14.06.2002. Sind die amerikanischen Medien zu palästinenserfreundlich? Ja, glauben viele Israel-Sympathisanten und rufen zum Boykott der New York Times, Los Angeles Times und der Washington Post auf. Aber nicht jeder findet das klug.
Die Berichterstattung über den
Nahost-Konflikt löst in Amerika seit Monaten heftige Reaktionen aus. Bisher regten sich amerikanische Juden, die mehrheitlich auf der Seite Israels stehen und das harte Vorgehen gegen die Palästinenser als notwendige Selbstverteidigung rechtfertigen, allerdings hauptsächlich über die
europäischen Medien auf. Weil sie die israelische Politik zum Teil heftig kritisieren, müssen sich seriöse Blätter wie Großbritanniens
Guardian, der
Independent oder der Rundfunksender
BBC Antisemitismus-Vorwürfe gefallen lassen. Allmählich kommen aber auch die
US-Medien, die in ihrer Nahost-Berichterstattung wesentlich vorsichtiger sind als ihre europäischen Kollegen, unter Beschuss. Und werden mit
Boykott-Aufrufen von Israel-Sympathisanten empfindlich unter Druck gesetzt.
Vergangenen Monat riefen verschiedene jüdische Organisationen, darunter auch
Rabbi Haskel Lookstein von der einflussreichen Upper East Side-Gemeinde
Kehilath Jeshurun und
Avi Weiss vom
Hebrew Institute in Riverdale, zum Boykott gegen die
New York Times auf (Der Boykottaufruf findet sich
hier). Der überraschende Leserprotest gegen ein hochangesehenes Traditionsblatt mit jüdischen Herausgebern wurde ausgelöst durch die angeblich zu
palästinenserfreundliche Fotoauswahl auf der Titelseite. Die
Times, wachsam gegenüber den Sensibilitäten ihrer jüdischen Leserschaft und seit Beginn des Konflikts um größtmögliche journalistische Ausgewogenheit bemüht, veröffentlichte Anfang Mai auf Seite Eins ein Foto von der jährlichen "Salute to Israel"-Parade in Manhattan, dass im Vordergrund pro-palästinensische Demonstranten zeigte, die ein Schild mit dem Schriftzug "Schluss mit der israelischen Besetzung Palästinas" hochhielten.
Für die Boykottbefürworter war das Foto der ultimative Beweis für die
palästinensische Propaganda der
Times. Immerhin brachte die Parade rund 100.000 Israel-Freunde auf die Strasse, während die Gegendemonstration nur 600-800 Leute zählte, ein Fakt der in dem begleitenden Bericht deutlich zum Ausdruck gebracht wurde. Doch mit der Fotoauswahl habe die
Times beide Demonstrationen auf die gleiche Stufe gestellt, argumentieren die Kritiker. In einer Hausnotiz am nächsten Tag gab die
Times ihnen sogar recht. Die Bildpräsentation sei "
unverhältnismäßig gewesen und hätte die unterschiedliche Größenordnung der Ereignisse besser reflektieren sollen", entschuldigte sich die Chefredaktion.
Den Boykotteuren war das zu wenig und zu spät. Sie riefen Times-Leser zur
temporären Kündigung ihres Abonnements auf. "Tag für Tag veröffentlicht die
Times Bilder von leidenden Palästinensern ohne vergleichende Bilder von leidenden Israelis", beschwert sich Rabbi Lookstein. Anstoß nahm die Pro-Israel-Front auch an einer Serie von
Hintergrundartikeln, die das Leben eines jungen palästinensischen Selbstmord-Bombers und parallel dazu das Leben eines seiner israelischen Opfer porträtierten. Wieviele Leser dem Boykott-Aufruf bisher folgten, ist schwer zu sagen.
Times-Sprecherin Catherine Mathis bestätigte zwar, dass es zu Abo-Kündigungen gekommen sei, wollte allerdings keine genauen Zahlen nennen. Ein ähnlicher
Boykottaufruf gegen die
Los Angeles Times im April kostete die Zeitung nach eigenen Angaben rund
1200 Leser. Beflügelt von solchen Erfolgen planen die Pro-Israel-Gruppen bereits weitere Leserstreiks gegen Zeitungen und Rundfunkstationen. Auf einer eigens eingerichteten
Webseite wird beispielsweise zum
einwöchigen Boykott im Juni gegen die
Washington Post aufgerufen.
Auch der Nachrichtensender
CNN ist dem Pro-Israel-Protestlern ein Dorn im Auge.
CNN-Nachrichtenchef
Eason Jordan wurde innerhalb eines einzigen Tages mit über
6000 emails bombardiert, die sich alle über die angebliche antiisraelische Haltung seines Jerusalem-Korrespondenten beschwerten. Und Bostons Public-Radio-Sender
WBUR-FM verlor in diesem Jahr über
eine Million Dollar in Sponsorengeldern, weil wütende jüdische Gruppen die Spender aufforderten, dem Sender wegen seiner antiisraelischen Haltung die Unterstützung zu entziehen. "Das einzige, worauf sich Yassir Arafat und Ariel Scharon dieser Tage offenbar einigen können, ist, dass sie beide denken, dass
CNN Partei für die Gegenseite ergreift", sagt Jordan über das Dilemma der Berichterstatter. Für viele Israel-Sympathisanten sei der Nahost-Konflikt solch ein erbitterter "Kampf ums Überleben", dass sie
keinerlei Gegenpositionen duldeten.
Diese eigentlich eher unamerikanische Tendenz zu Intoleranz und dem Ruf nach Nachrichtenunterdrückung beunruhigt inzwischen auch jüdische Intellektuelle.
Gary Rosenblatt, Chefredakteur der
Jewish Week, der größten jüdischen Wochenzeitung, hat die in seinen Augen unausgewogene Israel-Berichterstattung der
Times selbst oft genug kritisiert. Doch in seinem jüngsten Kommentar warnt er vor dem negativen "
Backlash-Effekt" eines Boykottaufrufs. "Wir, die wir für Meinungsfreiheit eintreten, negieren dieses Gut, wenn wir versuchen, wirtschaftliche Macht zu nutzen, um einen bestimmten Blickwinkel zu unterdrücken, mit dem wir nicht einverstanden sind", schrieb er im Editorial der
Jewish Week. "Wir sollten für
Fairness und Wahrheit werben und nicht der freien Presse einen Maulkorb verpassen."