12.05.2003. Dier Verlage und Medien mögen sich wehren - aber das Publikum liest immer mehr am Bildschirm und will immer weniger dafür bezahlen.
Gute Überschriften muss man einfach ausborgen, wenn einem selbst nichts Besseres einfällt. Die wunderbare
Biennale der Kunst, die dieses Jahr zum 50. Mal in Venedig stattfinden wird, steht unter dem Titel "
Sogni e Conflitti; La dittatura dello spettatore". Im Ernst, welche Formel könnte besser beschreiben, was die Medienlandschaft um uns durchschüttelt, als diese wenigen Worte: "Träume und Konflikte. Die Diktatur des Publikums."
Nehmen wir als Exempel ausnahmsweise nicht gleich wieder die Pop-Musik, sondern
Bücher und Zeitungen. Da seufzte kürzlich der Stratege eines großen europäischen Medienhauses - kein Deutscher, wohlgemerkt - hörbar auf und sagte im kleinen Kreis: "Jetzt haben wir in den vergangenen Jahren all unser Zeug (also die vielen schönen Bücher) digitalisiert. Und nun sitzen wir drauf und wissen nicht, was wir damit anstellen sollen." Die digitalen Bücher auf den Markt zu werfen, komme nicht in Frage, denn am Internet würden sie, siehe die schrecklichen Erfahrungen der Musikindustrie, nur vom Publikum geklaut.
Die Sorge ist nicht ohne Grund. Wer sich ein wenig auf den
Online-Tauschbörsen umsieht, über die viele Millionen von (nicht nur) Jugendliche Musik, Spielfilme, Software und wer weiß was sonst noch an großteils urheberrechtlich geschützten Dingen verschieben, findet zunehmend
auch Bücher im Angebot. Dabei ist es wenig überraschend, nahezu den kompletten
John Grisham (in englisch und deutsch), alle Bände
Harry Potter (inklusive der Noten zu Eule Hedwigs "theme song"),
Henning Mankell (nur in deutsch) oder neuerdings natürlich auch
Michael Moores "Stupid White Men" zu finden. Logisch auch, dass insbesondere Audiobooks besonders beliebt sind, da die auf CD bereits digital vorliegen.
Zur Zeit scheint die Abteilung "Allgemeines Sachbuch" zunehmend zu wachsen.
Dietrich Schwanitz? "Bildung" und seine "Geschichte Europas" bietet jemand unter dem schönen Pseudonym "Zarathustra" liebevoll in Kapitel und Abschnitte aufgeteilt in passenden Happen an. Verfügbar sind auch "Dr. Atkin?s Diet Plan" oder eine Meditation des
Dalai Lama. Vielleicht ein wenig seltsam mutet an, wenn Comic-Bände ("Tintin", oder "Les Tuniques Bleues") im Audioformat mp3 dargeboten werden.
Dennoch, die eigentliche Überraschung ist immer noch,
wie beschränkt das Angebot an elektronischen Büchern am virtuellen Bazar (und entsprechend insgesamt, also auch bei Verlagen und im regulären Buchhandel) ist.
Ja, ja, heißt es gewöhnlich an dieser Stelle, die eBooks waren auch so ein Flop im Zuge der
kurzlebigen Höhenflüge in Sachen Internet und New Economy. Doch zum Glück sei dieser Traum ja geplatzt.
Mit Verlaub, das ist ein
Irrtum. Das wird rasch deutlich, wenn man nicht auf die Anbieter blickt (auf die Verlage, oder auf die Piraten bei Kazaa, die, wie alle Piraten, die Schiffe nicht selbst bauen und beladen wollen, welche sie plündern), sondern auf die Seite des Publikums wechselt. Wir reden dann auch nicht so sehr von Büchern, als vom Lesen.
Neuere Statistiken belegen mit eindrucksvollen Zahlen, was unsereins auf der Basis der Selbstbeobachtung schon längst vermutet hat. Wer ohnedies besonders viele (Sach-) Bücher
liest, liest zunehmend auch alles Mögliche digital, und mehr und mehr, ohne Seite um Seite auszudrucken. Gut
40 Prozent der Computernutzer tun es regelmäßig bis häufig, also ein- bis mehrmals die Woche, junge Leser noch häufiger. Auch ist die Rede längst nicht mehr nur von elektronischer Korrespondenz und Geschäftspapieren, für welche die Zellulose im Wald gelassen wird. Es sind immer mehr auch
längere Artikel aus Zeitungen und Zeitschriften, umfangreiche und auch komplexe Texte von mehreren Seiten. Und seit mit dem Bloggen auch das tägliche Mitteilungsbedürfnis insbesondere von meinungsfreudigen Multiplikatoren verstärkt in die digitalen Sphären abwandert, kann man auf ein dynamisches
Wachstum des Lesens am Bildschirm risikofrei Wetten abschließen.
Interessant sind ein paar semantische Spitzfindigkeiten, die das Bild bislang noch verzerren. So unterscheiden viele Erhebungen zwischen dem (aktiven) Lesen, welches Leser auch überwiegend positiv besetzen, und der (passiven) Nutzung des PC (die viele weniger angenehm bewerten). Wer also am Schirm liest, nennt dieses Tun entsprechend oft erst einmal nicht "Lesen". Das aber scheint dessen wachsender Bedeutung immer weniger anzuhaben.
Statt diese Selbstverständlichkeit des Lesens gerade eines jungen Publikums fröhlich zu begrüßen und zu fördern, liefern die Anbieter von Lesestoff - also Verlage und deren Verbände -
verbissene Gefechte gegen die Intelligenz ihrer Kunden. Am
Tag des Buches wird ein seltsam peinliches Um-die-Wette-schreiben inszeniert. Zum Jahrestag der Bücherverbrennung werden Bücher-Attrappen mit Ochsenkarren durch nachgebaute Altstädte geschippert. Die Buchverlage indessen halten ihre digitalisierten Vorlagen zurück in der Hoffnung, die nächste Generation von Konflikten mit den Lesern noch ein paar Jahre hinausschieben zu können.
Und ausgerechnet zwei große Zeitungskonzerne drohen wechselweise, sich das linke Bein abzuhacken (und den Berliner
Tagesspiegel einzustellen), oder den Rechten Arm auszureißen (und
Die Welt zu demontieren), falls die Politik ihren jeweiligen Wünschen gegenüber nicht willfährig ist.
Tatsächlich zerstören solche Aktionen die
fragile Bindung des bislang treuen Kulturpublikums an die Kulturindustrie, die in der Vergangenheit so erfolgreich darin war, sich als besondere Industrie und als Bastion des Geistes darzustellen. Dieser wertvolle Status verschwindet zusehends im Windschatten der Finanzstrategen und der Heere von Anwälten und Lobbyisten.
Das Publikum aber schert sich um all dieses Bemühen, die Zeit anzuhalten, ohnedies nicht, sondern wird immer unberechenbarer in seinen Launen und Vorlieben. Darin besteht auch die "Diktatur des Publikums". Es bedient sich gerne am angebotenen Überfluss, aber es relativiert ziemlich nüchtern dessen Wert - oder, anders gesagt, die Bereitschaft sinkt, für
all die bunte Medienwelt immer noch so viel zu bezahlen wie in den guten alten Zeiten, als Kultur tatsächlich noch eine besondere Ware war.
Wie dieser asymmetrische Konflikt ausgehen mag, zeigt wohl doch wieder am besten das Beispiel der Musik.
Während die großen fünf Musikkonzerne in die Medien durchsickern lassen, dass an "Killersoftware" gebastelt werde, die künftig Musikpiraten bis zum PC zu Hause ausfindig machen und deren Computer sabotieren kann, tritt plötzlich ein
weißer Ritter auf den Plan, stellt die Welt wieder vom Kopf auf die Füße - und sahnt wohl am Ende auch beim Publikum ab. Die Computerfirma
Apple, berühmt dafür, den Leuten auf die Finger zu schauen, scheint mit ihrer legalen neuen Online-Börse vieles richtig zu machen, was die angestammte Musikindustrie in ihrem Kampf gegen ihr Publikum nicht verstanden hatte. Innerhalb der ersten Woche setzte Apple damit Songs um eine Million Dollar ab.
Seien wird also als nächstes gespannt, wer den Leuten nun beim Lesen am Bildschirm über die Schulter schaut und einen zündenden Einfall hat.