08.01.2013. Ali Smith erzählt von einem Gast, der zum Abendessen kommt und nicht wieder geht. Robert Littell führt uns in die Welt des Spions Kim Philby. Heinz Schilling holt Luther vom Sockel des Übermenschen. W.D. Wilson fragt: Was dachte Goethe über Knabenliebe? Dies und mehr in den besten Büchern des Monats Januar.
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Weitere Anregungen finden Sie in der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den
Büchern der Saison vom
Herbst 2012 und unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Herbst 2012, in den älteren
Bücherbriefen und den
Leseproben in
Vorgeblättert.
LiteraturAli SmithEs hätte mir genausoRoman
Luchterhand Literaturverlag, München 2012 315 Seiten, 19,99 Euro
Warum eigentlich ist diese
schottische Autorin in Deutschland nicht viel bekannter, fragt erstaunt
FAZ-Rezensentin Katharina Teutsch. Die Handlung des neuen Romans von Ali Smith ist schnell erzählt: Ein Mann wird zum Abendessen eingeladen, steht plötzlich auf, sperrt sich ins Gästezimmer ein und kommt
monatelang nicht mehr heraus. Vier Personen versuchen, das Rätsel zu lösen. Am Ende ist es "wie schon bei Bartleby ... der, der
im System nicht mehr mitmacht, der die Dinge ans Licht bringt",
erklärt in der
Presse geheimnisvoll Teresa Schaur-Wünsch. Katharina Teutsch zeigte sich in ihrer sehr schönen Kritik vor allem beeindruckt von Smiths Gespür für die Möglichkeiten der
Sprache, die sich nicht nur in Wortspielen und Sprachwitz erschöpfen: "In der deutschsprachigen Literatur gibt es im Moment nur
Silvia Bovenschen, die ähnlich überzeugend intellektuelles Dandytum
mit
Jargonparodie und Sprachkritik verbindet", resümiert Teutsch. (Die vollständige Kritik von Teutsch findet man
hier bei
buecher.de - auf "Rezensionen" klicken)
Robert LittellPhilbyPorträt des Spions als junger Mann
Arche Verlag, Hamburg 2012
Gebunden, 286 Seiten, 19,95 EUR
Kim Philby gehörte zu den "Cambridge Five", einer Gruppe privilegierter junger Engländer, die
für die Sowjetunion spionierten. Philby, während des Kalten Krieges ein hohes Tier im MI6 und zeitweise Verbindungsoffizier des britischen Geheimdienstes in den USA, war sicher der erfolgreichste der fünf. Wie es dazu kommen konnte, das erzählt Robert Littell, Vater von Jonathan, in seinem
Doku-Roman "Philby", der auch in der
KrimiZeit-Bestenliste sehr hoch rangiert.
Zeit-Rezensent Adam Soboczynski lernt bei der Lektüre vor allem eins: aus dem wahren Leben kann die Fiktion immer noch eine Menge lernen. In der
FR lobt Sylvia Staude nicht nur Littells Spiel mit den Fakten rund um die Frage, ob Philby ein Doppel- oder sogar ein Dreifachspion war. Auch die Beschreibung
Wiens,
Cambridges und
Spaniens in den Dreißigern, findet sie rundum überzeugend.
M. AgejewRoman mit KokainManesse Verlag, Zürich 2012, 256 Seiten, 22,95 Euro
"Roman mit Kokain" erschien erstmals 1936 unter Pseudonym in Paris. Lange wurde darüber spekuliert, wer der Verfasser sein könnte -
Nabokov oder einer seiner Schüler? Die Rezensenten halten das allesamt nicht für abwegig, so meisterhaft erzählt finden sie diesen gerade mal 256 Seiten dicken Roman: Mit unerhört sprachlicher Kraft erzähle Agejew die Geschichte eines unstabilen jungen Mannes am
Vorabend der Oktoberrevolution, der dem Kokain verfällt. In der intensiven Schilderung des sozialen und menschlichen Niedergangs eines jungen, intellektuell zwar reflektierten, aber doch
zur Grausamkeit neigenden Mannes erblickt der
SZ-Rezensent Christopher Schmidt das Bild einer Umbruchsepoche, in der das Gute unvermittelt ins Böse umschlägt. In der
NZZ rühmt Felix Philipp Ingold die "rhythmische Prosa" des Autors und die eindringliche Darstellung von
Drogenrausch und Sex. In der
FAZ hebt Katharina Teutsch die politische Dimension des Romans hervor, der die Rolle von
Mitläufern und Antisemiten in der Revolution schon vorhergesehen habe.
HörbuchJames JoyceUlyssesHörspiel. 23 CDs
DHV - Der Hörverlag, München 2012
Anfang 2012 erloschen die Rechte der Erben am Werk von
James Joyce, was ermöglichte, dass frei und kreativ mit den Texten des irischen Autors umgegangen werden konnte. So entstand ein unerhörtes Mammutprojekt: den gesamten 1000-seitigen "Ulysses" als Hörspiel zu vertonen. Klaus Buhlert hatte als Regisseur die Leitung über ein im Hörspiel nie dagewesenes Starensemble inne (unter Dutzenden anderen wirken
Manfred Zapatka, Dietmar Bär, Jürgen Holtz, Thomas Thieme, Rufus Beck, Corinna Harfouch und
Birgit Minichmayr mit) und bringt, wie Florian Welle in der
SZ feststellt, seinen musikalischen Hintergrund gewinnbringend in das Projekt ein.
DeutschlandRadio informiert über Entstehung und Sendetermine des Hörspiels, das mit
23 Stunden Spieldauer etwas über der im Roman verstreichenden Zeit von 19 Stunden liegt. Als "zweifellos das beste des Jahres",
ehrte Wolfgang Schneider das Hörspiel bereits im Sommer im
Tagesspiegel, zum Jahresende
stimmte ihm auch die
hr2-Jury, die alljährlich den Preis für das beste Hörspiel vergibt, zu. Und wer nach 23 Stunden immer noch nicht genug Joyce hatte, kann sich in das über 100 Seiten lange Begleitheft vertiefen.
BildbandDavid Goldblatt,
Nadine GordimerOn the MinesSteidl Verlag, Göttingen 2012, 180 Seiten, 58,00 Euro
Bereits 1973 kam dieser Bildband mit Fotos von David Goldblatt heraus, nun erscheint er, bereichert um einen Essay der südafrikanischen Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer, auch in Deutschland. Dass das Thema - die
Gold- und Platinminen in Südafrika und das Elend der Menschen, die in ihnen arbeiten - nichts von seiner Relevanz verloren hat,
meint Tim Neshitov, der in der
SZ an das
Blutbad von Marikana im August 2012 erinnert. Ergänzt wird seine Rezension von einer
Bildstrecke mit einer Auswahl von Goldblatts Fotos. Die
BBC bringt eine Video-Slideshow, unterlegt mit einem Interview mit Goldblatt, in dem er über die Hintergründe der Entstehung seiner Fotos spricht.
SachbücherHeinz SchillingMartin LutherRebell in einer Zeit des Umbruchs
C. H. Beck Verlag, München 2012, Gebunden, 714 Seiten, 29,95 Euro
Die Leistung des emeritierten Historikers
Heinz Schilling, Martin Luther in einen
konkreten zeitgeschichtlichen und sozialen Kontext einzuordnen, stößt bei allen Rezensenten auf großen Zuspruch. Auf diese Weise wird der Reformator von mythischen Spinnweben befreit und erscheint als Mann seiner Zeit, als großer Wittenberger Netzwerker, wie die Kulturhistorikerin Ulinka Rublack in der
Zeit betont. Dirk Pilz
bezeichnet das Buch in der
FR als "wegweisend", weil Schilling die zeitliche Distanz einhalte und "Luthers Wirken immer von der Wirkungsgeschichte Luthers" trenne. Hans Maier
hebt in der
Welt das Verdienst des Autors hervor, Luther
vom Denkmalsockel des Übermenschen geholt und auf die Augenhöhe seiner Zeitgenossen gebracht zu haben. Er sieht, wie auch Thomas Kaufmann in der
SZ und Bernhard Lang in der
NZZ, den Höhepunkt des Buches, auch in der Neubewertung von Luther, im
Treffen zwischen Kaiser und Reformator beim Wormser Reichstag. Tom Goeller
fasst im
DeutschlandRadio das Buch zusammen, und das Reformationsportal
luther2017 unterhält sich mit Schilling angeregt über Luthers
Antisemitismus und Toleranzbegriff.
Mark BowdenKilling OsamaDer geheime Krieg des Barack Obama
Berlin Verlag, Berlin 2012, 320 Seiten, 14,99 Euro
Mit seinem Buch "Black Hawk Down" über das Desaster der amerikanischen Intervention in
Mogadischu hat sich der Amerikaner
Mark Bowden vor knapp zwanzig in die Annalen der
Kriegsreportage eingeschrieben. Und offenbar ist auch "Killing Osama" ein Meilenstein des Genres. Detailliert beschreibt Bowden darin, wie die CIA
Osama bin Laden in seinem pakistanischen Versteck in Abbottabad aufgespürt hat, wie in Washington die Entscheidungen gefällt wurden und wie die berühmte Operation "Geronimo" letztendlich ausgeführt wurde. Schlichtweg "bewundernswert" findet Julia Encke in der
FAZ die Leichtigkeit, mit der Bowden der Materialfülle Herr wird. Trotz gewisser inhaltlicher Vorbehalte schätzt Andrian Kreye in der
SZ Bowden als spannenden Erzähler und kann nur die amerikanischen Reporter beneiden, deren Magazine solch
aufwändige Recherchen ermöglichen. Jason Burke
verfolgt im
Guardian geradezu fassungslos den Quantensprung, den
Drohnen-,
Computer- und
Überwachungstechnik in den vergangegen fünf Jahren vollzogen haben. Die
New York Times hätte sich allerdings einen kritischen Blick auf die Praktiken der CIA
gewünscht.
Dominik GrafHomicideDiaphanes Verlag, Berlin 2012, 112 Seiten, 10 Euro
Amerikanische Fernsehserien setzen seit Jahren Maßstäbe. Der Diaphanes Verlag bringt nun eine Reihe heraus, in der sich prominente Autoren mit einzelnen Serien befassen.
Dominik Graf schreibt über die Serie "Homicide", von der in den neunziger Jahren 122 Folgen produziert wurden und die auf den Erfahrungen des Reporters und späteren
"The Wire"-Schöpfers David Simon basiert. Dieser Beitrag ist besonders interessant, weil Graf im Gegensatz zu den anderen Autoren - darunter Diedrich Diedrichsen, Dietmar Dath und Bert Rebhandl - von der Filmpraxis kommt. Da liegt es nahe, die Aussagen über "Homicide" auf
Grafs eigenes Schaffen, etwa den erfolgreichen TV-Mehrteiler "Im Angesicht des Verbrechens" zu beziehen. "Wer verstehen will, wie Graf seine eigene Arbeit begreift..., dem sei dringend die Lektüre des Homicide-Bandes empfohlen",
schreibt etwa Volker Hummel im
Freitag. Dem
stimmt Andreas Resch in der
taz zu, weist aber auch darauf hin, dass diese "detaillierte und stilistisch
ausgezeichnete Analyse" nicht nur für Graf-, sondern natürlich auch für "Homicide"-Fans ein Muss ist.
Ein ebenfalls hochgelobtes Filmbuch ist
Kevin Vennemanns Essay
"Sunset Boulevard" (Suhrkamp, 14 Euro,über das "Filmen, Bauen und Sterben in Los Angeles", den
SZ-Rezensent Felix Stephan auch bahnbrechend für das Verständnis von
Fiktionalität in der Literatur findet.
W.D. WilsonGoethe. Männer. KnabenAnsichten zur Homosexualität?
Insel Verlag, Berlin 2012
Gebunden, 503 Seiten, 28,95 EUR
Kaum zu glauben, aber wahr: Über Goethe gibt es immer noch Neues zu sagen. Höchst interessant und dabei überaus modern waren, so scheint, seine Auffassung zu
Homosexualität und Knabenliebe. Modern nicht nur, weil er ihnen mit Verständnis, ja Sympathie begegnete, sondern weil er das Phanomen als einer der ersten nicht nur aus der Warte des älteren Liebenden, sondern auch des
jüngeren Geliebten sah, dem er in "Ganymed" eine Stimme gab - und den er damit als Subjekt emanzipierte,
schreibt Philipp Kurbel in einer lesenwerten Kritik in der
Badischen Zeitung. Goethe war halt einer der
freiesten Geister,
meint ein bewundernder Gustav Seibt dazu im
Deutschlandradio und lobt die Gründlichkeit und den
Materialreichtum von W.D. Wilsons Studie. Ebenso Jens Bisky in der
SZ und Manfred Osten in der
FAZ.
Jared DiamondVermächtnisWas wir von traditionellen Gesellschaften lernen können
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2012, 592 Seiten, 24,99 Euro
Seit Jahrzehnten beobachtet der Geograf, Evolutionsbiologe und Anthropologe
Jared Diamond traditionelle Stammesgesellschaften vor allem in Papua-Neuguinea. Seine Erfahrungen mit den Sammlern und Jägern hat er zur großen Freude der RezensentInnen in diesem Buch versammelt, das, so ihr einhelliges Urteil, fast ganz ohne eine Idealisierung traditioneller Gesellschaften auskomme. Denn bei seinen Beobachtungen zu Krieg und Gewalt, Erziehung oder Tod erfährt er zwar, wie gekonnt nomadische Gesellschaften ihre Kinder zur Autonomie erziehen, aber auch wie gnadenlos sie ihre Alten aussetzen. Mustergültig findet Helmut Mayer in der
FAZ, mit welch "
unbeirrbarer Nüchternheit" Diamond ihr damit den "Raum des Menschlichen" erweiterte. In der
Zeit hält Elisabeth von Thadden für besonders verdienstvoll, dass ihr der Band vor Augen führte, was an der westlichen Moderne politisch schützenswert ist". In der
SZ lobte Detlev Claussen das hohe Reflexionsniveau des Autors, genoss aber doch hin und wieder den "
Hauch von Rousseau", der ihm sanft aus dem Buch entgegenwehte.
Nikolaus PevsnerGeheimreport Deutsches DesignDeutsche Konsumgüter im Visier des britischen Council of Industrial Design (1946)
Wallstein Verlag, Göttingen 2012, 336 Seiten, 29,90 Euro
Als recht außergewöhnliches Unterform der Kunstgeschichte muss man wohl diesen Report klassifizieren, der seine Entstehung einer militärischen Operation verdankt: Der
britische Militärgeheimdienst BIOS schickte 1946 eine Expertengruppe nach Deutschland, die quasi als Reparationsleistung das Know-how deutschen Designs abschöpfen sollte, vom Bauhaus bis zum
Edelstahl aus Solingen. Leiter der Mission war der Kunsthistoriker
Nikolaus Pevsner. In der
SZ verfolgt Thomas Wagner zwar vergnügt der irren Entstehungsgeschichte dieses Buches, nimmt es am Ende aber sehr ernst: Denn herausgekommen ist bei dem Report eine veritable und gewichtige Geschichte des einmal sehr avancierten deutschen Industriedesigns.