Magazinrundschau

Universeller Jedermann

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
06.11.2012. Outlook India stellt den Henri Langlois des indischen Films vor. Das waren ja alles Pädophile, staunt die London Review of Books beim Betrachten alter Fernsehsendungen. Im Merkur rühmt Wolfgang Pehnt die robuste Poesie der Betonbauten aus den Siebzigern. In Eurozine analysiert Tatiana Zhurzhenko den Opferdiskurs in Osteuropa. GQ porträtiert RZA vom Wu Tang Clan. New Criterion hält es mit den bürgerlichen Werten Tschechows. Jean Renoir war Humanist und total antidemokratisch, notiert le Monde. Und in Les inrockuptibles bekennt Philip Roth: "Nemesis" war mein letztes Buch.

Believer (USA), 01.11.2012

Letztes Jahr, wenige Monate vor seinem Tod, besuchte Emma Brockes den 83-jährigen Kinderbuchautor Maurice Sendak (Bilder) in Conneticut. In einem wundervollen Interview spricht er über Leben, Tod, Rupert Murdoch, seinen perversen Hund und seine Familie, für die er sich lange schämte: "Ich will nicht übertreiben, wie schlimm es war. Sie waren gut zu mir. Sie bemühten sich. Sie hatten keine Erziehung, keine Lebenserfahrung. Sie kamen aus kleinen Shtetls in Polen und lebten in Amerika, was das merkwürdigste überhaupt war. Wie kommst du mit den Menschen klar? Du sprichst kein Englisch, du warst nie in der Schule. Deine Kinder werden durch die Gesellschaft von dir weggezogen. Ihr Leben war unaussprechlich."
Archiv: Believer

Outlook India (Indien), 12.11.2012

Namrata Joshi hat sich "Celluloid Man" angesehen, Shivendra Singh Dungarpurs Dokumentarfilm über P.K. Nair, den man sich als indische Entsprechung zu Henri Langlois vorstellen muss, als einen Filmsammler und -archivar, ohne den die (ohnehin mäßig dokumentierte) indische Filmgeschichte noch schlechter überliefert wäre: "Es gelang ihm, neun von den etwa 1700 in Indien entstandenen Stummfilmen zu retten und das in einer Zeit, in der von Geldsorgen geplagte Filmproduzenten dafür bekannt waren, ihre eigenen Filme als Schrott zu verscherbeln oder das in den Filmrollen enthaltene Silber zu extrahieren, um etwas Geld zu beschaffen. ... Seine Leidenschaft für das Kino war von der Art, dass er sich noch immer daran erinnert, dass sich die Sequenz an den Stufen von Odessa in der sechsten Filmrolle des 'Panzerkreuzer Potemkin' befindet und dass das Stück 'Aaj Sajan Mohe Ang Laga Lo' in der neunten Rolle von 'Pyaasa' knistert. Dieses Maß an Hingabe machte aus ihm einen Einsiedler - selbst für seine Familie."

Im Teaser zum Film bestellt sich Nair dann auch diverse Filmrollen wie aus einer Speisekarte:


Archiv: Outlook India

London Review of Books (UK), 08.11.2012

Mit tiefem Unbehagen wühlt Andrew O'Hagan im Zuge des momentanen Kindesmissbrauchsskandals um den Moderator Jimmy Savile und die BBC in der Geschichte des britischen Fernsehens, wo sich offenbar über viele Jahre ein Pädophilenring halten konnte. Liegt die Ursache dafür womöglich in einer Kultur der Pädophilie, die das britische Fernsehen in seiner Glanzphase bediente? "Savile fand eine Beschäftigung in der leichten Unterhaltung und blühte dort auf: Natürlich tat er das, denn diese Orte waren maßgeschneidert für Männer, die träumende Kinder auf ihren Knien verhätscheln wollten. Wer mit der 'goldenen Ära des britischen Fernsehens' aufwuchs, gewöhnte sich an erwachsene Männer wie Rod Hull, die auf der Bühne mit einem Mädchen wie Lena Zavaroni herumalberten. ... Britische leichte Unterhaltung hat etwas gruseliges an sich und hatte es schon immer. ... Jene von uns, die damit aufwuchsen, mochten ihre Absonderlichkeit, ohne je ganz zu verstehen, wie gruselig sie war. Ich meine, Benny Hill? Und dann wachen wir plötzlich im Jahr 2012 auf und wundern uns, warum sich so viele Leute daraus als abartig und unheimlich entpuppen."

Weitere Artikel: Jeremy Harding liest Philip Henschers Verteidigung der Handschrift.Theaterregisseur Alan Bennett schreibt über die Entstehung seines neuen Stücks "People". Lidija Haas stellt die HBO-Serie "Girls" vor. Julian Bell besucht eine Ausstellung mit Arbeiten von Alex Katz:


Merkur (Deutschland), 01.11.2012

Die Architektur der 50er Jahre hat sich mittlerweile erfolgreich rehabilitiert, auf weniger Sympathie stoßen die Megabauten der 60er und 70er Jahre. Der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt bricht im wohl ersten bebilderten Artikel des Merkurs (der leider nicht online steht), eine Lanze für Großsiedlungen, Sichtbeton und die "robuste Poesie" des Brutalismus: Was Architekten wie Gottfried Böhm mit seinen Bauten aus den sechziger Jahren, Kirchen und Rathausburgen in Bensberg oder Bocholt, Rolf Gutbrod mit seinen Universitätsbauten in Köln oder das Team der Bielefelder Universitätsplaner im Sinn hatten, war eine Ästhetik der größeren Sinnlichkeit, der tastbaren, körnigen Gebäudehäute, der stärkeren Körperhaftigkeit. Gegenüber ihrer desolaten Umgebung behaupteten solche bildstarke Schöpfungen eigensinnig ihre Sonderexistenz, schlossen sich trotzig ab, boten jedoch Zuflucht in ihren Leibeshöhlen. Der selbstbewusste Auftritt solcher Monumente ließ auf ein entsprechendes Selbstvertrauen der Urheber schließen."

Außerdem verteidigt der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg die fiktive Holocaust-Literatur gegen die Verfechter der Authentizität. Konrad Adam schreibt über Leistung.
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Economist (UK), 03.11.2012

Vor vier Jahren sprach sich der Economist noch deutlich für Obama aus. Nach der Bilanz einer Amtsperiode fällt die Empfehlung - vor allem angesichts seiner Wirtschaftspolitik - nicht mehr ganz so enthusiastisch aus: "Frühere Demokraten, insbesondere Bill Clinton, haben Steuern zwar erhöht, dabei aber noch immer den Kapitalismus verstanden. Den privaten Sektor schlecht zu machen, scheint für viele Leute im Umfeld von Obama eine zweite Natur sein." Von Romneys taktierendem Hin und Her in Wirtschaftsfragen hält der Economist unterdessen noch sehr viel weniger: "Kein überzeugendes Argument für die oberste verantwortliche Position. Und trotz all seiner Defizite hat Obama Amerikas Wirtschaft von der Grenze zum Disaster weggezerrt und sich in der Außenpolitik als annehmbare Faust erwiesen. Aus diesem Grund würde dieses Blatt zu dem Teufel, den es kennt, halten und ihn nochmals wählen."

Außerdem stößt der Economist bei der Lektüre der erstmals veröffentlichen Tagebücher von Richard Burton auf dessen intellektuelle Qualitäten (bei Daily Beast interessiert man sich eher für die pikanten Stellen aus dem Buch).
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Eurozine (Österreich), 31.10.2012

Die in Wien lehrende Politologin Tatiana Zhurzhenko wirft in dem Vortrag "Heroes into victims", der bei Eurozine publiziert ist, einen unerschrockenen Blick in die Abgründe der neueren Geschichte in Osteuropa und erklärt, warum sich nationale Gedächtnisszenarien in den postsowjetischen Ländern von Helden- zu Opferdiskursen wandelten, von "Triumph zu Trauma". Ein Beispiel sind für sie die baltischen Staaten, die mit der Thematisierung des Hitler-Stalin-Paktes einen Schritt in die eigene Unabhängigkeit machten: "Es gibt eine Menge Erklärungen für den sowjetischen Kollaps in der akademischen Literatur, aber über eine dieser Ursachen wird selten gesprochen: Das sowjetische Reich strauchelte unter der Last historischer Schuld. Und wenn Narrative des Leidens so effizient waren bei der Auflösung der Sowjetunion und es früheren Sowjetrepubliken erlaubten, nationale Unabhängigkeit zu gewinnen, dann ist es kein Wunder, dass politische Akteure sie bis heute nützlich finden - zum Beispiel, um geopolitsche Ambitionen Russlands einzuhegen."
Archiv: Eurozine

Prospect (UK), 31.10.2012

Edward Docx bestaunt nahe des Reichenbachfalls in der Schweiz viktorianisch gekleidetes Volk aus aller Welt - und mittendrin ein Meisterdetektiv: Hier wird gerade Sherlock Holmes' (vorläufiger) Tod möglichst akkurat nachgestellt. Den Reporter lässt solcher Aufwand über Holmes' ungebrochene Popularität sinnieren: "Conan Doyle hinterließ uns einen Charakter, dessen Wirkung so mächtig ist, weil er sowohl ein universeller Jedermann als auch ein beeindruckend eigenständiges Individuum ist. Man bedenke: Holmes entspringt weder der Elite, noch der Unter- oder der Mittelschicht. Er ist ein Insider, doch zugleich ein Außenseiter. Wir wissen nichts von seiner Bildung, beinahe nichts über seine Kindheit, sehr wenig über seine Ansichten, Erfahrungen oder Gefühle im Hinblick auf die etwa ein Dutzend grundierenden Themen, anhand derer ein Schriftsteller eine Figur entwickelt. Holmes hat keinen Beruf, außer dem, den er begründet hat. Er ist weder in einem Geschäft, noch vom Staat angestellt, und schmäht regelmäßig beider Gesetze und Prinzipien. Er bildet keine Bindungen, doch interagiert er stets mit der selben Gelassenheit, ganz gleich ob er sich in der Gesellschaft von Bengeln oder Königen befindet." Bei der BBC finden wir unterdessen einen Videobeitrag zur Nachstellung der Reichenbachfall-Szene.
Archiv: Prospect

Espresso (Italien), 02.11.2012

Porndemia: Mit eine Bilderstrecke weist L'Espresso auf eine Ausstellung in Turin hin, die sich mit pornografischen Motiven in der neuesten (und nicht ganz so neuen) Kunst befasst. Das Foto zeigt das Werk "Dildo e champagne" von Andrea Massaioli.


Archiv: Espresso
Stichwörter: Champagner

Financial Times (UK), 02.11.2012

Misha Glenny beschreibt in einer Reportage, wie Brasilien sich für die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 fit macht um sich als mindestens ebenso erfolgreiche Aufsteigernation wie China und Indien zu präsentieren. Einer der wichtigsten und schwierigsten Punkte: die Befriedung der von Armut, Drogenbanden und Milizen gebeutelten Favelas in Rio de Janeiro. Die Etablierung einer funktionierenden Polizei in diesen Vierteln, die die Banden verdrängt, klappt schon ganz gut. Das soziale Engagement lässt dagegen noch zu wünschen übrig, wie das Beispiel von Lucia Cabral zeigt, die seit vielen Jahren mit ihrer eigenen NGO versucht, die Lesefähigkeit in den Favelas zu verbessern. "Sie zeigt mir ihre neuen Büroräume, die aus Seecontainern gebaut sind. 'Das alles', sagt sie, 'hat mir die britische Botschaft besorgt, als sie von meiner Arbeit hörte. Prinz Harry wollte mich bei seinem Besuch in Rio treffen.' Cabral begrüßt die Polizeipräsenz in den Favelas und die zurückgegangene Drogenkriminalität. Aber sie sagt auch, es sei bezeichnend, dass der brasilianische Staat ihr mit nichts geholfen hat, während die Britische Botschaft in wenigen Tagen eine ganze Schule errichtet habe."
Archiv: Financial Times

Bidoun (USA), 01.11.2012

Anna Della Subin porträtiert den armenisch-amerikanischen Arzt Jack Kevorkian, auch bekannt als "Dr. Death", weil er als erster Arzt in Amerika öffentlich Beihilfe zum Selbstmord leistete. Subin beschreibt das Trauma dieses Sohns eines Überlebenden des Genozids an den Armeniern ebenso wie die zum Teil doch recht bizarren medizinischen Ideen, die Kevorkian im Laufe seines Lebens ausgebrütet hat. Und dann sind da noch seine Bilder, die im Armenian Library and Museum of America hängen: "Ein Mann liegt auf dem Rücken, im Koma, seine bloßen faltigen Füße ragen über das Bettlaken, während er Kopf voran in den dunklen offenen Mund eines blendend weißen Skeletts rutscht. Auf einem anderen Bild wird ein Mann, reduziert auf bloße Sehnen und Knochen, von Flammen verschlungen. Seine Augen sind himmelwärts gerichtet wie bei Jesus am Kreuz. Auf einem dritten Bild wurde einem knieenden Mann Hirn und Rückenmark entfernt. Sie hängen in Ketten neben ihm. Sein halber Körper hat sich in Kalkstein verwandelt: seine gesunde rechte Hand hält die zerschmetterte, abgetrennte linke. Sein Gesicht - wie das der Betrachter - zeigt eine schockierte Grimasse. ... Die Bilder sind bemerkenswert gut ausgeführt. Anders als die Arbeiten anderer unwahrscheinlicher Maler - Adolf Hitlers vielfarbige Blumensträuße und elegante Nackte oder Winston Churchills pastorale Szenen - sind Kevorkians Bilder bemerkenswert deutlich, auf schauerliche, fast lächerliche Art buchstäblich. Und der Mann im Koma, der Mann im Feuer, der Mann mit dem Hirn an seiner Seite sehen dem Auteur sehr ähnlich."
Archiv: Bidoun

Slate (USA), 02.11.2012

Choire Sicha findet es total überflüssig, wie zuletzt Arthur Krystal im New Yorker eine Grenze zwischen Genreliteratur und hoher Literatur zu ziehen. Besonders, wenn man die neue zweibändige Ausgabe mit Erzählungen der Fantasyautorin Ursula Le Guin in Händen hält: "Das einzige, was noch wundervoller wäre als diese Erzählsammlung, wäre eine Veröffentlichung aller Erzählungen von Ursula Le Guin. Wenn man ihre Vorliebe für diese Form bedenkt, könnte so ein Buch allerdings wohl nur digital-only erscheinen. ... In jeder guten, karriereumspannenden Auswahl kann man beobachten, wie ein Autor in seine Autorität wächst. Hier erzählt jede Geschichte auf ihre eigene Art, in ihrem eigenen Universum und in ihrem eigenen Ton, dass es in der amerikanischen Literatur keinen besseren Geist gibt als den Ursula Le Guins."
Archiv: Slate

Gentlemen's Quarterly (USA), 01.11.2012

Alex Pappademas porträtiert den sehr klugen Robert Diggs aka RZA, "Wu Tang Clan"-Gründer, Schauspieler und - nach einer Lehre bei Quentin Tarantino - Filmemacher. Gerade hat er seinen Erstling fertiggestellt, "The Man with the Iron Fists", mit u.a. Russell Crowe und Lucy Liu und Eli Roth als Produzent. "Der Film hat ein etwas übereifriges Tempo, einige Sets (vor allem Lucy Lius Bordell) scheinen aus der "P. F. Chang"-Kette zu kommen - aber sehen Sie, dieser Film soll kein Bertolucci sein. Auch kein 'Crouching Tiger' oder 'Kill Bill'. Es ist kein Kunstfilm, der auf einen Kung-Fu-Thema basiert, denn davon hat RZA schon eine ganze Reihe gemacht - nur waren es eben Wu-Tang-Clan-Alben, filmische Musik, in der das Kung-Fu-Thema vertieft und die Darstellung des Straßenkampfes in den Lyrics mythologisiert wurde. Dies hier ist ein Kung-Fu-Film, in dem Männer andere Männer verprügeln. Es ist ein Film, der 1982 das Publikum in der 42nd Street gepackt hätte, und mehr muss er auch nicht sein."

Le Monde (Frankreich), 02.11.2012

Die Krise, die Europa erfasst hat, ist keine finanzielle, sondern eine geistige, diagnostiziert der Philosoph Pascal Bruckner und empfiehlt, Europa solle sich von seinem "krankhaften Skeptizismus" lösen. "Wir sind uns unserer selbst so wenig sicher, dass wir den Hunger nach Freiheit anderer Völker viel zu sehr unterschätzen: Die empörte Reaktion der Pakistani nach dem Attentatsversuch der Taliban von Malala an diesem kleinen Mädchen, dessen Schuld darin bestand, zur Schule gehen zu wollen, beweist, dass das Krebsgeschwür des Extremismus niemals sicher sein kann zu wachsen, selbst in einer Nation, die starken Spannungen ausgesetzt ist. Europa ist niemals größer als in den Momenten, in denen es zur Welt spricht, seine alltäglichen Sorgen vergisst, um ein Vorbild abzugeben. Doch im Moment verstummt es, verheddert sich in seine Defizite, unfähig ein anderes Projekt zu formulieren als das Überleben. Dabei sollte Zerknirschung niemals den Widerstandsgeist ersticken."

Jean Renoir, viel bewundert für den Pazifismus seines Films "La grande illusion" in den Jahren vor dem Krieg, gilt als großer Humanist des Kinos. Und das war er auch, schreibt Pierre Asssouline in seiner Kritik der monumentalen Renoir-Biografie von Pascal Mérigeau. Und außerdem ging Renoir mit jeder Mode, solange sie nicht demokratisch war: "Als offizieller Regisseur der Kommunistischen Partei poliert er seine Rolle mit dem Film 'La Marseillaise', wo er die Schuld Marie-Antoinette gibt, um Ludwig XVI. zu schonen. Und die Revolution ähnelt in nichts einem Bürgerkrieg, während die Marseillaise beim Parteitag 1937 im (hagiografischen Porträtfilm 'Fils du peuple', d. Red.) mit dem französischen KP-Führer Maurice Thorez verknüpft wird. Dann seine Germanophilie in seinem Meisterwerk 'La rège du jeu', einem Kriegsfilm ohne Krieg, seinem einzigen Erfolg bei Kritikern und Publikum. Er bekennt seinen Stolz, als er erfährt, dass der Film Mussolini in Privatvorführung gezeigt wurde... und geht nach Rom mit lauter italienischen Projekten und attackiert die 'Invasion des amerikanischen Kinos' in der offiziellen italienischen Presse. Schließlich bittet er 1940 Jean-Louis Tixier-Vignancour, den Kinobeauftragten des Vichy-Regimes, um Verhaltensregeln, nicht ohne im selben Brief seinen Abscheu vor der 'Brut der zu eliminierenden Unerwünschten' zu bekennen, jene ausländischen Produzenten, die das französische Kino so verdorben hätten (und nebenbei manchen Film eines gewissen Renoir finanzierten...)"
Archiv: Le Monde

New Yorker (USA), 12.11.2012

Beeindruckend findet Louis Menand das neue Buch der Journalistin und Ostblock-Expertin Anne Applebaum "Iron Curtain: The Crushing of Eastern Europe", eine Rekonstruktion des Alltags- und Gefängnislebens der ehemaligen Ostblockstaaten. Sie habe, so erklärt Applebaum, verstehen wollen, wie sich der Totalitarismus anfühlte, also "nicht Totalitarismus in der Theorie, sondern Totalitarismus in der Praxis". Menand schreibt: "'Iron Curtain' ist ein Post-Kalter-Krieg-Buch. Es ist kein Ruf zu den Waffen oder eine Warnung über versteckte Gefahren in unserer eigenen Gesellschaft. Es ist Geschichte, ein Versuch, eine verschwundene Welt zu verstehen und wieder lebendig werden zu lassen. Applebaum betrachtet die Sowjetunion und ihr osteuropäisches Experiment keineswegs mit Gleichmut, sondern ist grundlegend daran interessiert, wie dieses totalitäre Experiment umgesetzt wurde und wie es sich überlebte. Sie kann sich der Missbilligung der meisten Leser sicher sein, was während des Kalten Kriegs nicht immer zutraf. Kommunismus im Sowjetstil ist kein Phänomen mehr, über das zwei Ansichten herrschen. Die Menschen blicken nicht auf den Gulag und sagen: "Na ja, da mussten eben ein paar Eier zerdeppert werden."

Weiteres: Alex Ross zeichnet die politischen Fortschritte der amerikanischen Schwulenbewegung nach. David Denby sah im Kino das Drama "Flight" von Robert Zemeckis mit einem großartigen Denzel Washington und den neuen Bondfilm "Skyfall" von Sam Mendes - und sehnt sich noch immer nach Sean Connery zurück.
Archiv: New Yorker

New Criterion (USA), 01.11.2012

Schon zu Tschechows Zeiten wollte die Intelligentsija die Welt verändern - mit den "richtigen" Ideen. Doch Tschechow lehnte das ab. Keine Theorien, keine Gesinnung - ob linke oder rechte -, kein Hass auf die Bourgoisie. Im Gegenteil: Er war ein großer Freund bürgerlicher Werte wie Anstand, Sauberkeit, Arbeit, erklärt ein sympathisierender Gary Saul Morson. Auch mit den materialistischen Ideen seiner Zeitgenossen hatte Tschechow nicht viel am Hut: "Da er den Wissenschaften durch und durch ergeben war, stieß ihn die pseudowissenschaftliche Reduktion von Moral und Kreativität auf Hirnaktivitäten ab. Heute sprechen die neuen Atheisten von 'Neuroethik' und 'Neuroästhetik'. Ihre Vorgänger zu Tschechows Zeiten zitierten Molleschots Behauptung, das Hirn würde Gedanken absondern wie die Leber Gallenflüssigkeit. 'Es ist immer gut, wissenschaftlich zu denken', antwortete Tschechow skeptisch. 'Das Problem ist, dass der Versuch, wissenschaftlich über Kunst zu denken, unvermeidlich degeneriert zu einer Suche nach 'Zellen' oder 'Zentren', die für die kreativen Fähigkeiten zuständig sind, während ein beschränkter Deutscher sie irgendwo in den Schläfenlappen entdecken wird."
Archiv: New Criterion
Stichwörter: Kreativität, Criterion, Anstand

Les inrockuptibles (Frankreich), 07.10.2012

"'Nemesis' ist mein letztes Buch", bekennt Philip Roth in einem Gespräch mit Les Inrocks, das offensichtlich erst jetzt freigeschaltet wurde. Er werde keinen Roman mehr schreiben, sondern sorge jetzt dafür, dass die Biografie, die es mit oder ohne seine Mithilfe über ihn geben werde, wenigstens korrekt sei. "Schauen Sie sich E.M. Forster an, der hat mit etwa vierzig mit dem Romanschreiben aufgehört. Und ich, der ich Buch an Buch gereiht habe, habe jetzt seit drei Jahren nichts geschrieben. Ich arbeite jetzt lieber in meinem Archiv, um es an meine Biografen [Blake Bailey] weiterzugeben. Es besteht aus Tausenden von Seiten, eher Erinnerungen, die nicht literarisch sind. So kann man das nicht veröffentlichen. Ich möchte meine Memoiren nicht selbst schreiben, aber wollte, dass mein Biograf noch vor meinem Tod Material für sein Buch hat. Sollte ich vorher sterben, womit sollte er dann anfangen?"
Stichwörter: Roth, Philip

New York Times (USA), 04.11.2012

David Streitfeld berichtet vom wachsenden Widerstand der Buchhändler gegen Amazon. Offenbar boykottieren verschiedene Buchhandelsketten und unabhängige Buchläden Amazons Erfolgstitel "The 4-Hour Workweek", in dem der Marketing-Experte Timothy Ferriss verrät, wie man zu Erfolg kommt, ohne sich anzustrengen: "Der Buchhändler Barnes und Nobles, der darum kämpft, neben Amazon eine Rolle zu spielen, unterstreicht, dass er die Bücher seines Konkurrenten nicht führen wird. Andere große - reale oder digitale - Händler scheinen uninteressiert oder sogar gegen das Buch zu sein. Viele unabhängige Läden fühlen sich von Ferriss verraten. Sie werden nichts tun, um ihm zu helfen, wenn dies bedeutet, einer Firma zu helfen, die in ihren Augen alles an ihre Zerstörung setzt. 'An einem gewissen Punkt muss man sich entscheiden, wie tief man die Nägel in seinen eigenen Sarg einschlägt', sagt Michael Tucker, Inhaber der Kette Books Inc."

In der Sunday Book Review liest verärgert Adam Nossiter Chinua Achebes Erinnerungen "There was a Country" an die Sezession Biafras von Nigeria. Nossiter mag nicht glauben, wie verklärt Achebe, der unter dem charismatischen, aber halsstarrigen General Odumegwu Ojukwu Informationsminister war, die Farben der Biafra-Flagge besingt und die Millionen Toten nur nebenbei beklagt: "So exzessiv wie seine Nostalgie für Biafra scheint auch Achebes Urteil über das heutige Nigeria - eher das Produkt eines verbitterten und rückwärtsgewandten Schriftstellers als der Versuch, mit der damaligen und heutigen Realität zurechtzukommen. Das heutige Nigeria ist ein brodelnder Hexenkessel, der einen verrückt macht mit seinen Widersprüchen und seiner Fähigkeit zur Selbstzerstörung, aber auch voller Versprechen mit seiner immensen Energie und seinen menschlichen Ressourcen."

Von Wole Soyinkas neuem Buch "Of Africa" ist Adam Hochschild zwar auch nicht begeistert, er sieht aber Soyinkas Status als "säkularer Heiligen" durch die poetische Schwäche nicht gefährdet.
Archiv: New York Times