9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Geschichte

1361 Presseschau-Absätze - Seite 2 von 137

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.04.2024 - Geschichte

Dem Schriftsteller Antonio Scurati ist ein Auftritt im italienischen Staatsfernsehen RAI verwehrt worden, wo er einen kurzen Monolog zum 25. April, dem "Tag der Befreiung" vom Faschismus sprechen wollte. Darin wirft er der postfaschistischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ein heuchlerisches Verhältnis zur Geschichte vor, berichtet Michael Braun in der taz: "Scurati trifft da den Kern der Erinnerungs- oder besser gesagt der Amnesiepolitik Melonis und ihrer Partei Fratelli d'Italia. Schon in ihrer Antrittsrede als Ministerpräsidentin im Oktober 2022 - nur drei Tage vor dem hundertsten Jahrestag von Mussolinis Marsch auf Rom, den sie mit keinem Wort erwähnte - hatte sie zwar die Rassegesetze von 1938 gegeißelt; doch weder damals noch auch bei anderen Gelegenheiten gelang es ihr, den banalen Schluss zu ziehen, dass zu einem Verbrechen auch ein Verbrecher gehört: Über Mussolini ist Meloni nie ein böses Wort über die Lippen gekommen." Den Text Scuratis kann man hier nachlesen.

Fromm klingen die Gedanken des Historikers Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, zu den jüngsten scharfen erinnerungspolitischen Streitigkeiten in Bezug auf Holocaust und Kolonialismus auf der "Ereignisse und Gestalten"-Seite der FAZ: Notwendig sei es, "den Modus des Kulturkampfes, der den Andersdenkenden mit binären Feindbildern und universalisierten Identitätskonstruktionen zum Schweigen zu bringen sucht, zu verlassen und stattdessen zu einer aufrichtig-reziproken Kommemoration der Opfer zu finden."

In der FAZ räumt der Historiker Jörg Bong, der im Oktober den zweiten Band seiner Trilogie über die Revolution von 1848 herausbringt (hier Band 1), mit einigen Klischees über die erste deutsche Demokratie von 1848 auf. Zum Beispiel, dass diese nur zu Chaos führte. "Es ist tatsächlich zu alldem gekommen: zu Unordnung, Chaos, Krieg, Terror, Barbarei. De facto führte der Weg, den Deutschland genommen hat - natürlich nicht 'teleologisch', aber eben faktisch -, nach der Niederschlagung des ersten demokratischen Versuchs innerhalb eines Menschenalters schon bald in mehrere Katastrophen, zwei davon global und unermesslich, zuletzt in den Faschismus und seine menschheitsgeschichtlich singuläre Barbarei. Schon insofern ist es absurd, die propagandistische Warnung von damals zu wiederholen. ... Es ist umgekehrt. Im Anschluss an die Ausradierung und Vertreibung vieler Zehntausender Demokraten - ein demokratischer Aderlass, wie es ihn in Deutschland nur Anfang der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts noch einmal gab - kommt es zur harschen Restauration und alter Despotie."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.04.2024 - Geschichte

Der Postkolonialismus kommt  auch in der Archäologie und Altertumswissenschaft an, erzählt Gabriel Zuchtriegel, Leiter der archäologischen Stätte von Pompeji, im Gespräch mit Sabine Seifert von der taz, aber teilweise unter falschen Prämissen. In diesem Kontext erklärt Zuchtriegel auch, warum er trotz der Unterschiede zur modernen Sklaverei auch für die Antike am Begriff des "Sklaven" festhalt, nämlich um umzudenken: da waren nämlich "eigentlich wir die Sklaven. ... Die Sklaven der Römer kamen aus dem heutigen Deutschland, Frankreich, Großbritannien. Es wäre eine Gelegenheit, die eigene Wahrnehmung in Frage zu stellen. Dieser rassistische Komplex zwischen Sklaverei, Rassismus, Kolonialismus, der in der Moderne so prägend ist und der es problematisch macht, das Wort Sklave zu verwenden, könnte dadurch unterwandert werden, dass wir für die Antike an dem Begriff festhalten. Wenn wir uns klarmachen: Die berühmten Wurzeln der abendländischen Kultur waren auch das. Wir waren Sklavenbesitzer, aber auch Sklaven, und unsere Kultur kommt aus einer Gesellschaft, die bis zu einem Drittel der Bevölkerung aus Sklaven bestand."

Der Ukrainekrieg ist für den Westen auch eine Geschichtslektion. Unter anderem lernte er, dass es auch einen Imperialismus ohne Eroberung weit entlegener Regionen gibt: Russlands Imperialismus ist ein Expansionismus. Und Völker, die sich der Subsumierung nicht einfach fügten, wurden von den Zaren und dann von Lenin und Stalin auch mit Gewalt gleichgeschaltet. Alim Alijev, Generaldirektor des Ukrainischen Instituts in Kiew und aus einer krimtatarischen Familie stammend, erzählt in "Bilder und Zeiten", der virtuellen Printbeilage der FAZ: "Die Deportation begann am 18. Mai 1944 am frühen Morgen. NKWD-Soldaten klopften an die Tür eines jeden krimtatarischen Hauses und gewährten nur fünfzehn Minuten Zeit zum Aufbruch. Die Aktion dauerte drei Tage, während derer die gesamte Bevölkerung in Viehwaggons verladen und fast drei Wochen lang über zweitausend Kilometer hinweg transportiert wurde, hauptsächlich nach Usbekistan, aber auch nach Kasachstan oder in den Ural. Die Folgen der Deportation waren schrecklich: Sechsundvierzig Prozent der Verschleppten starben in den nächsten Monaten."

Außerdem: In der NZZ erzählen Nikolai Klimeniouk und die Holocaust-Historikerin Ksenia Krimer die Geschichte jüdischen Widerstandsgeistes, vom "Muskeljudentum" des Max Nordau über jüdische Studenten, die sich gegen Antisemiten duellierten, bis zum heutigen Staat Israel.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.04.2024 - Geschichte

Trotz der Vielfalt des jüdischen Widerstands ist dieser in der deutschen Erinnerungskultur kaum präsent, schreibt die Politikwissenschaftlerin Sarah Stemmler, die in der FR mehr Sichtbarkeit fordert und erklärt: "Laut Achim Doerfer hängt das damit zusammen, dass die Erinnerung an Jüdinnen und Juden in der NS-Zeit von einer Opfer-Ikonografie geprägt ist. Der Jurist und Philosoph beschreibt, dass vor allem die Bilder von Kranken, Verhungernden und Sterbenden im kollektiven Gedächtnis verankert sind, nicht aber die Bilder von Partisan:innen oder jüdischen Soldat:innen in den Armeen der Alliierten. Stattdessen erinnern wir uns vor allem an nichtjüdische Widerständler:innen, wie die Studierendengruppe 'Die Weiße Rose'. Das ist zwar wichtig, vermittelt aber ein schiefes Bild: von einzelnen widerständigen Deutschen und passiven Opfern. Proportional betrachtet war der jüdische Widerstand viel zahlreicher. Es gibt Stimmen, die sich für einen Feiertag am 19. April aussprechen, der dem Aufstand im Warschauer Ghetto gewidmet ist."

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"Hasst Iran auch seine eigenen Juden?", fragt die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur, jüngstes Buch "Iran ohne Islam", in der SZ. Etwa 9.000 Juden leben noch im Iran, vom Regime gezwungen, sich gegen Israel zu positioneren, fährt Amirpur fort, die die Geschichte des Antisemitismus seit der Eroberung Irans durch die Muslime im Jahre 642 erzählt. Unter Chomeini setzte schließlich eine Unterscheidung zwischen iranischen Juden und "gottlosen Zionisten" ein: "Dies verhinderte nicht, dass Juden zu Staatsbürgern zweiter Klasse wurden, aber sie anerkannten die Legitimität jüdischer Existenz in Iran und erlaubten der Gemeinde fortzubestehen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.04.2024 - Geschichte

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Der britische Journalist Sathnam Sanghera hat ein Buch über das britische Empire geschrieben. Im NZZ-Gespräch erklärt er, wie widersprüchlich dessen Vermächtnis ist: "Man kann nicht abstreiten, dass es die Verbreitung der Demokratie gefördert hat - zum Beispiel in Indien oder Australien. Das Empire schuf auch massive geopolitische Instabilität in Palästina, Nigeria, dem Irak oder dem Sudan. Das Empire war involviert in den Sklavenhandel, aber später auch an dessen Abschaffung beteiligt. Es hat die freie Presse und gleichzeitig deren Zensur verbreitet."


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In ihrem Buch "Eisernes Schweigen" erzählt Traudl Bünger von ihrem Vater, dem rechtsradikalen Aktivisten Heinrich Bünger, der im Rahmen des Südtirolkonflikts 1962 einen mörderischen Bombenanschlag in Verona verübt hat. Im FAS-Gespräch versucht sie dessen Motive zu ergründen: "Bei allem, was ich über meinen Vater weiß, komme ich nicht umhin, anzunehmen, dass es ihm auch um das deutsche Volk und um Deutschland gegangen ist. Die Ostgebiete zum Beispiel waren immer ein Thema für ihn, zeit seines Leben ist er 'zu den Polen' gefahren und nicht 'nach Polen'. Ich hatte mit einem Historiker Kontakt, der die These vertritt, dass Teile der frühen Rechtsradikalen der jungen Bundesrepublik ihre Sehnsucht nach einem großen Deutschland, nach den Ostgebieten mit Südtirol sublimierten. An die Ostgebiete kam man nicht ran. Aber in Südtirol, da gab es den Konflikt, auf den man sich draufsetzen konnte. Südtirol wäre dann also eine Art Ersatzbefriedigung für die verlorenen Ostgebiete gewesen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.04.2024 - Geschichte

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Paul Middelhoff führt für die Zeit ein Gespräch mit dem Historiker Daniel Marwecki, der wie in seinem Buch "Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson" darauf beharrt, dass die deutsch-israelische Aussöhnung beidseitig eiskalte Interessenpolitik gewesen sei. Das Reden von der Staatsräson ist darum für ihn mehr oder weniger vorgeschützt und hat möglicherweise keine bindende moralische Wirkung. Marwecki kritisiert sowohl den iraelischen Krieg gegen die Hamas, als auch den grassierenden linken Antisemitismus. Am Ende warnt er "Die komplexe Realität anzuerkennen, würde die Vergangenheitsbewältigung erheblich erschweren. "

Außerdem: Anne Rabe bespricht in der FAZ eine Ausstellung über Vertragsarbeiter in der DDR im Berliner Haus der Kulturen.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.04.2024 - Geschichte

Vergangene Woche hatte der Althistoriker Mischa Meier in der FAZ Putin mit dem Hunnenfürsten Attila verglichen, um vor Appeasement zu warnen (Unser Resümee). So ein Vergleich ist wenig zielführend, konstatiert heute ebenfalls in der FAZ der Althistoriker Hartwin Brandt: "Die Hunnen im fünften Jahrhundert waren, wie Meier selbst richtig herausstellt, ein labiles und dynamisches Gebilde; ihr Name bezeichnet eine nicht fest ansässige, auf kurzfristige Bereicherung ausgerichteten, nicht mit einem staatlich-institutionellen Unterbau versehene 'Kriegerkoalition'. Theodosius II. schließlich war nach allem, was wir wissen, ein schwacher, von einflussreichen Personen am Hof gelenkter Kaiser, dessen 'Herrschaft' über ein ohnehin von Desintegrationsprozessen gebeuteltes Restreich vor allem von notorischen innerrömischen Auseinandersetzungen um Religionsfragen geprägt war. Wie gering und oberflächlich die Parallelen zu den heutigen Verhältnissen und hier in Rede stehenden, fürchterlichen Ereignissen in Osteuropa ausfallen, liegt auf der Hand. Die verhängnisvollen Auswirkungen einer Appeasement-Politik lassen sich gewiss eindrücklicher von neu- und zeithistorischer Seite erhellen, wie der aufsehenerregende Brief von Historikerinnen und Historikern mit SPD-Parteibuch an den SPD-Parteivorstand (...) gezeigt hat."

Bei geschichtedergegenwart.ch beleuchtet der Historiker Florian Wagner mit Blick auf die "Remigrationspläne" der AfD die historische Symbiose zwischen rechtem Denken und einer aktualisierten Form von Siedlungskolonialismus: Die Vorstellung von Rassentrennung taucht in rechten Ideologien verklausuliert unter dem Begriff des "Ethnopluralismus" auf, erklärt er: "Dieser Siedlungskolonialismus ist genauso völkisch-rassistisch wie es der Nationalsozialismus war. Er propagiert und praktiziert das Weißsein als einzig erhaltenswerte Lebensform, die vor Nicht-Weißen getrennt oder 'segregiert' werden müsse und dürfe, um die Kontamination und potenzielle Degeneration der weißen Rasse zu vermeiden. Diese zutiefst kolonialrassistische Weltsicht gilt nicht nur Rechtsextremen als normal, sondern auch vielen moderateren Unterstützer:innen eines 'Ethnopluralismus'. Auch darum bestand die Hoffnung unter Rechtsextremen, dass ihr Remigrationsplan in der deutschen Gesellschaft konsensfähiger war als eine direkte Bezugnahme auf die nationalsozialistischen Deportationen."

Matthias Heine zeichnet in der Welt die Geschichte der deutschen Rechtschreibreform nach und erinnert daran, dass diese ihre Ursprünge bei den Nazis hatte. Mehrere Anläufe gab es im Dritten Reich, die Sprache zu modifizieren, so Heine, bis die Reform angesichts der sich verschlechternden Kriegslage als nicht "kriegswichtig" eingestuft und fallen gelassen wurde. Mit Hitlers Tod war die Geschichte allerdings nicht beendet, erfahren wir von Heine: "Anfang der Fünfzigerjahre kamen die alten Bekannten in einer 'Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege' 1954 zusammen. ... Die Reformvorschläge, die die Wissenschaftler nun in einer gemeinsamen 'Stuttgarter Erklärung' formulierten, griffen die Ideen von damals wieder auf. Mit der Erklärung beginnt die Vorgeschichte der Rechtschreibreform von 1996 offiziell. Dass sie schon 1933-1945 begann, wurde von den Reformern 1996 gerne verschwiegen und jede Erinnerung daran - etwa durch den Historiker Christian Meier, damals Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung - als skandalöser Nazivergleich abgetan."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.04.2024 - Geschichte

Im März hatte das russische Außenministerium die Bundesregierung aufgefordert, die Belagerung Leningrads als Genozid anzuerkennen - ein neuer Schachzug in Putins geschichtspolitischem Kampf, schreiben die Osteuropa-Historiker Felix Ackermann und Gundula Pohl in der FAZ: "Diese geschichtspolitische Wahnidee teilt Putin mit seinem belarussischen Diktatorenkollegen Alexandr Lukaschenko. Beide bemühen sich um eine Verschiebung der Bedeutung des 27. Januars, der als Tag der Beendigung der Blockade Leningrads begangen wird, um sich von einer gesamteuropäischen Erinnerung an den Nationalsozialismus zu distanzieren. Weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit weihten sie 2024 an diesem Datum gemeinsam eine Gedenkstätte für die Opfer des nationalsozialistischen Genozids während des Großen Vaterländischen Krieges ein. ... Lukaschenko nutzte die Großveranstaltung zum ideologischen Schulterschluss innerhalb des russisch-belarussischen Unionsstaats. In seiner Rede machte er deutlich, dass sich die staatliche Genozid-Erinnerung auch gegen Protestierende in Belarus richtet, denen er die Kollaboration mit dem imaginierten Kollektiven Westen vorwirft."
Stichwörter: Belarus

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.04.2024 - Geschichte

Die Türkei war eigentlich immer ein guter Verbündeter Israels und der Juden, erinnert in der NZZ der Historiker Rasim Marz. Das habe sich erst in den letzten Jahren geändert. Zuvor hätten in der arabischen Welt vor allem Christen einen militanten Judenhass gepflegt: "1927 zählte die türkische Republik noch 81.000 jüdische Staatsbürger. Trotz vereinzelten antisemitischen Pogromen wie 1934 in Thrakien wurde die Türkei während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland zu einem wichtigen Exil verfolgter europäischer Juden. Erst staatliche Repressalien ab 1942 und die Gründung Israels 1948 forcierten eine Auswanderung, so dass bis heute nur noch 14.500 Juden im Land verblieben sind. 2011 verfügte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit einem Erlass die Rückgabe konfiszierter Immobilien und Sakralbauten, die in den vierziger Jahren beschlagnahmt worden waren. Der arabische Antisemitismus wurde erst sehr spät in der Türkei durch linke oder islamistische Kräfte adaptiert."

Tobias Rapp führt im Spiegel mit dem Historiker Michael Brenner ein sehr instruktives Gespräch über die Geschichte des Zionismus. Es gibt Elemente des Kolonialismus in der Geschichte Israels, sagt er, aber insgesamt ist der Vorwurf alles andere als zutreffend: "Es gäbe mehr gute Argumente dafür, New York den Native Americans zurückzugeben, als Israel den Arabern. Selbstverständlich waren die frühen Zionisten Kinder ihrer Zeit - das war die Ära der Kolonien. Sie glaubten, dass Europa überlegen sei. Aber sie waren natürlich keine Kolonialisten, wenn man sie mit den britischen, den französischen oder den deutschen Kolonialherren vergleicht. Es wäre ahistorisch zu behaupten, dass sie keine Beziehung zum Land gehabt hätten. Es gibt seit Jahrtausenden kontinuierlich jüdische Gemeinschaften in diesem Land. Das ist ein viel engerer Bezug als ihn die Leute hatten, die auf der 'Mayflower' nach Amerika auswanderten."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.04.2024 - Geschichte

Bülent Mumay hatte in seiner FAZ-Kolumne diese Woche darauf hingewiesen, dass Erdogans Handelsbeziehungen zu Israel die Wahlniederlage mitverursacht haben könnten (Unser Resümee). Dabei hassen Erdogan und Netanyahu einander, meint der Historiker Rasim Marz, der heute in der NZZ unter anderem erläutert, wie sich erst unter dem 1909 gestürzten islamischen Herrscher Abdülhamid II. der Antisemitismus in der Türkei manifestierte: "Abdülhamid II. wird bis heute in islamistischen wie nationalistischen Kreisen in der Türkei und der arabischen Welt als ein Vorkämpfer gegen den Zionismus gesehen, der einer jüdischen Verschwörung zum Opfer fiel. Wie die Historiker Bernard Lewis, Feroz Ahmad und Elie Kedourie darlegen, waren es vorrangig britische Diplomaten, die rund um den Fall Sultan Abdülhamid II. nach 1909 antisemitische Verschwörungstheorien in islamisch-konservativen Kreisen streuten. Im Zentrum stand der Botschafter Sir Gerard Lowther. Er betrachtete Abdülhamids Absetzung als jüdisch-zionistische Verschwörung, die vom jüdisch geprägten Saloniki aus vorbereitet und gesteuert wurde. Das jungtürkische Komitee für Einheit und Fortschritt und sein innerer Zirkel, dem auch Juden angehörten, operierten von Saloniki aus. Staatsbeamte, Offiziere und untere Ränge der Armee waren Mitglied dieser Geheimorganisation, die sich gegen das absolutistische Regime des Sultans wendete. Lowther sah Verbindungen zwischen den Jungtürken und Herzls Zionistenbewegung, wo es keine gab."

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Kürzlich hatte die Historikerin Katja Hoyer in der Berliner Zeitung behauptet, sie hätte ihr Buch "Diesseits der Mauer" nur in Großbritannien schreiben können, in Deutschland hätte man vermutlich Druck auf sie ausgeübt (Unser Resümee). Dem widerspricht der Historiker Rainer Eckert, bis 2017  Leiter des Zeitgeschichtliches Forums in Leipzig, heute ebenda: "Dass Historiker Deutschland verlassen haben, um ungezwungen forschen und publizieren zu können, ist höchstens vereinzelt der Fall und äußerst ungewöhnlich. Etwas anderes sind die Wissenschaftler, die als Folge der Neustrukturierung von Forschung und Wissenschaft nach Friedlicher Revolution und Wiedervereinigung ihre Anstellung an Universitäten und Forschungseinrichtungen in Ostdeutschland verloren. In der Regel waren sie Mitglieder der Staatspartei SED gewesen oder hatten für die Staatssicherheit gearbeitet. Fast alle der dadurch frei werdenden Stellen besetzten Westdeutsche und daran hat sich bis heute wenig geändert."

Zur von Hoyer aufgestellten Behauptung, man könne in Deutschland nicht vorurteilsfrei zur DDR forschen, will Dirk Oschmann, Autor von "Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung", nichts sagen, wie er ebenfalls in der Berliner Zeitung schreibt. Wohl aber sei die Beschäftigung mit DDR-Literatur in Deutschland ein "Karrierekiller", meint er: Das "zeigt sich daran, dass in Deutschland bis heute im Fach Neuere deutsche Literatur fast niemand auf eine Professur kommen konnte, der oder die Forschung zur DDR-Literatur betreibt, wozu übrigens der sich an Christa Wolf entzündende Literaturstreit Anfang der 90er Jahre das Seine beigetragen hat. Sich mit DDR in irgendeiner Weise zu beschäftigen, scheint ein Karrierekiller zu sein. Das wird mir übrigens von Kollegen und Kolleginnen aus anderen Fächern wie der Geschichte und der Soziologie ebenfalls berichtet."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.04.2024 - Geschichte

Vor dreißig Jahren begann der Genozid in Ruanda. Andrea Böhm erinnert in der Zeit an das "Totalversagen der internationalen Gemeinschaft", die aufgrund von Fehleinschätzungen oder Feigheit nicht einschritt. Während allerdings Länder wie Frankreich und die USA ihre verhängnisvolle Rolle aufgearbeitet haben, hat Deutschland das bisher versäumt, so Böhm. Nicht nur, dass die Vorstellung der Überlegenheit bestimmter "Rassen" maßgeblich durch die deutschen Kolonialherren eingeführt wurde, wie Böhm anmerkt. Auch während des Konflikts agierte Deutschland verantwortungslos - beziehungsweise gar nicht: "Nicht dass damals irgendjemand eine federführende politische Intervention des gerade wiedervereinigten Deutschland erwartet oder gefordert hätte. Aber die Vehemenz, mit der alle Warnzeichen verdrängt oder ignoriert wurden, überrascht dann doch. Die Hasspropaganda ruandischer Medien gegen 'Tutsi-Kakerlaken' wurde in den Berichten der deutschen Botschaft entweder nicht erwähnt oder heruntergespielt. Der damalige Botschafter Dieter Hölscher meldete vielmehr eine 'zunehmend belebte Presselandschaft' an das Auswärtige Amt. Das wiederum weigerte sich noch im Sommer 1993, eine 'staatliche Verfolgung bestimmter Personengruppen' zu bestätigen. Da lagen längst Berichte über systematische Vergewaltigungen von Tutsi-Frauen durch Hutu-Soldaten und Erschießungen von Tutsi vor. Entwicklungshelfer hatten gewarnt, Bundeswehroffiziere über Struktur, Stützpunkte und Pläne der Hutu-Miliz der Interahamwe berichtet."