30.05.2002. Frank Schirrmacher hat am Mittwoch Martin Walser in einem Offenen Brief des Antisemitismus bezichtigt. Nun gibt es erste Reaktionen in den Zeitungen und von Martin Walser. Die Welt bringt einen Auszug aus dem Roman und ein großes Dossier. Die Berliner Zeitung fragt: "Hört das nie auf?" Der Tagesspiegel berichtet Interna aus dem Suhrkamp Verlag.
Stand vom 31. Mai Den frischesten Stand - die Reaktionen der Konkurrenzinstitute
SZ und
FR, die gestern wegen
Fronleichnam noch schweigen mussten - finden Sie in unserer
Presseschau vom Tage. Ein
hübsches Foto haben wir bei
Yahoo gefunden: Wer ist hier der Mörder? Und hier ein
Link auf eine Karikatur in der
Berliner Zeitung.
Zu den wichtigsten Diskussionsbeiträgen am Freitag, den 31. Mai, zählte
Hellmuth Karaseks Artikel im Tagesspiegel. Auch der ehemalige Partner Reich-Ranickis im "Literarischen Quartett" hat das Buch inzwischen gelesen. Sein Urteil: "Die erste Feststellung nach dem Lesen: Ja, Schirrmacher hat in einem, dem wesentlichen Punkt
völlig Recht! Dieses Buch ist das literarische Dokument eines schier
übermenschlichen Hasses..." Zum "üblen Pamphlet" aber wird das Buch für Karasek erst an anderer Stelle: "Der (scheinbar) Ermordete...hat so viele Reich-Ranicki-Eigenschaften, dass die
ungezügelte Mordlust, die Walsers Buch beherrscht, wie eine
Wiederholung der Mordlust wirkt, mit der Reich-Ranicki als Jude von den Nazis verfolgt wurde."
Interessant auch der
Text von
Joachim Helfer (mehr
hier) in der
Netzeitung, der Walsers Roman für eine
Abrechnung und für einen Schlüsselroman hält, aber nicht für antisemitisch: "Hinter den
angeblichen Sprechtabus, die dieser Ritter von der trotzigen Gestalt seit seiner Paulskirchenrede wortreich geißelt, vermutet er ja gerade nicht den klassischen antisemitischen Popanz einer 'jüdischen Lobby', sondern ganz im Gegenteil den getarnten antisemitischen Reflex einer
unfreien, feigen Gesellschaft."
Hier die Links zu Artikeln, die wir
am 30. Mai, zusammengetragen haben:
Trotz des Feiertags (
FAZ,
SZ und
FR sind heute nicht erscheinen) wird
Frank Schirrmachers offener Brief an
Martin Walser heute heftig diskutiert. Schirrmacher hatte gestern in der
FAZ erklärt, warum er Martin Walsers neuen Roman "Tod eines Kritikers" nicht vorabdrucken will: Der Roman sei eine "
Exekution. Eine Abrechnung ... mit
Marcel Reich-Ranicki." Und weiter: "das Repertoire
antisemitischer Klischees" sei "leider unübersehbar". Siehe auch unsere Presseschau von
heute und von
gestern.
Außer Frank Schirrmacher, Reich-Ranicki und drei Suhrkamp-Lektoren hat den Roman noch niemand gelesen. Die
Welt hat heute einen
kurzen Auszug aus
Walsers Roman abgedruckt, an dem man Schirrmachers Vorwürfe überprüfen kann. Es ist die Passage, in der der vom Kritiker
Andre Ehrl-König geschmähte Autor Hans Lach auf einer Party erklärt: "Ab heute nacht null Uhr wird zurückgeschlagen."
Im
Interview mit der
Welt wehrt sich Walser heftig gegen Schirrmachers Vorwurf, sein Roman sei eine "Mordfantasie an einem Holocaust-Überlebenden". Zu dem Satz "Ab null Uhr wird zurückgeschlagen" erklärt Walser: "... Schirrmacher lastet mir diesen Satz an, als hätte ich ihn
ohne jede Distanz benutzt. Im Roman schildere ich aber das
Entsetzen aller Leute darüber dass sich dieser Autor zu so einem schrecklichen Satz versteigt. Und Schirrmacher tut jetzt so, als hätte ich selbst, und nicht eine in diesem Augenblick
kritisch beleuchtete Romanfigur, diesen Satz gesagt."
Auch im
Interview mit der
taz wundert sich Walser über Schirrmacher: "Er kennt meine Bücher - wenn Sie ein Romanschreiber sind, mit 15, 16, 17 Romanen, müsste sich das schon mal
irgendwann bemerkbar gemacht haben, dass da etwas antisemitisch ist. Ein Autor kann sich nicht 15 Romane lang tarnen, das will er auch gar nicht! Ein Roman ist immer eine
Gesamtoffenbarung der Person." Thema des Buchs, so Walser, ist "die
Machtausübung im Literaturbetrieb zu Zeiten des Fernsehens..."
Die
NZZ liefert heute gleich ein
Beispiel von der "Macht"
Reich-Ranickis, der inzwischen erklärt hat, das Buch sei
"miserable Literatur" und "
so schlecht hat Walser noch nicht geschrieben."
Zur Sache äußert sich einem kurzen
Interview mit der
Welt auch
Suhrkamp-Verlagsleiter Günter Berg. Er erklärt, das Manuskript sei "nicht zitierfähig" gewesen. Schirrmachers Vorwürfe hätten "nichts mit literarischer Kritik zu tun, sondern mit
Boshaftigkeit". Weiter erklärt Berg, der Verlag werde versuchen, das Erscheinen des Buchs von August auf
Juni vorzuziehen, "werden aber dem Drängen des Autors, es jetzt sofort zu publizieren, einen Moment widerstehen."
Im
Tagesspiegel erklärt Helmut Böttiger, dass das Buch auch im
Suhrkamp Verlag heftig
umstritten war: "Walser hat öffentlich den designierten Nachfolger von
Siegfried Unseld, Günter Berg, als seinen Verleger akzeptiert. Berg ist darauf angewiesen, Walser, dessen Lebenswerk bei Suhrkamp vorliegt, zu halten. Aus dem Verlag ist zu hören, dass es
wilde Diskussionen um den neuen Walser-Roman gegeben hat. Nicht zuletzt deshalb, weil eine
kaum verfremdete Siegfried Unseld-Figur, im Gegensatz zur Reich-Ranicki-Figur, im Buch tatsächlich
stirbt. Der bald 78-jährige Unseld hat es nach heftigen Auseinandersetzungen zugelassen, dass der Roman in seinem Verlag erscheint. Nicht einmal Schirrmacher wird das verhindern."
Harald Jähner
beschreibt in der
Berliner Zeitung seine erste Reaktion auf den Streit: "Hört das denn nie auf, so war meine erste Reaktion auf diesen neuen Skandal - dieses
ewige Herumprovozieren, Austesten und vermeintliche Wider-den-Stachel-Löcken und dieses nicht minder ewige Mahnen, Verdammen, Sich-in-die-Brust-Werfen und
Demokratie-Retten? ... "
Ähnlich
denkt Urs Allemann in der
Basler Zeitung: "Nein!
Bitte nicht! Ich möchte das nicht. Ich möchte nicht, dass Martin Walser dieses Buch geschrieben hat. Ich möchte nicht, dass der Suhrkamp Verlag dieses Buch verlegt. Ich möchte nicht statt vom Suhrkamp Verlag aus der
FAZ erfahren, dass dieses Buch im Suhrkamp Verlag erscheint. Ich möchte nicht, bevor ich die Möglichkeit habe, dieses Buch zu lesen, von der FAZ gesagt kriegen, was das für ein Buch ist. Ich möchte, glaube ich, dieses Buch unter diesen Umständen nicht lesen. Ich möchte nicht beim Suhrkamp Verlag anrufen und darum bitten,
ganz, ganz rasch Fahnen von diesem Buch geschickt zu kriegen, damit ich es ganz, ganz rasch lesen kann."
Und vielleicht sollte man noch auf ein
kleines Büchlein mit prophetischem Titel hinweisen, dass im letzten Jahr bei
Suhrkamp erschien:
Dieter Borchmeyers "
Martin Walser und die Öffentlichkeit - Von einem neuerdings erhobenen
unvornehmen Ton im Umgang mit einem Schriftsteller". Suhrkamp baut vor! Ein weiteres Buch zur ersten Walser-Debatte findet sich
hier.