Dieter M. Gräf

westrand

Gedichte
Cover: westrand
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002
ISBN 9783518413456
Gebunden, 158 Seiten, 15,00 EUR

Klappentext

Gräfs dritter Lyrikband führt uns in ferne Gegenden: in die Türkei als Schnittstelle von Europa und Asien, nach Indien, in die Wüste Sinai und schließlich in die westlichste aller Städte nach Los Angeles und in die kalifornische Wüste. Die Spannung zwischen Fremdem und Eigenem ist das Movens dieser Gedichte, die bei allem Ernst nicht der Komik des Slapsticks, des Erotischen und des Faibles für Mediales entbehren. Von den Rändern her gelingen Dieter M. Gräf neue Blickwinkel auf die Mythen des Ablandes. Kaiser Barbarossa, der während des Kreuzzuges im Fluß Saleph ertrank, und Netaj Bose, der mit den Nazis paktierende indische Freiheitskämpfer, können ebenso zusammengedacht werden wie Andreas Baader und Heinrich von Kleist; Diana ist nicht nur Chiffre für die Göttin der Jagd, sondern auch für die gejagte Jet-set-Prinzessin. Immer wieder ruft der Autor deutsche Geschichte auf: Hermannsschlacht, Stalingrad, Auschwitz, RAF, und befragt scheinbare Nebensächlichkeiten nach ihrem Gewicht.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.10.2003

Rezensent Wulf Segebrecht zeigt sich außerordentlich enttäuscht von Dieter M. Gräfs Gedichtband "Westrand". Die Gedichte charakterisiert er als "Montagen" mit "schnellem Wechsel der Redeperspektiven", "Unterbrechungen" und "kalkulierten Lücken und Brüchen". Zusammenhänge würden aufgespalten, deformiert, dekonstruiert. Kurz: "Hier wird gezappt". Auch wenn das für Segebrecht als "berechtigtes Misstrauen" gegen das "herkömmlich Schöne" zulässig ist, wirklich erwärmen kann er sich nicht dafür. Denn den Gedichten fehle nicht nicht der "klingende Reim" oder die "eindrucksvolle Metapher", sondern, wie Segebrecht feststellen muss, "jede emotionale Beteiligung". Statt dessen findet er in ihnen "kryptische Stenogramme", Wortreihungen, Stichwörter, "Satzfragmente und abgehackte Wörter" in Hülle und Fülle. Vor allem stört ihn die politische Indifferenz der Gedichte: Mit postmoderner Gleichgültigkeit zitiert Gräf Autoren, historische Figuren und politische Systeme. "Skandalös" findet er zum Beispiel das Gedicht "R. H.: ich musste (ich durfte nicht)", das ausschließlich aus Zitaten von Rudolf Höss, dem Lagerkommandanten von Auschwitz, besteht und das Höss Aufzeichnungen gewissermaßen "poetische Qualität attestiert".
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 14.12.2002

Diese "vielstimmigen Verse" geben dem Leser einiges zu knacken, gesteht Rezensent Nico Bleutge. Dieter M. Gräf betreibe eine "poetische Geschichtsrecherche", die sich geografisch von Indien über die Türkei und Deutschland bis nach Kalifornien erstrecke. Doch auch die Zeit spielt wohl eine Rolle. Bleutge spricht von genauen Beobachtungen, über die sich Schicht um Schicht Mythenreste, "sinnliche Details" und "Echos der Historie " lagern. Dazu bediene sich Gräf einer "ausgefeilten Technik" aus "Wort- und Frequenzüberlagerungen", "lyrischer Überblendungs- und Schnittkunst" und dem "Zeilensprung". Das wird selbst dem wohlgesonnenen Rezensenten manchmal zu viel. Manches bleibe kryptisch. Aber, meint er, gerade die "Offenheit", die Spurensuche, die dem Leser abgenötigt wird, macht den "Reiz" und die "Intensität" dieser Lyrik aus.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 11.12.2002

Mit verhaltener Begeisterung stellt Hans-Herbert Räkel den jungen Dichter Dieter M. Gräf vor, der zwar in Räkels Augen über eine unbestreitbare poetische Begabung verfügt, aber seinen Wortschöpfungen, Versgebilden eine Art "Störsender" einbaut, welcher die Lektüre dieser "kunst- und absichtsvollen Texte" nicht gerade vereinfacht. Als müsse Gräf ständig darauf hinweisen, dass sein Dichten "nicht die gebundene Rede, sondern die gebrochene" sei, mosert Räkel. Ein prägendes Merkmal von Gräfs Gedichten ist darum auch der harte semantische Eingriff, bei dem Worte mitten im Wort aus ihrem Zusammenhang gerissen werden. Eine weitere Lieblingsbeschäftigung von Gräf scheint das Bearbeiten von Fremdvorlagen zu sein, vorzugsweise politisch angehauchter Texte wie Auszüge aus den Aufzeichnungen des Lagerkommandanten Höss, die sich durch Gräfs poetische Bearbeitung demaskieren, erläutert Räkel. Das führt dazu, dass neben vielen Gedichten auch noch die Quellenhinweise zu studieren sind. Bei manchen dieser Bearbeitungen geht Gräf dann auch der Spieltrieb oder die Eitelkeit durch, stellt der Rezensent fest; wenn Gräf den Bedeutungsüberschüssen freien Lauf lasse statt sie zu kanalisieren, schwäche er die eigentliche Botschaft ab oder setze sie ganz außer Kraft.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 02.10.2002

Ein Gedicht zu bewerten, schreibt Susanne Riedel in ihrer vergnüglich zu lesenden Rezension, sei ungefähr so wie "dem Mond Zensuren zu geben". Und doch sei sie immer auf der Jagd nach der "einen und einzigen gültigen Zeile", die ihr einen Schauer über den Rücken jagt, bekennt sie. Ein Effekt, der sich für sie bei Lyrik selten und bei Prosa so gut wie nie einstellt. Überraschung: Dieter M. Gräfs "Westrand" kommt dem "lyrischen Ernstfall sehr nah", behauptet Riedel. Das liegt ihrer Meinung nach daran, dass Gräf die Konfrontation mit der Wirklichkeit und der Vergangenheit nicht scheut. Teilweise nutze Gräf die Exotik fremder Orte, um mit Distanz Gegenwartsschau zu betreiben, gerät er jedoch in deutsche geschichtsträchtige Gegenden, meint Riedel, so werde er ein Getriebener, dessen Sprache hammerartig zuschlage. Staccato, Attacke, ein Mix aus Slang, Anglizismen, Schlagzeilen, Gestalten, die böse Geschichte gemacht haben: Zwölftonmusik, sagt Riedel dazu. Von der Ernsthaftigkeit dieser Lyrik ist Riedel jedenfalls so beeindruckt, dass sie über einige peinliche Stellen und Knalleffekte hinwegsieht. Dichtung ist sowieso wie Fernsehen, lautet ihre Schlussfolgerung. Wirklich Neues gibt es nicht, aber wirklich Gutes zu entdecken.
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