Im Kino

Alles andere als verkopft

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt, Elena Meilicke
01.07.2015. Gut gelaunt und leicht und luftig: Franz Müllers Meta-Fußballkomödie "Worst Case Scenario". Veronika Franz' und Severin Fialas Horrorfilm "Ich seh, Ich seh" zeigt die Abgründe hinter kindlicher Unbedarftheit.

Obwohl man in nicht mal zwei Stunden von Berlin aus in Polen ist, ist das nahe Nachbarland vielen Deutschen immer noch fremder als, sagen wir, Italien oder Frankreich. Weshalb eine Kölner Noisepop-Band sich mal "Urlaub in Polen" nennen und damit Distinktionsgewinne abschöpfen konnte: Urlaub in Polen, das scheint für deutsche Ohren auf verquere Weise immer noch exotisch, drastisch, weird zu sein.

In Franz Müllers wunderbarer Komödie "Worst Case Scenario" geht es nicht eigentlich um Urlaub, sondern eher um Arbeit in Polen: ein Film soll entstehen. Samuel Finzi spielt den Regisseur Georg, der während der EM 2012 eine Komödie in Polen drehen will und dafür mit der ganzen Crew sein Lager auf einem Campingplatz an der Ostseeküste aufgeschlagen hat, irgendwo bei Sopot, Gdansk, Gdynia. Es ist Sommer, aber meistens regnet es, man trägt Anorak und Halstuch, lange Hosen. Das Meer ist grau, und die kleinen Holz-Kioske, vor denen man bei Dance-Musik ein Bier trinkt, sehen sehr rustikal aus. Die große Filmkunst scheint trotzdem zum Greifen nah: "Da vorne an der Mole wurde "Die Blechtrommel" gedreht", erklärt ein Crewmitglied ihrer Kollegin und zeigt Richtung Horizont. Georg verweist auch gerne mal auf Fellini.

Mit Georgs Film aber geht von Anfang an alles schief: "Fünf Kilometer von hier haben deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg vierzig Menschen erschossen, und du willst eine Komödie drehen!", empört sich die Produzentin und macht einen dramatischen Abgang. Auch andere Egos wollen gestreichelt werden: "Ich hatte im Vorfeld höflich darauf hingewiesen, dass ich keine Laktose vertrage und deshalb diesen Scheiß-Lidl-Fraß nicht fressen kann", erklärt der stämmige Hauptdarsteller, während Hauptdarstellerin Meike (sehr, sehr lustig: Laura Tonke) in der ständigen Angst lebt, ihr könne die Show gestohlen werden - von den deutschen Laien-Darstellern, die Regisseur Georg sich auf dem Campingplatz zusammensucht, oder von den polnischen Profi-Schauspielern, die er vom Theater in Gdynia ans Set lockt: "Ich kann halt kein Polnisch! Ich würde auch gerne Polnisch können!! So ist es nicht!!!", schreit Meike.


"Worst Case Scenario" ist ein Film-im-Film-Film und damit Teil eines Genres, das als Inbegriff von Selbstreflexivität gilt. Tatsächlich verdoppelt die Story in gewisser Weise die Wirklichkeit und erzählt vom Filmemachen unter erschwerten Bedingungen: "Zunächst hatten wir eigentlich vor, in Danzig während der EM eine wilde Fußballkomödie zu drehen", erklärt Müller, doch die Produktion zerschlug sich, woraufhin usw. usf... Das Ergebnis ist "Worst Case Scenario", schnell gedreht mit wenig Geld und viel Improvisation.

Deshalb muss man das Etikett "selbstreflexiv" modifizieren, das unter Umständen Assoziationen von Schwere und Verkopftheit wecken könnte. Müllers Film ist alles andere als verkopft, sondern auf herzerwärmende Weise verspielt und verschmitzt. Das fängt bei den Credits im Vorspann an, die als bunt-verkrakelte Computerschrift ins Bild gemalt sind, setzt sich bei den improvisierten Dialogen fort und endet noch lange nicht bei der beschwingten Filmmusik, die irgendwo zwischen Swing und Easy Listening anzusiedeln wäre: entspannt plänkeln Klavier und Bläser vor sich hin, einfach und gut gelaunt und leicht und luftig.

So schaut man froh und gerne zu, wie Männer und Frauen einander wehtun, wie Deutsche und Polen gegeneinander sticheln und sich piesacken: "The problem with you Polish people is you are a people from Balcan, but you moved too far to the North", versucht die deutsche Kostümbildnerin (auch groß: Eva Löbau) ihrem polnischen Liebhaber (Starpotential: Janek Bielawski) eine Art Kompliment zu machen. "Hast du das alles jetzt übersetzt?", fragt Regisseur Georg an anderer Stelle seinen Aufnahmeleiter - "Polnisch ist eine sehr präzise Sprache, man kann komplexe Dinge mit wenigen Begriffen ausdrücken." Ähnliches gilt für "Worst Case Scenario".

Elena Meilicke

Worst Case Scenario - Deutschland 2014 - Regie: Franz Müller - Darsteller: Samuel Finzi, Eva Löbau, Laura Tonke, Janek Bielawski, Mirek Balonis - Laufzeit: 82 Minuten.

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Was für ein schöner Titel: "Ich seh, ich seh". Er beschreibt nicht nur die trügerischen Blickverhältnisse innerhalb des Films, sondern passt auch zu den spielerischen Verhaltensmustern seiner Figuren. Nach dem Vorspann tollt ein Zwillingsbruderpaar durch Kukuruzfelder und jagt sich mit selbstgebastelten Masken gegenseitig Schrecken ein. Sorglos erkunden Elias und Lukas in diesen ersten Bildern einen ruralen Lebensraum, der die imposante österreichische Luxusvilla ihrer Mutter mit nichts außer dichten Wäldern und idyllischen Seen umgibt. Verliert der 10-jährige Elias seinen Bruder mal aus den Augen, schallen unsichere "Lukas?"-Rufe durch die Natur: Auf alten Friedhöfen, unter Wasser oder im Dunkel tiefer Erdhöhlen hält er sich versteckt, um Elias an der Nase herumzuführen. Nach Hause kehren die Brüder mit schmutzigen Sachen, gesammelten Ästen, aufgegabelten Tieren zurück. Und bekommen ordentlich was zu hören.

Auf die kindliche Unbedarftheit ihrer beiden Söhne reagiert die Mutter (Susanne Wuest) seltsam gereizt. Sie wurde gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen und leidet unter den Postoperationsschmerzen einer Gesichtskorrektur, weist die Brüder aber dennoch unverhältnismäßig harsch zurecht. Es werde nun Regeln im - von Jalousien verdunkelten - Haus geben, warnt ihre hinter Verband und Pflastern versteckte Stimme: "Wir fangen neu an, wir müssen als Familie jetzt zusammenhalten", heißt es zugleich irritierend herzlich. Elias und Lukas sind die ungewohnten Disziplinierungsmaßnahmen ihrer bandagierten Mutter nicht geheuer. Sie spielen "Wer oder was bin ich?", pappen der Mutter einen "Mama"-Zettel auf die Stirn und beobachten ihr Scheitern. "Bin ich ein Mensch, bin ich ein Tier, bin ich ein Ding?", rät sie hilflos vor sich hin, während Elias und Lukas beschließen, dass diese strenge, zum Abjekthaften stilisierte Frau unmöglich ihre echte Mutter sein kann.


In den Versuchen der Brüder, eben diesen Beweis zu erbringen, zeichnet sich ein juveniler Zorn ab, der "Ich seh, ich seh" zum Horrorfilm ungeahnt sinistren Ausmaßes umkrempelt. Der vermeintlich falschen Mutter legen sie ein Babyfon unters Bett, um etwaige Auffälligkeiten zu dokumentieren. Anschließend fesseln und foltern sie die Frau in der Hoffnung, dass sie ihre wahre Identität offenbaren möge. Das Verstörende dieser Szenen ist nicht die lediglich genredienliche Gewalteruption, sondern ihre defätistische Motivation: Sie ergibt sich beinahe logisch aus dem einstmals harmonischen Familienalltag, der aus Sicht der zwei Protagonisten mit einem elterlichen Bedrohungsszenario kontaminiert ist (die Abwesenheit des Vaters wird nur am Rande thematisiert, am Schluss bringt eine etwas zu erklärselige Auflösung Licht ins Dunkel). Wie diese Harmonie vielleicht einmal ausgesehen haben könnte, lässt "Ich seh, ich seh" zumindest vermuten: An den Beginn seiner unzuverlässigen Erzählung setzt der Film Ausschnitte der gemeinsam "Guten Abend, gut" Nacht"-trällernden Trapp-Familie.

Was also heißt hier kindliche Unbedarftheit? "Ich seh, ich seh" ist so garstig und drakonisch wie die allerbesten Filme des von gruseligen Knirpsen bevölkerten, zumeist eher schlecht beleumundeten Subgenres "Kinderhorror". Aus dieser Perspektive sind Elias und Lukas Nachkommen der Zwillingsbrüder aus Robert Mulligans nicht weniger unheimlichem Psychothriller "The Other" (1972). Zwar stellt das Regieduo Severin Fiala und Veronika Franz bewusst eine Nähe zum sezierwütigen österreichischen Kino von Michael Haneke oder Ulrich Seidl (der als Produzent mit an Bord ist) her; eigentlich jedoch hat der überaus empfindsame, seine Verwandtschaft mit dem Melodram kaum kaschierende Film mit deren arthausig-verfremdetem Naturalismus kaum etwas gemein. Viel eher funktioniert "Ich seh, ich seh" als hochgradig affektreicher Horrorfilm, der seine programmkinotaugliche Ästhetik heimtückisch als Mittel zum Zweck einsetzt - und nachhaltig beunruhigt.

Rajko Burchardt

Ich seh, Ich seh - Österreich 2014 - Regie: Severin Fiala, Veronika Franz - Darsteller: Susanne Wuest, Elisa Schwarz, Lukas Schwarz, Hans Escher, Elfriede Schatz, Karl Purker - Laufzeit: 99 Minuten.