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Die FAZ, die Bild und das Massaker von Rechnitz

Wie seriös sind die Recherchen David R. L. Litchfields zum Massaker an Juden im österreichischen Rechnitz? Von Anja Seeliger
20.10.2007. Wie seriös sind die Recherchen David R. L. Litchfields zum Massaker an Juden im österreichischen Rechnitz? Und wie seriös sind die Zeitungen, die seine Behauptungen über eine Beteiligung der Familie Thyssen-Bornemisza übernehmen? Die Medien diskutieren.

25. Oktober

Die FAZ hat den Perlentaucher - charmant wie immer - mit einer anwaltlichen Aufforderung zur Unterlassung darauf aufmerksam gemacht, dass die Artikel über das Massaker in Rechnitz nicht "zeitgleich" in FAZ und Bild erschienen sind, wie wir am 20. Oktober geschrieben hatten. Tatsächlich erschien der Artikel in der Printausgabe der Bild-Zeitung erst am 19. Oktober, also einen Tag nach dem Artikel in der FAZ. Der Artikel in Bild-Online datiert allerdings vom 18. Oktober, daher unser Irrtum.

In den Zeitungen wird die Geschichte derweil weiter debattiert. Der Zeithistoriker und Journalist Stefan Klemp hat in der SZ hat keinen Zweifel daran, dass das Massaker von Rechnitz stattgefunden hat. Die Historikerin Eva Holpfer habe dies in einem Aufsatz 1998 nachgewiesen. (Der Aufsatz kann hier als pdf nachgelesen werden.) Dass in Rechnitz nie ein Massengrab gefunden wurde, lasse sich wohl damit erklären, "dass man nie versucht hat es zu finden", meinte Klemp im Deutschlandfunk. Das stimmt nun wieder nicht, das österreichische Innenministerium hat den Boden zumindest von Geografen der Universität Wien untersuchen lassen.

Stefan Klemp interessiert vor allem die Rolle des Bundeskriminalamts bei den Ermittlungen gegen den Haupttatverdächtigen, den SS-Sturmscharführer Franz Podezin: Podezin war es nach dem Krieg wegen der Indiskretion der ermittelnden Staatsanwaltschaft gelungen, nach Dänemark zu flüchten. Sollte man seine Auslieferung beantragen? "Nun kam das Bundeskriminalamt (BKA) ins Spiel", schreibt Klemp in der SZ, "das von Experten des ehemaligen Reichssicherheitshauptamts aufgebaut worden war. Regierungs-Kriminalrat Kurt Griese aus Wiesbaden teilte der Zentralstelle Dortmund auf deren Anfrage am 13. Mai 1963 mit, der 'Generalsekretär von Interpol habe bei einer Präzedenzsache angeordnet, dass Interpol in NSG-Sachen vorliegender Art nicht tätig werden dürfe'. Der Kriminalbeamte Kurt Griese war 1943 als SS-Hauptsturmführer Angehöriger des Einsatzkommandos 3 in Litauen gewesen, dann beim Höheren SS- und Polizeiführer Ostland." Podezin konnte unbehelligt in die Schweiz, nach Spanien und schließlich Südafrika reisen. "Was aus ihm wurde, ist unbekannt."

Fragwürdig finden Tim Farin und Christian Parth bei stern.de die ganze Inszenierung der Geschichte durch David Litchfield, der ein ehemaliger Society-Reporter sei. Mindestens so fragwürdig jedenfalls wie die Antwort, "die Litchfield stern.de auf die Vorwürfe seines Kritikers Wolfgang Benz gibt: 'Ich muss gestehen, dass ich einigermaßen fasziniert bin von einem deutschen Goyem (Nicht-Jude, d. Red.), der es geschafft hat, die Professoren-Rolle für Antisemitismus anzunehmen - mit Befürwortung einer amerikanischen Universität.' Litchfield poltert weiter, Benz' renommiertes Wirken an der TU Berlin erinnere ihn an einen Bauchredner-Akt im Radio. Auf die inhaltliche Kritik von Benz geht er nicht ein, sondern sagt, er wisse die Aufmerksamkeit zu schätzen, 'wie John Lennon einst antwortete, nachdem ihn Phil Spector beschuldigt hatte, eine "fucking cunt" zu sein'. Über diese Äußerung eines FAZ-Feuilleton-Autors dürfte Diskussionsbedarf bestehen."

In der Zeit fordert Volker Ullrich mehr Recherchen und weist die Nachfahren der Thyssen-Bornemiszas darauf hin, dass sie "gut beraten" wären, "wenn sie alles tun, um zur Aufklärung beizutragen".


20. Oktober 2007

Der Artikel von David R. L. Lichtfield in der FAZ vom Donnerstag (mehr hier) über ein Massaker an 200 Juden als Partybelustigung bei einem Fest der Thyssen-Tochter Margit von Batthyany 1945 hat inzwischen einige Zweifler auf den Plan gerufen.

Kai Müller fand im Tagesspiegel eine direkte Beteiligung der Thyssens nicht nachgewiesen: "Räuberpistole oder journalistischer Coup? Die FAZ hat sich weit aus dem Fenster gelehnt mit dieser Geschichte, in der es von vagen 'konspirativen Vorfällen' nur so wimmelt. An der Tatsache des Massakers selbst gibt es keinen Zweifel. Ein Verfahren vor dem österreichischen Landgericht verhängte 1946 gegen einige Beteiligte geringe Haftstrafen. Ob die Batthyanys dabei als Mittäter betrachtet oder als Zeugen vorgeladen wurden, erwähnt der Litchfield-Report nicht. Überhaupt gelingt es dem Autor bei seiner Enthüllung nicht, der Familie Thyssen-Bornemisza eine direkte Mitschuld nachzuweisen."

Der Historiker Wolfgang Benz meinte im Deutschlandfunk: "Über Litchfield weiß man gar nichts. Er ist kein Historiker. Wenn man mithilfe des Internets recherchiert, dann bekommt man Angaben seines spanischen Verlages. Er sei ein Autor, Historiker, Dokumentarist, Editor von Quellen. Aber es ist kein einziges seiner Werke außer diesem ('The Thyssen Art Macabre') angegeben. Wenn man dann noch Rezensionen liest, Besprechungen dieses Buches, auf das sich jetzt auch der Artikel in der heutigen Frankfurter Allgemeinen bezieht, da gehen einem die Augen über. Diese Kritiken von seriösen Historikern sind so vernichtend. Und da bleibt nichts anderes übrig, als dass ein Sensationsjournalist, der einmal den Auftrag des alten Baron Thyssen hatte, eine Hagiografie zu schreiben, offensichtlich aus Enttäuschung und Rachsucht eine Geschichte zusammenkolportiert hat, die mehr oder weniger an den Haaren herbeigezogen, abscheulich schlecht geschrieben ist und allen Regeln der biografischen und sonstigen Darstellungskunst widerspricht."

Benz hält aber auch fest, dass sich die Familie Thyssen bei der Aufklärung ihrer Verstrickung mit den Nationalsozialisten "überhaupt nicht mit Ruhm bedeckt" und immer noch eine "Bringschuld" habe.

Das Buch war im Telegraph von dem Autor, Historiker und Biograf Richard Davenport-Hines, im TLS von dem Kurator Angus Trumble und im Spectator von dem Historiker Adam Zamoyski besprochen worden.

Interessant ist, dass die FAZ in ihrer Übersetzung des Independent-Artikels nicht nur alle Hinweise auf die sexuellen Aktivitiäten Margit Batthyanys getilgt hat, sondern auch Litchfields Behauptung einer direkten Tatbeteiligung.

Im Independent lautet der entscheidende Absatz im Original: "Finally, with the Red Army only 15km away, the countess hosted a party at the castle on the 24 March, the eve of Palm Sunday, inviting up to 40 people including leading Nazi Party, SS, Gestapo and Hitler Youth members. (...) Podezin then ushered Margit and 15 of the more senior guests to a store room, gave them weapons and ammunition and invited them to 'kill some Jews'. The prisoners were then forced to strip naked before being shot by drunken guests, who returned to the castle to continue to drink and dance until dawn."

In der Übersetzung der FAZ heißt es dagegen: "Als die Rote Armee schließlich nur noch fünfzehn Kilometer von Rechnitz entfernt war und die SS sich auf die Schlacht um Rechnitz vorbereitete, wurde am 24. März, dem Abend vor Palmsonntag, im Schloss ein Fest veranstaltet, zu dem dreißig oder vierzig Personen geladen wurden (...) Franz Podezin, NSDAP-Ortsgruppenleiter von Rechnitz und Gestapo-Beamter, versammelte fünfzehn ältere Gäste in einem Nebenraum des Schlosses, gab Waffen und Munition an sie aus und lud die Herren ein, 'ein paar Juden zu erschießen'. Man zwang die Juden, sich nackt auszuziehen, bevor sie von betrunkenen Gästen des Fests ermordet wurden, die dann ins Schloss zurückkehrten, um bis zum frühen Morgen weiter zu trinken und zu tanzen." Nur die Überschrift in der FAZ suggeriert noch eine Beteiligung Margit Batthyanys: "Die Gastgeberin der Hölle".

Wesentlich weniger Skrupel hatte die Bild-Zeitung, die die Geschichte am gleichen Tag online und am nächsten Tag in ihrer Printausgabe brachte und so zuspitzte: "Thyssen-Gräfin ließ auf Nazi-Party 200 Juden erschießen".

In der NZZ hält dagegen Joachim Güntner fest: "Die Mordnacht hat es gegeben, unsicher ist, wie weit die Verantwortung von Margit von Batthyany reicht. Den Sprung in den Independent und die FAZ hat David Litchfield nur geschafft, weil er das Ganze als Thyssen-Story erzählt. Dass diese Gewichtung stimmt, ist keineswegs ausgemacht."

Auch die österreichischen Zeitungen berichteten ausführlich und mit zahlreichen Bildern. Im Standard fasst Wolfgang Weisgram zusammen, was man bereits seit Jahren über Massaker weiß und erklärt am Schluss: "Die intensive Beschäftigung mit diesem makaberen Finale der Naziherrschaft reicht freilich weiter zurück. Unlängst hat sich der englische Autor David R. L. Litchfield als Entdecker der Verwicklung der Thyssen-Verstrickung in das Rechnitzer Massaker stilisiert. Die ist allerdings seit je bekannt: Auf dem Batthyany-Schloss (Schlossherrin Margit war eine geborene Thyssen) fand ja die an den Marquis de Sade erinnernde Nazi-Abschiedsparty statt. Wie allerspätestens 1994 der Film 'Totschweigen' (mehr hier) von Margaretha Heinrich und Eduard Erne jedem, der es wissen wollte, eindrucksvoll schilderte."

Das Deutschlandradio brachte ein Interview mit Eduard Erne (hier als mp3), der die Mitverantwortung der Familie Thyssen-Bornemisza am Einsatz der Zwangsarbeiter an der ungarischen Grenze bestätigt, allerdings nicht auf die Frage eingeht, inwieweit sie am Massaker selbst beteiligt war. Erne berichtet aber, dass man nach dem Krieg versucht haben soll, die Gräfin zu erpressen.