9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

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1925 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 193

9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.06.2024 - Ideen

Die mangelnde Prävention einer Klimakatastrophe zieht die Legitimität der Demokratie in Zweifel, ärgert sich Miguel de la Riva in der FAZ: "Was ist von einer Staatsform zu halten, die noch immer zu beweisen hat, dass sie die Lebensgrundlagen bewahren kann? Dass sich Aktivisten vom Erringen von Mehrheiten abwenden und stattdessen Blockadeprotest betreiben oder vor Gericht ziehen, scheint da folgerichtig. Ebenso, dass wie während der Corona-Krise der Verdacht aufkeimt, autoritäre Regime wie China könnten sich der Demokratie beim Klimaschutz überlegen erweisen - eine Aussage, der in einer europaweiten Umfrage 2020 eine knappe Mehrheit junger Menschen und 40 Prozent aller Befragten zustimmten. 2023 hat China mehr Kapazität an erneuerbarer Energie installiert als die neun folgenden Staaten zusammen, allesamt Demokratien: Dass die anderen auch nichts für das Klima tun, war lange ein schlechtes und ist längst ein falsches Argument."

Was die politische Prävention von Naturkatastrophen angeht, drohen wir wieder ins 19. Jahrhundert zurück zu fallen, warnt der Historiker Nicolai Hannig auf Zeit Online: "Der Wunsch, den Himmel zu zähmen, ist im Grunde ein Begleiter der gesamten Vorsorgegeschichte. Man schoss mit Kanonen, injizierte aus Flugzeugen Silberjodid in die Wolken und erarbeitete Vorhersagen mit computerbasierten Simulationen. Heute sind es vor allem Maßnahmen des Strahlungsmanagements und der CO₂-Kontrolle, die das Geoengineering ausmachen. Gemein ist allen Varianten jedoch ein technik- und präventionszentriertes Denken, das es nützlich und vor allem machbar erscheinen lässt, in die Natur einzugreifen, damit sie nur noch so agiert, wie es dem Menschen passt. Auch über solche Techniken setzte sich eine Unterscheidung durch, zwischen guter Natur, die als romantische Kulisse oder Rohstoffquelle diente, und böser Natur, die den Menschen ohne Vorankündigung heimsucht, ohne dass der es verhindern könnte."
Stichwörter: Klimakrise, Demokratie

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.06.2024 - Ideen

Die liberale Demokratie ist nicht nur inneren und äußeren Gefährdungen ausgesetzt, ihr wohnt auch ein "Potenzial der Selbstzerstörung" inne, mahnt Julian Nida-Rümelin in der SZ: "Die zunehmende Verrechtlichung aller Lebensbereiche, die Einbettung in internationale Ordnungen, die die Gestaltungsräume demokratischer Politik immer weiter verengen, die in institutioneller Verschachtelung und Verrechtlichung das Politische an Expertengremien delegiert, macht am Ende den öffentlichen Vernunftgebrauch, die Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger, die Politik in der Demokratie irrelevant. Ohne einen glaubwürdigen politischen Gestaltungsanspruch in der Konkurrenz unterschiedlicher Programmatiken und Projekte stirbt die Demokratie ab." Nida-Rümelin kritisiert vor allem die "Verlagerung von Kompetenzen von den Nationalstaaten auf die europäische Ebene. Dies ist eine gefährliche Melange. Die Europäische Union ist weniger demokratisch kontrolliert als die meisten ihrer Mitgliedsstaaten, daher ist jeder Schritt zur vertieften europäischen Integration immer auch mit einem Verlust demokratischer Kontrolle verbunden. Das europäische Integrationsprojekt wird daher nur dann eine gute Zukunft haben, wenn die europäischen Institutionen konsequent demokratisiert werden und zugleich das Subsidiaritätsprinzip ernst genommen wird."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.06.2024 - Ideen

"Ich habe über dreißig Jahre in einer Diktatur gelebt. Und als ich nach Westeuropa kam, konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Demokratie jemals so infrage gestellt werden könnte. Ich dachte, dass man in der Diktatur planmäßig verblödet wird", in der Demokratie hingegen das Denken lernt, erklärt Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller in einem Essay, den sie vor gut einer Woche auf dem October 7 Forum in Stockholm vortrug und den die FAZ heute abdruckt. Angesichts der vielen propalästinensischen Studentenproteste und Hetze in den sozialen Medien kann sie das kaum noch glauben. Wie kann man die Kriegsbesessenheit der Hamas, ihren mörderischen Antisemitismus, die Verachtung für das Leiden des eigenen Volks, für andere Meinungen, Lebensweisen und vor allem für das Leben von Frauen ausblenden? Denkt überhaupt noch jemand? "Gaza ist eine einzige Militärkaserne, ein deep state des Judenhasses unter der Erde. Lückenlos und dennoch unsichtbar. Im Iran gibt es die Redewendung: Israel braucht seine Waffen, um seine Bevölkerung zu schützen. Und die Hamas braucht ihre Bevölkerung, um ihre Waffen zu schützen. Diese Redewendung ist die kürzeste Beschreibung des Dilemmas, dass man in Gaza das Zivile nicht vom Militärischen trennen kann. Und das gilt nicht nur für die Gebäude, sondern auch für das Personal der Gebäude. In diese Falle wurde die israelische Armee bei ihrer Antwort auf den 7. Oktober gezwungen. Nicht gelockt, sondern gezwungen. Gezwungen, sich zu verteidigen und sich durch die Zerstörung der Infrastruktur mit all den zivilen Opfern schuldig zu machen. Und genau dieses Unvermeidliche wollte und nutzt die Hamas. Seither führt sie Regie über die Nachrichten, die in die Welt gehen. Der Anblick des Leids verstört uns täglich. Aber kein Kriegsreporter kann in Gaza unabhängig arbeiten. Die Hamas steuert die Auswahl der Bilder und orchestriert unsere Gefühle. Unsere Gefühle sind ihre stärkste Waffe gegen Israel."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.06.2024 - Ideen

Identitätspolitik ist kein neues Phänomen, stellt der Schriftsteller und Philosoph Leander Scholz in der NZZ fest, im Lauf der Geschichte habe sie "sowohl zur Emanzipation beigetragen als auch zum Hass auf andere. Denn jede Identitätspolitik geht mit starken Exklusionen einher." Man kann, so Scholz, dieses Zurückziehen auf die eigene Identität, das sich im "gesamten politischen Spektrum finden lässt, nur vor dem Hintergrund der Erosion des Universalismus begreifen. Nach dem Ende der Blockkonfrontation gab es die Erwartung, der Universalismus westlicher Prägung würde sich weltweit ausbreiten. Das Gegenteil war der Fall. Mit dem Anspruch, die einzige verbliebene Deutung der Geschichte mit globaler Geltung zu vertreten, ging auch sein Niedergang einher. Längst hat eine konkurrierende Deutung der Weltgeschichte ihren Platz auf der intellektuellen Bühne eingenommen, die vom Aufstand des globalen Südens gegen den globalen Norden handelt und aus diesem Konflikt ihre Wertvorstellungen gewinnt. Für viele Vertreter des Postkolonialismus ist der Universalismus nur eine identitätspolitische Position des Westens, die dazu dient, die Vorherrschaft der Weißen unter postkolonialen Bedingungen fortzuschreiben. Eine integrative Kraft kommt ihm kaum mehr zu, weder national noch international."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.05.2024 - Ideen

Konnte sich der Philosoph Leander Scholz Ende der Achtziger noch mit den Idealen der Linken identifizieren, fehlt ihm heute, wo die postkoloniale Linke auch Antisemitismus in Kauf nimmt, jedes Verständnis. Mit dem 11. September ist aus dem ehemals antiimperialistischen ein antiwestlicher Kampf geworden, schreibt er in der Welt. Und er weist auf lange Kontinuitäten in der intellektuellen Linken hin. "Schon die Kommunisten des 19. Jahrhunderts hatten ein erhebliches Problem damit, die Juden im Klassenkampf richtig unterzubringen und entschieden sich in der Regel dazu, sie der Kapitalseite zuzuschlagen. Das gleiche Problem haben heute die Postkolonialisten, und sie tun es genauso, indem sie aus den Juden in Israel einfach Kolonialherren machen. Der daraus resultierende Antisemitismus ist kein Nebeneffekt, sondern der gezielte Versuch, die einen Opfer aufzuwerten, indem die anderen abgewertet werden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.05.2024 - Ideen

In den USA werden Juden nicht als "unterdrückte Minderheit" betrachtet, anders als Afroamerikaner, und sind deshalb nicht vor den Demonstrationen der Studenten geschützt, konstatiert Hannes Stein in der Welt. "Vor dem Hintergrund der amerikanischen Geschichte ist das sogar verständlich. Juden wurden dort zwar lange diskriminiert, während des Zweiten Weltkriegs wurden keine jüdischen Flüchtlinge hereingelassen, aber es gab gegen Juden nie Pogrome, keine US-Regierung hat je antijüdische Gesetze erlassen, und seit ungefähr 50 Jahren gelten Juden in Amerika im Großen und Ganzen als 'weiß'. Natürlich ist es trotzdem falsch und verwerflich, wenn Juden nicht beschützt werden. Ganz verrückt wird es aber, wenn in Europa, wo Juden eine machtlose Minorität sind, wo jüdisches Leben nur möglich ist, weil es rund um die Uhr von der Polizei bewacht wird, Debatten so geführt werden, als gälten in Europa amerikanische Maßstäbe. Wer in Europa im Namen der Meinungsfreiheit", die im Vergleich mit der absoluten amerikanischen Meinungsfreiheit in Europa eingeschränkt sei, "fordert, dass gegen Juden gehetzt werden darf, der muss sich fragen lassen: Wäre das auch okay, wenn es gegen eine andere Minderheit ginge?"

Menschen suchen das "Monströse" gerne bei anderen Menschen, um ihre eigenen Taten zu rechtfertigen, versucht sich der Philosoph Eduard Kaeser in der NZZ die jüngsten Beispiele enfesselter Gewalt zu erklären. "Dann geschieht etwas, das im Tierreich eine Ausnahme ist: Die Gewalthemmung gegenüber Angehörigen der eigenen Spezies verschwindet nahezu total. Die Hamas-Terroristen sahen in ihren Opfern zweifellos Menschen, und gerade weil die Opfer Menschen waren, wurden sie unmenschlich massakriert. (...) Wir sind offenbar anfällig für diese 'normale' Geistesgestörtheit. Es bedarf dazu gar nicht erst der Ideologie. Auch tradierte Vorurteile, Ängste, tief verwurzelter ethnischer Hass können den Widerspruch am Köcheln halten."

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Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Andreas Gehrlach empfiehlt auf Geschichte der Gegenwart noch einmal Umberto Ecos kleines Buch "Der ewige Faschismus", in dem Eco 14 Elemente des Faschismus definiert, wobei nicht bei jeder Ausprägung des Faschismus jedes Element vorhanden sein muss. Gehrlach übernimmt den Begriff des "Faschismus" ohne weitere Reflexion über heutige Ausprägungen des Rechtspopulismus und -extremismus und schlägt vor, ein weiteres Element hinzuzufügen: Die Fixierung von Faschisten auf die jeweils neuesten Medien: "Bis zur Übernahme der Medien ist ein scheinbares Eintreten für Meinungsfreiheit das wichtigste Mittel der Faschisten zur Erzwingung, in den Medien aufzutauchen. Sie wollen als Meinung wie alle anderen auch wahrgenommen werden. Sobald dann irgendwelche rechten Milliardäre oder Parteien ein Medium wie Twitter, eine Zeitung wie die NZZ oder öffentlich-rechtliche Sender gekauft haben oder die Gremien besetzen können, bricht diese scheinbare Begeisterung für den freien Markt der Meinungen, wie am Beispiel Polens, an der Übernahme eines ganzen Medienimperiums in Frankreich oder an Elon Musks Übernahme von Twitter gesehen werden kann."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.05.2024 - Ideen

Buch in der Debatte

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Demokratische Rechte und Klimaschutz gehören zusammen, macht die Physikerin und Philosophin Friederike Otto, aktuelles Buch: "Klimaungerechtigkeit", in der SZ deutlich. Deshalb geht es in der Europawahl nicht nur darum, eine Partei zu finden, deren Programm man "zu einhundert Prozent zustimmt, sondern darum, Koalitionen für Menschen- und Bürgerrechte zu bilden", mahnt Otto: "Eine Politik, die diese Rechte beschneiden will und gegen Klimaschutz agitiert, führt dazu, dass arme Menschen ärmer und reiche Menschen reicher werden, die gesamte Gesellschaft also ungleicher und instabiler wird. Die USA, nach vier Jahren Trump, und Brasilien, nach vier Jahren Bolsonaro, zeigen dies deutlich. Bolsonaro baute den Schutz der Regenwälder ab und nahm den indigenen Völkern ihre Rechte - was zu einem enormen Anstieg der Abholzung und damit einem Anstieg der Emissionen weltweit geführt hat. Soeben erst erlebte Brasiliens südlichster Bundesstaat Rio Grande do Sul die schlimmsten Überschwemmungen, die es in dem Land je gab."

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Richard David Precht legt ein neues Buch vor, in dem er, vor allem mit Blick auf Putin, von "außenpolitischem Moralismus" abrät. Dass Putin Böses im Sinn haben könnte, glaubt er im Tagesspiegel-Gespräch auch nach zwei Jahren Krieg nicht: "Was ich definitiv nicht glaube, ist, dass Putin irre geworden ist und so viel Land wie möglich erobern und Nato-Staaten angreifen will. Das würde ja sofort den Dritten Weltkrieg auslösen! Glauben Sie, Putin glaubt, er könne dauerhaft Deutschland oder Polen besetzen, wo er nicht einmal in der Ukraine richtig vorankommt? Das halte ich nun wirklich für eine Verschwörungserzählung."

In der Zeit legt Maximilian Probst mit Wittgensteins Hase-Ente-Illusion die Aussichtslosigkeit der Debatte um den Krieg in Gaza dar. Mit jener Kippfigur, die immer nur einen Aspekt sichtbar macht, betrachtet Probst Begriffe von "Apartheid" bis "Genozid", um zu erläutern, dass immer ein Spiel von "Erkenntnis und Blindheit" zugleich in Gange ist. Daher sei "entscheidend, nicht ein 'eng umschriebenes Gebiet' für 'das Ganze' zu halten, sondern klarzustellen, wie groß das Ganze, um nicht zu sagen, wie groß der Kontext einer Aussage jeweils ist. Anders lassen sich Spielräume des Politischen nicht öffnen. Wie weit wir davon entfernt sind, lässt sich daran ablesen, dass zurzeit 'Kontext' immer nur der eigenen Seite zugestanden wird: Während die postkoloniale Szene, etwa im offenen Brief 'Philosophy for Palestine', den 7. Oktober mit dem Kontext 'jahrzehntelanger Unterdrückung der Palästinenser' rationalisiert und in ihren Anklagen der israelischen Kriegsführung das Massaker verschwinden lässt, halten es die bedingungslosen Israelverteidiger genau umgekehrt. Sie lassen das Böse der Hamas vom Himmel fallen, beanspruchen aber den 7. Oktober als Kontext des harten israelischen Vorgehens. Wittgensteins Aspektblindheit übersetzt sich in doppelte Standards." Das Böse fällt nicht vom Himmel - die Hamas hat klar Wurzeln nicht nur im Islamismus der Muslimbrüder, sondern auch in der Sympathie für den Nationalsozialismus.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.05.2024 - Ideen

Nicht Theodor Herzl oder Hannah Arendt, und schon gar nicht Omri Boehm trugen sich als erste mit der Idee eines binationalen Staates, schon der Prager Zionismus innerhalb des Intellektuellenzirkels Brit Schalom dachte darüber nach, entnimmt Michael Hesse (FR) der bereits 2005 veröffentlichten Dissertation "Zweisprachigkeit und binationale Idee" von Dimitry Shumsky: "In Prag dominierte zu dieser Zeit der Gegensatz zwischen Tschechen und Deutschen. Mittendrin eine jüdische Bevölkerung, die sich weder für die eine noch andere Seite hätte entscheiden können, so die Ansicht von wissenschaftlichen Arbeiten vor Shumskys Dissertation: Die jüdische Bevölkerung hätte sich entweder als deutsche Juden oder als tschechische Juden verstehen müssen und sei darin gescheitert. Der Prager Zionismus sei das Resultat dieses Scheiterns. Shumsky zeigte jedoch, dass die Gruppe um Kafka und Brod ganz anders dachte und sich nicht auf einen jüdischen Nationalismus einließ, der den Partikularismus als oberste Prämisse anerkannte. Kurz: Sie dachten universalistisch statt national, wie viele Jahrzehnte später eben Omri Boehm."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.05.2024 - Ideen

In seiner Dankesrede für den Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung, die die SZ abdruckt, hat der israelische Soziologe Natan Sznaider eine "pragmatische zionistische Vision" vom Staat Israel, die darauf setzt, dass Israel endlich "ein normaler Staat werden kann", dessen Existenzrecht nicht mehr in Frage gestellt wird. "Dies umfasst auch die Wandlung im Selbstverständnis seiner Staatsbürger und Staatsbürgerinnen von den Angehörigen einer Religion zu denjenigen einer Nation, damit aus dem jüdischen Staat ein Staat der Juden - und auch seiner nichtjüdischen Bürger - werden kann. Es ist Politik im Hier und Jetzt. Konkret heißt das jetzt, auf die Realpolitik etlicher arabischer Führer zu setzen, die zu Recht einen Flächenbrand im Nahen Osten fürchten. ... Ein politisch ernsthafter Frieden setzt voraus, dass Israel integraler Teil eines Bündnissystems in der Region wird. Dazu gehört wohl auch, das Modell zweier unabhängiger Staaten wiederzuerwecken, das in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt wurde, und heute kaum noch zu verwirklichen ist. Aber es bleibt der Horizont, um nach dreißig Jahren überhaupt wieder Verhandlungen aufzunehmen."

In den westlichen propalästinensischen Protesten steckt ein großes Stück Ablehnung der Moderne, die in Foucault und Baudrillard ihre Vorläufer hatte, meint in der NZZ der israelische Religionswissenschaftler Tomer Persico: "So wie die Absetzung des Schahs für Foucault gemessen an seiner Ablehnung der Moderne vernachlässigbar war oder der fundamentalistische Jihad von al-Kaida bei Baudrillard in seiner Destruktivität von der Bildfläche verschwand, weil es ihm angeblich um die Erreichung einer 'irreduziblen Singularität' in einem imaginären Kampf gegen die kapitalistischen Marktkräfte ging, ist die mögliche Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser nur ein Nebenschauplatz in Anbetracht der imaginierten Auslöschung Israels als einer Insel des Westens inmitten des Ostens. Israels Jüdischsein lässt seine Existenz zu einem doppelten Schlag ins Gesicht seiner Verächter werden. Als Stammvater des Christentums erscheint ihnen das Judentum als der archaischste Kern des Westens, als Ur-Punkt des Ur-Westens. ... Darüber hinaus haftet Israel als ursprünglichem Kern des Westens natürlich auch dessen Erbsünde an: der territoriale und kulturelle Kolonialismus. Israel für seinen angeblichen rassistischen Kolonialismus büßen zu lassen, erscheint nicht nur als ein notwendiger Schritt auf dem langen Marsch zur Gerechtigkeit, sondern schafft für viele Reinigung und Absolution. Die Auslöschung Israels als westliche Inkarnation befreit den Westen selbst von seiner vergangenen Schuld."
Stichwörter: Judentum

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.05.2024 - Ideen

Warum diese Fixierung auf Israel, fragt Armin Nassehi in einem Essay für Zeit online. Warum solidarisieren sich "linke" Professoren mit Studenten, die offen antisemitische Parolen brüllen? Dafür muss man tiefer gehen, fürchtet Nassehi: "Die semantischen Figuren des Antisemitischen scheinen stärker zu sein als manche Selbstbilder - und wem es beim Denken hilft: Eines der Standardargumente von Rassismuskritikern besteht darin, Leuten Rassismus nachzuweisen, die explizit keine sein wollen." Dummerweise, so Nassehi, funktioniert das beim Antisemitismus eher noch besser. Und letztlich leitet sich auch der heutige "strukturelle" Antisemitismus respekektabler Professoren aus der Kontinuität christlichen Antisemitismus her, meint Nassehi: "Man hasst mit den Juden etwas Fremdes, das zugleich das Eigene ist - und gerade deshalb kann das Jüdische als Projektionsfläche dienen, als Sündenbock, als der Stachel im eigenen Fleisch, den man nicht loswerden kann, als innere Störung, als innerer Feind. Für den Antijudaismus ist das größte Verbrechen des Jüdischen seine Ähnlichkeit, nicht seine Verschiedenheit. Die Verschiedenheit des Juden musste dann erst strategisch hergestellt werden - und die Sozialgeschichte des Ausschlusses der Juden ist voll davon, Nischen zu entwickeln, in denen sie sich dann als 'das Andere' etablieren mussten."

Hans Ulrich Gumbrecht, einst Professor in Stanford, denkt in der Welt über die Studentenproteste an amerikanischen Unis nach. Er kommt nicht ohne einen umständlichen Vergleich mit 1968 aus und rät zur Gelassenheit: "Offenbar entsteht nur wenig Aggression, wenn die Verwaltung einer Hochschule solche langfristigen Demonstrationen unter der Prämisse von Redefreiheit toleriert. Umso mehr drängt sich die Frage auf, warum so erstaunlich viele andere Rektorate - etwa an der Columbia University in New York oder an der University of Southern California in Los Angeles - die Polizei mit der Aufhebung von Protest-Lagern beauftragt und damit Gewaltsituationen provoziert haben, zu denen es in den Sechzigerjahren kaum je kam."

Dass nicht erst die Studenten den Antisemitismus an den amerikanischen Unis produzieren, zeigt ausgerechnet die mutige philippinische Journalistin und Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa, die die "Commencement Speech" in Harvard hielt und folgenden antisemitischen Topos zum besten gab:


Die ganze Passage aus Ressas Rede lautet so: "Weil ich Ihrer Einladung gefolgt bin, heute hier zu sein, wurde ich online angegriffen und als antisemitisch bezeichnet. Von Macht und Geld. Weil sie Macht und Geld wollen. Während die andere Seite mich bereits angriff, weil ich mit Hillary Clinton auf der Bühne gestanden hatte. Schwer zu gewinnen, oder?" Hier das komplette Video der Rede.