Virtualienmarkt

Google Print

oder Wissen ist Macht. Von Rüdiger Wischenbart
17.05.2005. Der Aufschrei des gallischen Dorfs gegen Google Print trifft einen richtigen Kern, führt aber zu ganz falschen Konsequenzen.
Dies ist eine jener vertrackten Geschichten, in denen die einen die Welt verbessern wollen, während andere durchaus gute Gründe dagegen ins Feld führen.

Es geht dabei um nichts Geringeres als um den Traum aller Bibliothekare seit der Einrichtung der Sammlungen im altägyptischen Alexandria, das gesamte Wissen der Welt schön übersichtlich zu versammeln und so anzuordnen, dass es jederzeit abzurufen ist. "Jederzeit" bedeutet heute auf einen Klick, sofort und von überall her.

Google, die kalifornische Internet Suchmaschine mit dem unbescheidenen Anspruch, das "Wissen der Welt zu organisieren", macht damit, neuerdings weit über das Internet hinaus zielend, ernst. Unter dem Titel "Google Print" sollen künftig neben Webseiten auch Bücher und ganze Bibliotheken online dem direkten Zugriff per Mausklick eröffnet werden.

Ausgestattet mit rund 200 Millionen Dollar aus dem vorjährigen Börsengang setzt das Unternehmen auf eine energische Doppelstrategie. Einerseits wirbt der Suchdienst bei Verlagen um die Erlaubnis, Buchneuerscheinungen zu scannen und übers Web auffindbar und einsehbar zu machen. Die Verlage lockt der kostenfreie Anreiz auf höhere Umsätze durch die Internetsuche. Google bereitet die Bücher so auf, dass zwischen 20 und 100 Prozent davon einsehbar werden, jedoch - zum Schutz des Urheber- und Verwertungsrechts - nicht auszudrucken sind.

Zum anderen hat Google mit einer Handvoll angelsächsischer Bibliotheken, darunter Harvard, Oxford, Stanford und die New York Public Library, vereinbart, aus deren Beständen insgesamt 15 Millionen überwiegend ältere Bände vollständig zu digitalisieren.

Einen Hauch der Vision, gewissermaßen im Probierglas, kann man schon jetzt bei Googles Konkurrenten und möglichem Partner, dem Online Buchhändler Amazon über dessen Experimentalplattform A9 erkunden. Diese durchaus brauchbare Suchmaschine, die Googles Suchtechnologie mit Amazons "Search Inside the Book" verknüpft, zeigt schon jetzt auf der Basis eines wenngleich noch kleinen, ausschließlich englischsprachigen Katalogs, wie sich Bücher, Bilder und Websites fein übergreifend durchsuchen lassen.

Doch nun, da Google sein "Print"-Projekt auf das vielsprachige Europa auszudehnen beginnt, auf allen Buchmessen sein Vorhaben bewirbt und Verlage kontaktiert, gibt es statt breiter Zustimmung zur Utopie des Wissens für alle einen vielstimmigen Aufschrei, der in Frankreich seinen Ausgangspunkt genommen hat.

Absurd? Nicht ganz.

Die grundlegende Analyse ist einfach nachzuvollziehen. Wer, wie Google, beansprucht das "Wissen der Welt zu organisieren", versammelt in einer Wissensgesellschaft erhebliche Macht. Die Vorstellung, dass eine einzelne Maschine, eine Firma, ein Algorithmus mit ungeheurer Dominanz sich durchsetzt zur Organisation alles frei zugänglichen Wissens ist eine Vorstellung, die mit den Prinzipien kultureller Vielfalt schwer zu versöhnen ist.

Seit einigen Monaten wirbt der Präsident der französischen Nationalbibliothek Jean-Noël Jeanneney mit einem Pamphlet und mit Appellen an Kollegen und Politiker für ein europäisches Gegenprojekt. 19 europäische Nationalbibliotheken, darunter auch die österreichische und die deutsche, haben sich der Forderung angeschlossen, man möge eine europäische digitale Bibliothek als Konkurrenz und Alternative zu Google als einem "amerikanischen" Projekt initiieren.

Vor gut einer Woche hat die Europäische Kommission, ausgerechnet in der Comedie Francaise in Paris, auch auf höchster politischer Ebene entsprechende Absichten kund getan und erste finanzielle Mittel in Aussicht gestellt, um rasch und mit Entschiedenheit die amerikanische Dominanz unter dem Banner der kulturellen Vielfalt durch ein europäisches Vorhaben zu konterkarieren. Und doch wirkt die losgetretene europäische Abwehrschlacht gegen die kalifornischen Google Wunderboys Larry Page und Sergey Brin nicht als eine wirklich glückhafte Strategie.

Das Projekt Google Print hat, auch abseits der politischen Frage kultureller Dominanz, erhebliche Probleme eingebaut. So ist es völlig unklar, ob Verlage überhaupt über die Rechte verfügen, die sie Google überlassen sollen. Heute übernimmt Google alle Kosten, lässt sich nur sehr eingeschränkte Verfügungsrechte einräumen und überlässt damit, nebenher, alle komplizierten rechtlichen Fragen den Verlagen. Google behauptet, doch nur Marketing für die Bücher zu machen. Wenn freilich ein Autor dies nicht will, wird er sich am Verlag schadlos halten. Google bleibt außen vor - oder bietet an, den Titel aus der Liste zu nehmen.

Für Webseiten gilt heute schon, dass letztlich nur existiert, was über Google gut auffindbar ist. Wenn Google-Print erfolgreich ist, wird es den bestehenden Katalogen lieferbarer Bücher Konkurrenz machen, indem es den weltweiten "Superkatalog" bereitstellt, und dann gilt das entsprechende Verdikt auch für Bücher - also für Wissen insgesamt. Das ist Macht.

Dass Google-Print nicht allein schöngeistige Werbung für Bücher bietet, belegt ein Passus in der den Verlagen angebotenen Vereinbarung: Google schaltet bei den Fundstellen für Bücher, wie sonst auch bei Webseiten, seine patentierten und erfolgreichen kleinen Werbebanner zu und bietet nun den Verlagen an, die Erlöse daraus zu teilen. Hier bahnen sich erhebliche Interessenskonflikte an zwischen den Verlagen, die weiterhin die Kontrolle über ihre Titelkataloge und Vertriebswege bewahren wollen, den Autoren, die Werbung für ihre Titel verlangen, und dem Buchhandel, insbesondere abseits der großen Ketten und Onlinehändler. Dies sind keineswegs kleine Scharmützel, sondern tektonische Brüche quer durch das Fundament von Kultur und deren wirtschaftlicher Organisation.

Wenn die Europäische Union nun ihr eigenes Google Print schaffen will, tritt sie, im ungünstigsten Moment und ohne klare Perspektive, mitten in eine über die laufende Debatte um ein aktuelles Urheberrecht bereits aufgewühlte Landschaft. Denn die hier nur grob angerissenen praktischen wie rechtlichen Probleme wären nicht anders, wenn die EU anstelle einer Firma aus Mountain View, Kalifornien, der Betreiber des Vorhabens ist. Außerdem hat sich schon öfters erwiesen, dass nationaler Stolz nicht immer der beste und innovativste Baumeister ist, wenn es um den Wettbewerb mit hoch innovativen Unternehmen geht.

Der mit hohen Ambitionen nicht zuletzt auch zur Digitalisierung und Verbreitung des gesamten Wissens ausgelegte Neubau der französischen Nationalbibliothek in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sollte als ein warnendes Beispiel dienen. Bis heute verzeichnet der Katalog der digitalen Bestände unter dem schönen Namen "Gallica" schmale 80.000 Titel, viele davon nach nicht mehr zeitgemäßen technischen Standards eingescannt, nämlich als Grafik und somit nicht im Volltext durchsuchbar - "Gallica" ist eine Totgeburt. Und 80.000 Titel sind schon jetzt erheblich weniger als jene mehr als 100.000 Bücher, die Amazon heute in seinem bereits erwähnten "Search Inside the Book", Wort für Wort durchsuchbar, online vorrätig hält.

Die Relationen zwischen Google und dem angekündigten europäischen Gegenstück werden, je näher man sie betrachtet, nur umso absurder. Beim europäischen Gipfel in der Vorwoche kündigte die zuständige EU Kommissarin Viviane Reding 36 Millionen Euro für die Entwicklung einer europäischen Suchmaschine und weitere 60 Millionen für die Digitalisierungsbemühungen an. Verglichen mit Googles Projektmittel von 200 Millionen Dollar allein für die Erschließung der Bibliotheken und angesichts seiner erprobten Technologie plus der bereits bestehenden globalen Marktpräsenz erscheinen die Erfolgschancen für die europäische Herausforderung auf dieser Ebene nicht besonders groß.

Allerdings geht es in dieser Konkurrenz gar nicht nur um Geld. Auch Microsoft hat sich, ungeachtet seiner mit Milliarden gefüllten Kriegskassen, bislang an Google die Zähne ausgebissen. Die möglichen Ursachen hat das amerikanische Wirtschaftsmagazin Fortune unlängst deutlich gemacht: Google ist so schwer angreifbar, weil es auf unterschiedlichsten Betriebssystemen läuft, für die Nutzer gratis ist und folglich nicht unterboten werden kann, und es verdient sein Geld mit Anzeigen, die so gut funktionieren, weil sie allgegenwärtig sind. Jede beliebige Website kann sich einbinden lassen.

Kurzum, Google lebt davon so gut, dass es ein Knoten ist, der so viele Nutzer verbindet. Google ist gut, weil alle in Google suchen und deshalb dort auch selbst auffindbar sein wollen.

Andererseits aber ist Google längst nicht mehr die "offene", freundlich lächelnde Plattform, die sein Logo und sein Image suggerieren. Ein überdeutliches Indiz dafür sind die Verträge, die Google seinen Verlagspartnern für die Übernahme von Titeln anbietet. Diese unterliegen amerikanischem Recht und sind allein vor einem Gericht in Kalifornien anfechtbar - keine gute Perspektive für einen kleinen oder mittelgroßen Verlag irgendwo in Europa und gewiss keine wünschenswerte Grundlage für die "Organisation des Wissens der Welt".

Genauso wenig ist annehmbar, dass das Bibliotheksprojekt ausschließlich angelsächsische Einrichtungen umfasst, auch wenn diese natürlich zahlreiche Bände in allen möglichen Sprachen der Welt in den Regalen haben.

Wenn, wie gesagt, Googles Stärke darin besteht, dass alle daran teilhaben wollen, dann bietet dies für Europa eine viel stärkere Angriffsfläche für eine offensive Strategie als der Selbstbau irgend eines Konkurrenzprodukts. Europa soll mit aller (politischer) Macht auf eine Mitgestaltung der Spielregeln für die Entwicklung der umfassenden Bibliothek der Zukunft pochen.

Das Spektrum der Forderungen dazu wäre erst einmal zu erstellen in Gestalt einer langen Liste, die vom europäischen Gerichtsstandort für europäische Vertragspartner über eine gemeinsame Grundsatzerklärung von Google und der Europäischen Union betreffend die auch langfristig offenen und kostenlosen Zugang zu den über den Suchdienst indizierten Informationsbestände bis hin zur Erweiterung der zu digitalisierenden und indizierenden Wissensressourcen um einen breiten europäischen Katalog von Bibliotheken reicht - für den dann gerne auch erhebliche europäische Finanzmittel einsetzbar sind. (Nur ein Detail, wenngleich eines von weit reichender Wirkung: Die Europäische Kommission gibt derzeit viel Geld aus, um Informationen aus öffentlichen Quellen - "Public sector information" - einfach zugänglich zu machen: Muss nicht gerade auch dies Bestandteil einer solchen Initiative sein?)

Politisch könnte dabei ausgerechnet ein zwei Jahrzehnte zurückliegender Erfolg französischer kulturpolitischer Hartnäckigkeit ein Vorbild sein. Damals stemmte sich Frankreich der weltweiten Liberalisierung des Handels im GATT Abkommen entgegen, um seine "Exception culturelle" durchzusetzen - die Einsicht, dass kulturelle Güter besonders zu behandeln sind. Die damals durchgesetzten kulturellen Programme wirkten sich maßgeblich auf die Förderung kultureller Vielfalt in Europa aus, von Film und Musik bis zur Regionalkultur und zum Nutzen sowohl der Kulturschaffenden wie der Kulturindustrie.

Die Zeit drängt. Wie man mit Verve und Drive die Konkurrenz aufmischt, das haben Larry Page und Sergey Brin mit Google bereits einmal erfolgreich gezeigt. Die Herausforderung, die heute von Google-Print und einigen verwandten Projekten ausgeht, ist so massiv, dass die hoch gehängte europäische Reaktion durchaus angemessen ist. Aber die Antwort kann nicht sein, das Rad, das sich plötzlich sehr rasch dreht, noch einmal zu erfinden, nur eben diesmal auf einer europäischen Nabe. Eine bessere Antwort wäre, mitzuwirken um dieses Rad zu lenken.