Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.05.2005. Wir können beides sein: frei und versorgt, ruft Juri Andruchowytsch in der Zeit. Die SZ findet, Rot-Grün hat sich selbst abgewählt. In der taz verblasst der Charme der Poplinken. In der Welt beschreibt Frank Goosen die miese Stimmung in Bochum. Die FAZ entdeckt den polnischen Underground.

Zeit, 25.05.2005

In der Reihe zur Zukunft des Kapitalismus beschreibt der Schriftsteller Juri Andruchowytsch, wie der Kapitalismus in die Ukraine kam: "Schock ohne Therapie, wilde Aneignung von Besitz, völlige Entwertung aller Ersparnisse, offene und verdeckte Arbeitslosigkeit, sozialer Abstieg bis ins Lumpenproletariat - und als Antithese die ersten 'fetten Kater', später Oligarchen genannt... Das Schlimmste, was sie uns eintrichtern können, ist, dass man zwischen Freiheit und Versorgtsein wählen müsse. Die Staatsmacht sitzt dir im Nacken, aber sie versorgt dich auch. Die Staatsmacht lässt dich laufen, wohin du willst, dabei aber verreckst du vor Hunger. 'Lukaschenko ist besser als Kwasniewski', sagt mein polnischer Freund, 'denn Lukaschenko sorgt sich um die soziale Absicherung der Bevölkerung.' Er sollte mal ein bisschen in Weißrussland leben! 'Dort herrscht auch jetzt noch Mangel an allem Möglichen, und Journalisten lassen sie spurlos verschwinden', sage ich ihm."

"Wie soll man mit Sachkenntnis über einen Text von mehr als 500 Seiten mit mehr als 400 Artikeln abstimmen?" schildert Paul Virilio das Dilemma der Franzosen vor dem Referendum über die EU-Verfassung und erkennt darin eine Verschiebung von der Meinungsdemokratie zur Stimmungsdemokratie: "Sie verlangt von der Wählerschaft weniger die freie Wahl und die entschiedene Behauptung eines souveränen Volkes; sie verlangt vielmehr einen laschen Konsens, eine gütliche Lösung." Zum selben Thema erklärt Michael Mönninger, wie die französische Geisteselite es geschafft hat, die Abstimmung zu einem Glaubensstreit über Himmel und Hölle zu stilisieren.

Wolfram Runkel und Christof Siemes haben am Wahlabend erlebt, wie der Dichter Peter Rühmkorf mit einer Flasche Rotwein von Aldi (Stonewood Ruby Cabernet) vor dem Fernseher den "Elektroschock" in Nordrhein Westfalen verkraftet hat. Tapfer, muss man wohl sagen. "Aber die Grundstrukturen der ökonomischen Welt sind so erschüttert, jetzt sollen es mal die anderen versuchen." Schließlich gibt Rühmkorf ausführlich seinen Abscheu vor dem Heuschrecken-Tsunami-Kapitalismus kund: "Lenin hat gesagt, die werden uns noch die Stricke verkaufen, an denen wir sie aufhängen."

Weiteres: Mit Freude registriert Jörg Lau, dass das Holocaust-Denkmal ohne Verbotsschilder gegen Stelenhüpfer auskommt: "Wir haben ein Denkmal für mündige Bürger, das nicht droht und nicht predigt." Henrike Thomsen und Peter Disch werfen einige Schatten auf die Biografie Gert Hofs, die der Lichtdesigner gern in etwas zu helles Licht wirft. Jens Jessen registriert amüsiert, wie die kulturbeflissenen Politiker bei der Eröffnung der Akademie der Künste selbige zur Domina stilisierten: "Bitte, bitte, schlag mich" war seiner Einschätzung zufolge das Motto am Eröffnungabend. Volker Hagedorn singt Dietrich Fischer-Dieskau ein Ständchen zum Achtzigsten. Thomas Assheuer verabschiedet den großen Philosophen Paul Ricoeur, der bewiesen habe, dass das Sichtbare nicht unbedingt das Wichtige ist.

In einem wunderbaren Text resümiert Katja Nicodemus das Festival von Cannes: "Wir sollten Abbitte leisten. Und im Rückblick eingestehen, dass die vertraute Prominentenbrigade von Haneke über Jarmusch bis Woody Allen ihre seit langem besten Filme und die radikalsten, präzisesten Gegenwartsbeschreibungen und Gesellschaftskritiken dieses Festivals abgeliefert hat."

Besprochen werden die große Ausstellung israelischer Kunst "Die neuen Hebräer" im Berliner Martin-Gropius-Bau (die Thomas E. Schmidt gezeigt hat, dass Israel sein "Selbstbild und sein Selbstwertgefühl aus sich, nicht aus den europäischen Katatstrophen und dem Davonkommen" bezieht), Zach Braffs Debütfilm "Garden State", David Lynchs offenbar bereits zum Klassiker avancierter Film "Mulholland Drive" und Haydns Streichquartette vom Gewandhaus-Quartett.

Den Literaturteil eröffnet Rolf Vollmann mit einer Huldigung der großen Frankfurter Thomas-Mann-Ausgabe (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr). Im Leben schildert Jörg Burger aus Kiew, was die orange Revolution bisher gebracht hat: Musiker werden zu Beratern und Ministern, Öl- und Gas-Millionäre bekommen Ärger.

Im Politikteil gibt es ein Interview mit Kanzler Gerhard Schröder. Darin verkündet er, dass seinen einzigen Ziel bleibt, die SPD zur stärksten Partei zu machen. Hübsch seine Antwort auf die Frage, ob er sich gelegentlich fragt, warum er das alles eigentlich mache: "Wenn man vier Monate Zeit hat bis zu einer wirklich wesentlichen Entscheidung, für das Land und für einen selbst, dann stellt man sich diese Frage nicht. Die stellt man sich als nachdenklicher Herausgeber eines nachdenklichen Blattes, aber doch nicht als Bundeskanzler, der sich auf eine Wahlauseinandersetzung eingelassen hat."

FR, 25.05.2005

Ingeborg Flagge liefert einen kurzen Bericht aus Sri Lanka. Dort werden die Spendengelder für den Wiederaufbau nicht ausgegeben, weil die Regierung "alles kontrollieren (will), ohne dazu die Kenntnisse oder Kapazitäten zu haben". Gerhard Schröder ist kein Zocker, glaubt Harry Nutt. "Er ist vielmehr, um es mit dem französischen Philosophen Blaise Pascal zu sagen, ein 'Mensch in der Entscheidung'." In Times Mager lesen wir über die Rückkehr der Hippies in der Werbung. Und Katrin Hillgruber stellt Mihail Sebastians Tagebücher der Jahre 1935-1944 vor (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 25.05.2005

Im Interview mit Iris Alanyali beschreibt der Schriftsteller Frank Goosen die miese Stimmung in Bochum - seit der VfL abgestiegen ist. Zu Arbeitertradition, Authentizität und Wahlen bemerkt er noch: "Ist Bayern noch immer das Land der Almbauern? Nein. Und trotzdem hauen sie sich gerne wild zuckend auf den eigenen Lederhosen-Arsch. Will sagen: Sie stilisieren sich und das, was sie für ihre Traditionen und ihr Brauchtum halten. Genau das passiert jetzt im Ruhrgebiet. Dass das Leben Arbeit und sonst gar nichts sei, war mehreren Generationen gleichsam ins Genom übergegangen. Wir Nachgeborenen haben unsere Väter daran kaputtgehen sehen und streben das nicht an. Und trotzdem klettern wir im Landschaftspark Meiderich Nord auf dem alten Hochofen rum und werden ganz stolz... Jahrzehntelang hieß es: dreckige Luft, hässliche Städte, hässliche Menschen, die nur Pommes, Pils und Pöhlen im Kopf haben, und der Kommunalverband Ruhrgebiet konterte mit 'Ein starkes Stück Deutschland'. Und so grün!"

SZ, 25.05.2005

"Die Frage, die Schröder jetzt dem Volk vorlegt, würde man im Ruhrgebiet so zusammenfassen: 'Hömma, Wähler, meinsse dat gezz ernst?", glaubt Franziska Augstein, weiß aber nicht genau, "was der Wähler sich da nochmal überlegen soll: "Abgesehen von der Umweltpolitik und einigen Anliegen der Gesellschaftspolitik (Stichwort Zwangsarbeiterentschädigung, Stichwort Homoehe), ist es mit der Idee des rot-grünen Gesellschaftsmodells nicht weit her. Schröder und seine Leute haben es selbst abgewählt, kurz nachdem sie an die Regierung kamen."

Weiteres: Andrian Kreye beobachtet eine erschreckende Renaissance der antisemitischen "Protokolle der Weisen von Zion", zumeist im arabischen Raum oder in abgwandelter Form als Verschwörungstheorie zum 11. September. Christian Kortmann hatte eigentlich darauf gehofft, dass sich die Sache mit der Volksmusik irgendwann von selbst erledigen würde: "Um so größer sind jetzt Unverständnis und Schrecken, mit denen man der neuesten Generation der volkstümelnden Musikanten gegenübersteht, denn diese werden immer jünger!" Auf der Medienseite geißelt Hans Leyendecker den neuen Trend zum Cliquenjournalismus.

Besprochen werden eine Ausstellung zum Werk des einstigen Jungen Wilden Jiri Georg Dokupil in den Hamburger Deichtorhallen, (gute Arbeit bescheinigt Till Briegleb dem "kuratorischen Bergungskommando"), eine Ausstellung zur Dreyfus-Affäre am Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrum, Fredrik Zellers Musiktheaterstück "Zaubern" in Schwetzingen, Jorinde Dröses Fontane-Inszenierung am Hamburger Thalia Theater und Bücher, darunter Hans Jürgen Kochs und Hermann Glasers Kulturgeschichte des Radios "Ganz Ohr" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 25.05.2005

Von den zehn teilnehmenden Inszenierungen beim diesjährigen Berliner Theatertreffen lobt Christoph Funke insbesondere diejenigen, die Klarheit, Transparenz und "denkerische Konsequenz" unter Beweis gestellt hätten, wie beispielsweise Jossi Wielers Inszenierung von Paul Claudels "Mittagswende": Sie "beruhigte das Pathos der Sinnsuche, sie zeigte geradezu exemplarisch, was das Theater gewinnt, wenn es auf schwelgerisch angebotene Oberflächenreize verzichtet."

Iso Camartin lenkt in der Rubrik "Europäischer Kulturhorizont" unseren Blick auf das "Journal" der Brüder Edmond und Jules de Concourt. Es ist, so Camartin, "eines der europäischsten Dokumente von Schriftkultur, die wir besitzen. Hier hat sich das Subjekt jene Priorität in der Darstellung von Geschichte errungen, die alles, was ist und geschieht, in ein uns selbst aufklärendes Licht zu rücken vermag."

Besprochen werden Bücher, darunter Jürgen Mantheys Hommage an "Königsberg" sowie Kinder- und Jugendbücher (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr). Einen "aufwühlenden Text" bespricht die 15-jährige Lea Madlaina Pestalozzi mit dem Begleitbuch zum Film "Sophie Scholl. Die letzten Tage" in der Rubrik Jugend rezensiert.

TAZ, 25.05.2005

Dietmar Kammerer hat die von der Volksbühne Berlin veranstaltete Reihe "ErsatzStadt" besucht und liefert eine hübsche Erklärung für den gänzlich verblassten Charme der Poplinken: "Die Überraschung kam zum Schluss. Als die Teilnehmer am Sonntag zum Abschlusspanel das Podium betraten, berichtete Moderator Markus Müller dem Publikum in knappen Worten: Die CDU habe die NRW-Wahl gewonnen und Müntefering baldige Neuwahlen im Bund angekündigt. Aber das sei jetzt nicht der Gegenstand der Diskussion, man fahre fort im Programm wie geplant."

Weiteres: In der Jazzkolumne feiert Christian Broecking das coole Comeback des Posaunisten Roswell Rudd. Besprochen wird die neue Ausstellung der Sammlung Marx im Hamburger Bahnhof.

Schließlich Tom.

FAZ, 25.05.2005

"Die polnische Öffentlichkeit hat den Underground entdeckt - und der traditionelle Literaturbetrieb muss sich damit auseinandersetzen", berichtet Richard Kämmerlings über die Warschauer Buchmesse. Als Beispiel nennt er Dorota Maslowska, die mit 19 Jahren ihren Roman "Schneeweiß und Russenrot" veröffentlicht hatte, der auch von der deutschen Kritik bejubelt wurde. Inzwischen hat sie studiert, ein Kind bekommen und ein zweites Buch geschrieben, "eine hundertfünfzigseitige, komplett in HipHop-Versen verfasste Abrechnung mit den am eigenen Leib erlebten Mechanismen des Medienbetriebs, der geistigen Verödung und dem allgegenwärtigen Konsumterror: 'Das Evangelium nach MC Doris' überschrieb die polnische Ausgabe von Newsweek ihre Titelgeschichte, Kritiker überschlugen sich im Lob der sprachschöpferischen Kraft dieser bitteren und selbstironischen Demaskierung der polnischen Gegenwart."

Weitere Artikel: Andreas Rossmann hofft, dass Jürgen Rüttgers die im Januar angekündigte Verdoppelung des Kulturhaushalts in Nordrhein Westfalen wahr macht. In Spanien tobt ein Streit darüber, ob man mit der Eta verhandeln darf, berichtet Paul Ingendaay. Joachim Fest erinnert sich im Interview an seine Gespräche mit Albert Speer: "Ich fühle mich betrogen. Wir haben ihn gegen Ende der Arbeit ja immer wieder gefragt, Herr Siedler und ich: 'Herr Speer, haben Sie irgend etwas klein geschrieben, was eigentlich in Großbuchstaben dastehen müsste? Haben Sie irgend etwas ausgelassen?' Er hat uns mit einem so treuherzigen Augenaufschlag versichert: 'Es gibt nichts.' Und da hat er uns ganz offensichtlich die Unwahrheit gesagt." Andreas Rosenfelder hat spannende Stunden bei der Konferenz "Animals in History" erlebt: "Ein Teilnehmer warf der Tagung 'Terrazentrismus' vor, weil keiner der fünfundvierzig Vorträge die Fische würdige, obwohl doch sieben Zehntel der Erdoberfläche unter Wasser stünden."

Auf der Kinoseite beschreibt Christoph Hochhäusler, der mit seinem Film "Falscher Bekenner" nach Cannes eingeladen worden war, von seinen Erlebnissen eben dort. Michael Althen stellt Michael Ondaatjes Buch "Die Kunst des Filmschnitts. Gespräche mit Walter Murch" vor. Und Andreas Kilb gibt zu, dass Festivals fast immer besser sind, als sie von den Kritikern beschrieben werden. Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld über den Beschluss der ARD, ihre politischen Magazine auf dreißig Minuten zu kürzen. Auf der letzten Seite porträtiert Hannes Hintermeier den Verleger Christian Strasser. Und Hannelore Schlaffer verteidigt den "Kulturschlaf", der den Menschen vorzugszweise im Theater ereilt.

Besprochen werden ein Konzert von Tortoise in Frankfurt, die Ausstellung "Die neuen Hebräer" im Berliner Martin-Gropius-Bau, ein Konzert von Ibrahim Ferrer in Frankfurt, Tschaikowskys "Eugen Onegin" an der Komischen Oper Berlin und Enki Bilals Science-fiction-Film "Immortal" (eine "Totgeburt des Kinos", findet Andreas Platthaus).