15.08.2008. Das Internet ist nicht der Tod der Filmkritik, sondern ihre Rettung. Konstruktive Antwort auf ein ahnungsloses Pamphlet des Filmkritikers Josef Schnelle in der Berliner Zeitung
"Die Internet-Blogs zersetzen das informierte und unabhängige Urteil" - so steht's unter veritablem Einsatz von Nazi-Vokabular (vgl. Victor Klemperer, LTI, Stichwort "Zersetzung") im Untertitel eines
Pamphlets, das gestern
Josef Schnelle in der
Berliner Zeitung veröffentlicht hat. Der Text versteht sich als flammende Verteidigung der klugen, analytischen Filmkritik auf Zeitungspapier. Schnelle, langjähriger Vorsitzender des
Verbandes der deutschen Filmkritik, sieht diese, in die USA vorerst eher als nach Deutschland blickend, in ernster Gefahr. Dieser Teil seiner Diagnose stimmt, in der Tendenz jedenfalls: Selbst renommierteste amerikanische Print-Publikationen entlassen
festangestellte Filmkritiker in das, was dann lustigerweise Freiheit heißt. Im Fall der von Schnelle genannten
Village Voice trifft seine Behauptung, sie habe ihre fest angestellten Kritiker gefeuert, genau zur Hälfte zu. Der legendäre
J. Hoberman ist nach der Entlassung von
Nathan Lee durchaus weiter als Redakteur tätig. Eine Kleinigkeit, gewiss, aber es ist halt genau die Schlamperei, die Bloggern immer unterstellt wird. (Man schreibt Apichatpong Weerasethakul auch so und nicht anders.)
So weit also, so schlecht, aber im wesentlichen wahr. Dann aber wird nicht im Renditewahn der Medien und in einbrechenden Werbeeinahmen der Feind ausgemacht, sondern:
die Blogger sind schuld. Josef Schnelle hat es mit dem Autoritätszitat und versteckt sich zunächst hinter der Ahnungslosigkeit des
Time-Kritikers Richard Schickel, der über Blogs dies zu sagen hat: "Das ist flüchtige Gesprächskultur. Mit der geschriebenen Filmkritik, einem
respektablen Literaturgenre hat das nichts zu tun." Wäre schön, wenn man wüsste, worüber Schickel da spricht. Wäre auch schön, wenn Schnelle einem mitteilte, wen er da meint. Etwa
Glenn Kenny, der, vom Filmmagazin
Premiere gefeuert, einfach ein eigenes Blog aufsetzte,
Some Came Running (benannt nach einem Vincente-Minnelli-Film), in dem zum Beispiel bis in kleinste Einzelheiten äußerst informiert über die Filme von Jean-Luc Godard
diskutiert wird und die reichlich ignorante
Kritik einer neuen Godard-Biografie? (Die Kritik war übrigens in der
New York Times erschienen.) Oder vielleicht das Blog
House Next Door, das eine ungeheure Bandbreite von Themen - US-Fernsehserien, Festivals, gerade ein Essay über das Drehbuchschreiben - in Rezensionen, Interviews, Podcasts behandelt und in dem am Dienstag eine hervorragende Rezension zu
Eric Rohmers jüngstem (und wohl letztem) Film "The Romance of Astrea and Celadon" erschien?
In deutschen Feuilletons, das nur nebenbei, wird von diesem Film - nach der hektischen Berichterstattung von der Vorführung in Venedig- kaum je die Rede sein können, weil sie nämlich mehrheitlich längst völlig fixiert sind auf die
Aktualität von Kinostarts.
Es wäre unfair, hier schon mit der Aufzählung von Qualitätsangeboten aufzuhören. Wenigstens das ganz exzellente
Auteurs Notebook muss erwähnt werden, in dem auf hohem - durchaus auch akademischem Niveau - Filme besprochen werden. Oder
Dave Kehrs Blog, in dessen Kommentarsektion die Prominenz der US-Filmkritik mitdiskutiert. Oder die
Website von
Jonathan Rosenbaum, dem vielleicht wichtigsten Kritiker seiner Generation, der jetzt im Ruhestand zum Blogger geworden ist. Apropos akademisch: Wie steht es mit
Observations on film art and FILM ART, dem Blog von
David Bordwell und
Kristin Thompson, den womöglich einflussreichsten Filmwissenschaftlern der USA?
Und mit
Pinocchio Theory, wo der Theorie-Star
Steven Shaviro rücksichtslos Kluges und Linkes und Theoretisches auch über Filme veröffentlicht? Und mit der
Self Styled Siren oder
Academic Hack und
Filmbrain (da gibt es gerade interessante Einblicke in das miserable Niveau der Filmkritik in
Time und
Newsweek in den fünfziger und sechziger Jahren),
Flick Philosopher und und und? Da werden Tag für Tag Texte publiziert, von deren
analytischem und sprachlichem Niveau weite Teile der deutschen Filmpublizistik nur träumen können. (Die Online-Zeitschriften wie
Rouge oder
Senses of Cinema lasse ich weg und linke der Einfachheit halber noch auf den völlig unverzichtbaren Online-Service-Dienst
Daily Greencine.)
Die
deutsche Szenerie ist, wie die deutsche Blogosphäre überhaupt, weniger eindrucksvoll. Aber ist das mit dem Autoritätszitat - dem Verweis auf einen eher dämlichen
Spiegel-Artikel - im Ernst zu erledigen? Gibt es nicht
New Filmkritik oder, es sei doch erwähnt, die Blogs der
Perlentaucher-Kritiker
Lukas Foerster und
Thomas Groh (bei letzterem findet sich auch eine Erwiderung auf Schnelles Artikel)? Oder das DVD-Blog
dvdbiblog, das einem ganze Weltreiche des in Deutschland nicht Erschienenen aufschließt?
"In den deutschen Blogs herrscht der Warentest:
Daumen hoch - Daumen runter. Tausende Blogger greifen die Filmkritik an." Glaubt Schnelle. Was für ein paranoides Szenario. In den USA zeigt sich, dass das glatte Gegenteil der Fall ist: Die Blogger sind längst da, wo sich die Print-Kritik den Platz, die Zeit und die Radikalität nicht mehr leisten will oder kann oder darf, die es für eine
gründliche Auseinandersetzung so unabdingbar braucht. (Wie man als KritikerIn unter solchen Bedingungen seinen
Lebensunterhalt sichert, das ist eine ganz andere, sehr ernste und in US-Blogs auch schon sehr kontrovers diskutierte Frage. Aber sie betrifft die sogenannten freien Kritiker kaum weniger.)
Ich käme mir weiß Gott sehr komisch vor, im Gegenzug zu Josef Schnelles Pauschalurteilen nun die
Print-Kritik zu attackieren. Sie scheint in Deutschland vielfach unter Druck, behauptet sich aber, bei allen Problemen, in den Qualitätsfeuilletons bisher doch ganz gut. Schon gar wird sie nicht von Tausenden Bloggern angegriffen. Es ist vielleicht so, dass mancher, der bisher unangefochten auf dem
hohen Ross in seinem Qualitätsfeuilletons saß, jetzt Gegenwind aus dem Netz bekommt. Was aber wäre das anderes als ein Segen?
Und gewiss: Es gibt unzählige Foren für belangloses Äußern von Meinungen im Internet. Das heißt aber doch nur, dass man das, was dem Normalnerd beim Filmgucken so durch den Kopf rauscht, jetzt halt auch schriftlich bekommt. Natürlich hat das mit Filmkritik
nichts zu tun. Hatte es nie, hat es nicht, wird es nie haben. Im Internet gibt es reichlich Blödsinn, aber das heißt noch lange nicht, dass das ganze Internet blödsinnig ist. Es stehen in Zeitungen auch wenig informierte, von Vorurteilen geprägte Artikel. Das heißt ja auch nicht, dass Zeitungen generell ahnungslos sind.
Das eine aber gilt sehr wohl: Es gibt einen sehr simplen und
sehr eindrucksvollen Beleg dafür, dass die anspruchsvolle Filmkritik trotz oder sogar erst recht angesichts der sich umwälzenden Lage der Medien eine Zukunft haben kann und haben wird: die ungeheuer differenzierte, mit den unterschiedlichsten Stimmen und auf oft höchstem Niveau schreibende und argumentierende
Blog-Szene in den USA.
Ekkehard Knörer
PS: Übrigens nimmt Schnelle ausdrücklich
Wolfram Schüttes Artikel im
Titel-Magazin aus seiner Generalkritik am Internet aus: "Den kenntnisreichen und engagierten Pensionär Wolfram Schütte würde
jede deutsche Zeitung gern drucken. Warum wählt er das Netzversteck, in dem sich hauptsächlich Dilettanten und Abschreiber herumtreiben?" Darum möchten wir die
Qualitätszeitungen gern bitten, Schüttes "
Überlegungen zum wirtschaftlichen Umbau der Kultur in seriösen Printmedien" doch noch nachzudrucken!