Christine Angot

Inzest

Roman
Cover: Inzest
Tropen Verlag, Köln 2001
ISBN 9783932170478
Gebunden, 186 Seiten, 16,36 EUR

Klappentext

Aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Colette Demoncey. Die Erzählerin verliebt sich "kraft der Blicke" in eine zehn Jahre ältere Ärztin und stürzt sich drei Monate lang in das Abenteuer einer nicht zu erfüllenden Liebe. Die drei Teile des Romans schildern die kampfartige Liebesgeschichte und den voraussehbaren Bruch mit der Geliebten, den selbstquälerischen Versuch seiner Verarbeitung und erst zum Schluss die inzestuösen Momente der Vorgeschichte der Protagonistin. Mit radikaler Offenheit lässt die Autorin biografische Fakten mit ihrer Fiktion eins werden.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.03.2002

Ingeborg Harms stellt zwei Romane der französischen Autorin Christine Angot vor, die mit "Inzest" in Frankreich große Diskussionen entfachte und im darauffolgenden Roman "Die Stadt verlassen" auch die Publikumsreaktionen verarbeitete.
"Inzest" ist kein Skandal- oder Enthüllungsroman, meint Ingeborg Harms, obwohl oder gerade weil die Autorin sich erst gar nicht um Anonymität der Beteiligten bemüht habe. Diese Offenheit hat ihr die französische Öffentlichkeit übel genommen, weiß die Rezensentin. Für Harms vollzieht die Autorin die "Grenzschleifung" durch den väterlichen Inzest literarisch nach: teilweise fehle die Interpunktion, schreibt sie, eine Art Gedankenbrei ergieße sich in "geradezu hysterischer Direktheit" über die Seiten, sammele und analysiere "emotionale Fakten". Das Mädchen wird von ihrem Vater, den sie vorher nicht gekannt hat, als 14-Jährige verführt. Eine mentale Vergewaltigung, die sich laut Harms in einer mangelnden Fähigkeit zur physischen wie seelischen Grenzziehung ausdrückt. Angot beschreibe diesen Seelenzustand wie ein "Haus ohne Wände", so Harms, in das alles und jeder jederzeit eindringen könne - eine zermürbende Erfahrung, die die Ich-Erzählerin unerbittlich direkt und plastisch schildere und dabei auch vor keinen Peinlichkeiten Halt mache.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 23.06.2001

In einer großen Besprechung setzt sich Thomas Laux mit mehreren Büchern französischer Autorinnen auseinander, die in oft drastischer Weise von der eigenen, weiblichen Sexualität handeln. Es handelt sich hierbei um die Romane "Wölfe fangen" und "Pauline und Claudine" von Virginie Despentes, um Catherine Breillats "Ein Mädchen" und um Christine Angots "Inzest". Zwar stellt er resümierend fest, dass der "literarische Zugewinn" bei all diesen Büchern (vielleicht mit der Ausnahme Breillats) bescheiden ausfalle, doch zeigt schon der Umfang seiner Besprechung, dass ihn die Bücher trotz alledem interessiert haben.
1) Catherine Breillat: "Ein Mädchen"
Breillat, so ruft Laux in Erinnerung, erregte vor zwei Jahren mit ihrem Film "Romance" großes Aufsehen in Frankreich. Ihr Roman "Ein Mädchen" datiert bereits von 1973 und schildert mit einer offensichtlich bis an die Ekelgrenze gehenden Konkretheit die sexuellen Entdeckungen eines pubertierenden Mädchens. Laux gefällt dabei aber die unverstellte Neugierde des jungen Mädchens, die sich im Roman widerzuspiegeln scheint: Auch wenn sich die Perspektive der erwachsenen Erzählerin manchmal in die Sprache der Jugendlichen einzuschleichen scheint, gelingt es Breillat nach Laux doch, "Sexualität als etwas Sinnliches, Erstes oder Neues" erfahrbar zu machen.
2) Virginie Despentes: "Wölfe fangen"
Auch hier steht ein Film im Hintergrund, denn "Wölfe fangen" ist das Buch zu Despentes' in Frankreich auf den Index gesetztem Film "Baise-moi". Laux schildert das Buch (wie den Film) als eine Umdrehung der üblichen Gewaltperspektiven. Hier sind es die Frauen, die ihre Sexualität mit Gewalt verbinden, so dass sich das Buch für Laux wie eine Art Rache an männlicher Pornografie liest: "Mit gleicher Münze wird heimgezahlt."
3) Virginie Despentes: "Pauline und Claudine"
Der zweite Roman Despentes', der von zwei Zwillingsschwestern handelt, stößt eher auf Laux' Gegenliebe, auch wenn er ihm nur einen Absatz widmet. Reine Sexszenen seien relativ selten, um so mehr fällt ihm die Bemühung um Authentizität durch den Jugendslang des Stils auf: Geschildert werde hier eher eine psychologische als eine körperliche Nacktheit.
4) Christine Angot: "Inzest"
Glaubt man Laux, so handelt es sich hier eher um einen Selbsttherapieversuch durch einen Roman als um Literatur im eigentlichen Sinne. Gespiegelt werden die lesbische Episode der Erzählerin mit ihrer Ärztin, in der der Sex zum Heilungsversuch für ein Trauma wird - denn im Hintergrund steht, dass die Erzählerin in ihrer Kindheit von ihrem Vater vergewaltigt wurde. Der Wunsch nach Heilung wird hier nach Laux in "atemlos vorgetragenen Staccato-Sätzen vorgetragen". Was man allerdings nicht erwarten könne - und dies scheint für alle hier besprochenen Romane zu gelten - sei Erotik.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 18.05.2001

Nach Hans-Peter Kunisch gehört dieses Buch nicht zu den stärksten der Autorin, doch lassen sich seiner Ansicht nach nun auch die früheren Romane Angots besser verstehen. Denn auch in diesen ging es, wie der Leser erfährt, oft um Liebe und Gewalt, weshalb die Autorin bisweilen mit Houellebecq verglichen wurde. Angot hat, so Kunisch, keinen Hehl daraus gemacht, dass es sich hierbei um eine weitestgehend autobiografische Geschichte handelt, was den Rezensenten zu der Überlegung veranlasst, ob es sich hier noch um Belletristik handelt. Er selbst registriert bei der Autorin eine "zunehmende Auflösung des Kunstanspruchs": Es gebe keine "geradlinigen Plots", und auch die Sprache findet er chaotisch, wobei er in Letzterem noch eine gewisse Absicht erkennen kann. Für Kunisch steht fest, dass die Autorin dieses Buch auch als "Selbsttherapie" verfasst hat. Zwar geht es Angot seiner Ansicht nach darüber hinaus auch darum, ihre Situation den Lesern zu erläutern. Doch in literarischer Hinsicht kann der Rezensent diesem "leidenschaftlichen, exaltiert-geschwätzigen Bekennertum" nicht viel abgewinnen.
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