Virtualienmarkt

Die Situation ist paradox, aber vertraut

Von Rüdiger Wischenbart
08.11.2004. Die Musikkonzerne wollen in den Markt zurückkehren, auch im Internet. Dumm ist nur die Sache mit dem Publikum.
Als im Juni 1922 klar war, dass auch in Deutschland die neumodische Erfindung des öffentlichen Rundfunks nicht mehr zu verhindern sein werde, beschloss das Reichspostministerium, "die Sache in Deutschland von vornherein so aufzuziehen, dass die Interessen des Reichs gewahrt bleiben und eine Entwicklung, wie sie Amerika erlebt, unmöglich gemacht wird." (mehr dazu hier.)

An die frühe Geschichte des Radios zu erinnern, ist immer eine gute Sache, wenn man den aktuellen Dschungelkrieg zu begreifen versucht, der rund um Musikindustrie, Quoten, Urheberrecht und das, was in unseren Ohren nachklingt, tobt. Dann kommt einem etwa in den Sinn, dass das Radio anfangs auf technische Erfindungen aufbaute, bei denen sich erst allmählich herausschälte, wie die Leute sie tatsächlich nutzen würden.

Die anfänglichen Anwendungen, etwa in der Radiotelegraphie, waren bekanntlich durch und durch kriegerisch. Manch einer dachte in den frühesten Pionierzeiten des Radios etwa ernsthaft, Radio, das sei ein Medium zur Kommunikation zwischen Menschen, die mit Kabeln verbunden sind, wo jeder Teilnehmer wechselweise sowohl Sender wie auch Empfänger sein kann. Erst nach dem Ersten Weltkrieg, in den turbulenten zwanziger Jahren, setzte sich das später dominierende Prinzip durch, wonach irgendwo ein machtvoller Sender aufgebaut wird, der dann - im Auftrag einer Firma, wie in den USA, oder für die Regierung, wie in Deutschland - das weite Land mit einem Programm bestrahlt. Oder anders gesagt, es war zu Beginn der Radiogeschichte längst nicht ausgemacht, dass das 'Publikum' in der Regel eine passive Gesellschaft ist.

Heute, nach nur ein paar Jahren ungestümer Internetpiraterie, insbesondere bei Musik, nach wild entschlossenen Klagekampagnen der Musikindustrie gegen die eigene, vorwiegend junge Kundschaft, und nun, in den vergangenen Monaten, nach der Einführung der ersten großen legalen Musikläden am Web auch in Europa hat sich plötzlich herausgestellt, dass längst nicht abgemacht ist, wie und durch wen die Verbreitung populärer Musik in Zukunft organisiert sein wird. Auch wenn, um im Eingangsbeispiel zu bleiben, zwischen 1922 und 2002, als Regel galt: "Die Radios und die Plattenfirmen machen das Programm", so hat dies nicht zwangsläufig auch noch morgen in dieser Form seine Gültigkeit.

Schon heute gilt, dass jeder DJ, wenn er nur die Vibes des Publikums gehörig zum Schwingen bringt, damit berühmt und folglich einflussreich werden kann. Das heißt, dass sich aus dieser direkten Schleife zwischen DJ und seinem Publikum ein machtvolles Potenzial aufschaukeln kann, so dass sehr plötzlich mitten in Deutschland indischer Pop, in Wien oder in New York komplizierte Balkan-Rhythmen oder in Berlin die allerneueste neue deutsche Welle ganz dolle angesagt sein kann.

Das sind alles keine ganz neuen Gedanken, zugegeben. Aber iTunes, also der Online Musik Service von Apple, der schon bislang einige Dinge richtig getroffen hat, führt nun als neuesten Menüpunkt die individuelle Speisekarte ein. Und solche Dinge haben es möglicherweise in sich.

Unter iMix sind alle NutzerInnen von iTunes aufgerufen, ihre persönlichen "playlists" öffentlich darzulegen (und natürlich lässt sich jeder aufgeführte Titel mit einem Click dann auch kaufen). Das klingt wiederum in sich nicht sensationell. Bloß entspricht das genau jenem Werkzeug, das als individuelles Bewertungs- und Verstärkungstool schon maßgeblich zum Erfolg von eBay und Amazon beigetragen hat ("Kunden, die dieses Buch angesehen haben, haben sich auch für jene Küchenmaschine ... pardon, für diese Bücher - interessiert').

Schon Napster, Kazaa und all die anderen Tauschbörsen für großteils illegal angebotene Musik sind durch vergleichbare Verstärkungen zwischen Gleichgesinnten so explosionsartig gewachsen. Darüber hinaus sind die zahllosen individuellen Computer-Festplattenarchive der Fans, in der neueste und älteste Aufnahmen plötzlich wieder als individuelle Geschichten gleichberechtigt und eng nebeneinander liegen, zu einem neuartigen "totalen Archiv" zusammengewachsen. (Süddeutsche Zeitung, mehr hier.)

Die gehandelten Musikeinheiten - und damit jene Musik-Steinchen, mit denen zumal das jüngste, hoch mobile Publikum seine Moden und kulturellen Orientierungen markiert - werden in immer kleineren, immer flexibler, immer nervöser handhabbaren Konfektionierungen abgepackt. Manche der neuen legalen Musik-Läden experimentieren neuerdings mit Streaming- (also: "nur einmal anhörbaren" ) Angeboten um einen Cent pro Song. Die weltweit wichtigste Fachzeitschrift für die Musikindustrie, Billboard, hat nun sogar Handy-Klingelton-Charts einführt. Mit Handy-Klingeltönen werden weltweit pro Jahr rund 3,1 Milliarden US Dollar umgesetzt, in den USA allein etwa 300 Millionen. (Mehr hier.)

So wird rasch klar: Hier geht mächtig was ab. Und: Hier drückt das Publikum die Tasten - oder, manchmal, trotz aller aufgewandten Marketingetats, auch nicht. Berechenbar und vorhersagbar ist das im Augenblick alles nicht.

Interessant ist nun, welche Strategien die Musikindustrie darauf reimt - die sich doch stets auch als Vertreterin der Urheber all des geistigen Eigentums an der Musik deklariert.

Nur ein Schelm erinnert sich an die Ankündigungen der Bertelsmann Music Group (BMG) vor zwei Jahren, man wolle in Zukunft nicht mehr "abhängig von Super-Stars" sein. Absurd hohe, also viel zu riskante, weil zumeist nicht amortisierbare Verträge mit Stars wie Whitney Houston über 100 Millionen Dollar ließen damals die Musikmanager abwinken, um dann lapidar Sätze wieder diesen nachzureichen: "Wir müssen mit dem Graubrot fünf Prozent Gewinnrendite schaffen.' (Zitiert im allerersten Virtualienmarkt vom März 2002.)

Nun, das "Graubrot" - also die vielen kleinen und mittleren "Acts" - werden neuerdings ganz ohne Umschweife vom Wecken geschnitten, allerdings nicht mit fünf Prozent Rendite, sondern als unverkäufliche Ware. Die BMG kündigte im vergangenen Sommer 60 Prozent ihrer deutschen Künstler die Verträge. Wer weniger als 25.000 CDs verkaufte, musste gehen. In der Pressemeldung hieß es ausgerechnet, die Konzentration auf wenige Top-Stars solle das Risiko unprofitabler Veröffentlichungen für das Label verringern. Die anderen Musik Major Labels haben ähnlich auf Reduktionskost gesetzt.
Die Situation ist paradox, wenngleich gut vertraut. Die in der Vergangenheit verwöhnten großen Akteure - die, ihrem Selbstbild nach, tragenden Säulen der Musikkultur - , kappen die Kultur in ihrer Breite, sobald das Geschäft damit schwierig wird und rufen flankierend nach dem Staat, die Spielregeln so anzupassen, dass alles bleibt, wie es einem gerade in den Kram passt, etwa über das Urheberrecht, über diverse "Quoten", oder wie jüngst in Frankreich mit dem Ruf nach Kultur-Sonderschutz für die ganze Chose.

Dumm ist nur die Sache mit dem Publikum, das sich nicht nach diesen Spielregeln richten will. Und noch dümmer, wenn aus einer ganz anderen Ecke plötzlich neue Spieler auftauchen und alles Wünschen und Kungeln verderben - Stichwort Amazon, Ebay oder nun eben iTunes mit iMix.

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(Geschrieben am US Wahltag, mit passiver Unterstützung diverser jeweils nach "Absatz"-Bedarf zusammengestellter Musik, insbesondere mit "Nebraska" von Bruce Springsteen und "La Chasse aux papillons' der Freres Jacques.)