den letzten Takten scheinen Pauken und Schlagwerk die Musik selbst regelrecht ins Verstummen zu knüppeln. Das ist radikal, aber von der Partitur gedeckt. Und es stimmt nachdenklich: So gespielt, dürfte dieser Komponist auch in Putins schöner neuer Welt bald auf irgendeinem Index landen."

Ziemlich beeindruckend findet tazler Karl Bruckmaier das argentinische Trio Reynols, das der vom Down-Syndrom betroffene Schlagzeuger Miguel Tomasín mit den Gitarristen Alan Courtis und Roberto Conlazo aufgebaut hat und das es südamerikaweit zu einiger Popularität gebracht hat, jenseits davon aber kaum bekannt ist. "Mit unzähmbarem Größenwahn hat er das Selbstverständnis der aufstrebenden Rocker und Versuchsavantgardisten auf ein Level gebracht, auf dem Sinfonien für 10.000 Hühner möglich wurden, Konzerte, bei denen das Publikum gespielt worden ist oder der Eiffelturm." Die beiden Co-Musiker "genießen es, von Miguel in immer neue grandios verrückte Zusammenhänge gedrängt zu werden; sie lieben seinen Nichtgesang und seine erfundenen Textzeilen in fremdartigster, vertrautester Sprache, seine Anleihen bei Bolero und Schlager; sie vertrauen seinem oft rudimentären Spiel, das plötzlich zu einer Expertise finden kann, die einen staunen lässt. ... Kraut-Gedengel, schmalzgebackener Gesang, Drones, frühe Can oder The Fall? Es ist jedenfalls eine selten gehörte Freiheit, die eine Musik von Reynols antreibt."



Weitere Artikel: Du Pham freut sich in der taz über das Punkfanzine Ostsaarzorn, das noch nach alter Vätte Sitte aus dem Geist der absoluten Unabhängigkeit heraus produziert wird und sich in seiner aktuellen Ausgabe dem Thema "Punk & Jewishness" widmet. Frederik Hanssen porträtiert für den Tagesspiegel Ulrich Eckhardt, Leiter der Berliner Festspiele, als sie wirklich noch glamourös waren, der heute 90 Jahre alt wird.

Besprochen werden Diedrich Diederichsens Essaysammlung "Das 21. Jahrhundert" (FR), zwei Klavierkonzerte von Alexander Krichel und Cheng Zhang (VAN), das Album "Tide" des Quartetts Hilde (FR) sowie das Frankfurter Museumskonzert mit Schönberg und Verdi (FR).