Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.08.2004. Wo ist da ein Stau? In der NZZ denkt Thomas Hettche über das reformrasende Deutschland nach. In der taz behauptet Michael Rutschky frech: "Belletristen sind von Natur aus keine Spezialisten für Orthografie." In der SZ zeigt sich Gustav Seibt kompromissbereit in Sachen Rechtschreibung. Die FAZ befürwortet die Rückkehr zu den alten chinesischen Schriftzeichen. Die FR gibt einen Einblick in die Belgrader Musikszene.

NZZ, 18.08.2004

Gibt es zu viele Reformen in Deutschland? Für den Schriftsteller Thomas Hettche hatte die Bundesrepublik der Nachgeborenen etwas zutiefst irreales. Erst jetzt beginnen sie "zu verstehen, wie sehr der Wohlstand des Landes die, die nach dem Krieg aufwuchsen, freikaufte. Eine Politik, die ohne Gewalt auskam, weil sie die Welt mied, und eine Ökonomie, in der es keine persönlichen Risiken gab, schienen ein sicheres Fundament. Und doch: Nie war man ganz heimisch in dieser unheimlichen Heimat ohne Tod und Gewalt, an die vielleicht wirklich nur jene Nachkriegsgeneration der Deutschen zu glauben imstande war, die sie schuf." Doch Hettche hat auch Unternehmer getroffen, die auf den sozialen und ökonomischen Umbau mit einem Befreiungsschlag reagiert haben - so etwa ein Produzent, der vor vier Jahren noch mit fast hundert Angestellten Internetseiten baute und nach der Pleite heute "eine kleine, aber feine Adresse für Animationsfilm" betreibt: "Die Reformen in diesem Land gehen zu langsam? Der Umbau, sagt er, geht rasend schnell. 'Und weisst du was?' Er grinst. 'Neulich stellte sich heraus, dass wir günstiger als die Koreaner produzieren.' Er schüttelt den Kopf und lacht laut und befreit. 'Das ist doch ein Witz, oder?'"

Marc Zitzmann schaut auf orthographische Reformversuche in Frankreich und erkennt: Wäre Reformverweigerung olympische Disziplin, so wäre Frankreich heißer Medaillen-Kandidat. Gescheitert sind die Reformvorschläge von "1900/01, 1903, 1905, 1952, 1957, 1965, 1967, 1977 und 1990". Zitzmann erklärt diese Reformverweigerungsfreudigkeit so: "Es gibt einen weitverbreiteten Fetischismus, der noch die abstrusesten orthographischen Absonderlichkeiten als Inkarnationen des ominösen 'genie de la langue' zelebriert. Gerade weil sie so schwierig ist, verleiht die französische Rechtschreibung demjenigen, der sie meistert, eine besondere Aura - das enorm populäre jährliche Fernsehdiktat der 'Dicos d'or' von Bernard Pivot, das gespickt ist mit orthographischen Kopfnüssen, spielt in dieser Hinsicht eine zwiespältige Rolle. Einerseits popularisiert es seinen Gegenstand weitherum, anderseits fördert es ein typisch französisches 'republikanisches Elitedenken'."

Weitere Artikel: Jürgen Brocan stellt die nahezu vergessene Dichterin Paula Ludwig vor. Besprochen werden die Inszenierung von Korngolds Oper "Die tote Stadt" bei den Salzburger Festspielen ("Kunstfehler noch und noch", schimpft Peter Hagmann) und Bücher, darunter eine Mao-Biographie und der neue Erzählband von Feridun Zaimoglu (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 18.08.2004

Auf der Meinungsseite fragt sich Michael Rutschky, mit welchem Recht ausgerechnet Journalisten bestimmen wollen, wie künftig geschrieben wird. Auch "Belletristen sind von Natur aus keine Spezialisten für Orthographie; ich kenne keinen, der regelmäßig den Duden benutzt. Die meisten halten idiosynkratisch an persönlichen Schreibungen fest, die erst Lektoren und Redakteure und Rechtschreibprogramme zugunsten des Standards beseitigen. Wieso sich in jenen Idiosynkrasien der Geist der Sprache selbst (o. s. ä.) äußert, ist nicht einzusehen; vor allem verraten die persönlichen Schreibungen, dass die Orthographie - anders als Grammatik und Syntax - Sache der Konvention ist. Man kann es so, aber auch anders machen. Der junge Enzensberger veröffentlichte seine Gedichte in radikaler Kleinschreibung. Was sie keineswegs inkommunikabel machte."

Im Kulturteil berichtet Cord Riechelmann über ein Umweltdesaster erster Güte: Die Klimaerwärmung sorgt dafür, dass britische Seevögel nicht mehr genug Nahrung im Wasser finden. "Auf den Orkney- und Shetland-Inseln im Norden Großbritanniens hat kaum ein Seevogel in diesem Jahr Junge großgezogen. Von den 16.200 Paaren der Dreizehenmöwe, die auf Shetland in Kolonien in den Felsen brüten, war der Bruterfolg nahezu null. Die 1.200 Paare von Trottellummen im Süden Shetlands nahe den Klippen von Sumburgh Head haben nicht ein einziges Küken großgezogen. Während die 6.800 Skua-Pärchen von Shetland gerade einmal zehn Küken zur Flugreife brachten. Die katastrophalen Zahlen für den Nachwuchs sehen für GryllteistenKüstenseeschwalben und Tordalke nicht viel anders aus."

Weiteres: Tobias Rapp kommentiert die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV ("Ohne institutionell verankerbare Forderungen wird dieses Unbehagen nur auf sympathisierendes Verständnis stoßen und wirkungslos verpuffen.") Auf der Medienseite stellt Daniel Bax die Zeitschrift Bidoun vor, die den Westen mit der jungen Kulturszene der arabischen Welt bekannt machen möchte. Eine einsame Besprechung widmet sich Thomas Ramges Buch über die Flicks.

Schließlich Tom.

FR, 18.08.2004

Thomas Burkhalter gibt einen Einblick in die Belgrader Musikszene, wo Turbofolk, Rap und die Blasmusik der Roma in kreativer Konkurrenz den internationalen Anschluss suchen: "'Die mafiosen Neureichen waren in den Kriegsjahren die einzigen Typen mit Geld: So zwängten sich junge Serbinnen in engste und kürzeste Kleidchen, schmierten zu viel Make-up ins Gesicht und schmissen sich an die Ganoven ran', blickt die Musikwissenschaftlerin Ksenija Stevanovic zurück. Heute wolle der Turbo-Folk sein nationalistisches Image loswerden - die Musik klinge stärker nach MTV und weniger folkloristisch. Mit überraschendem Erfolg: Stars des Turbo-Folk wie Jelena Karleusa, die in den neunziger Jahren Partnerin eines bekannten Drogendealers und Autoschmugglers war, finden heute auch in Bosnien und Kroatien ein Publikum. Umgekehrt sind Retortenpop, Techno und Kommerzrock der großen Stars aus Kroatien, Bosnien und Mazedonien auch in Belgrad äußerst beliebt."

"Woher kommt die allgemein so schwache Anziehungskraft des westlichen Politikmodells in Nahost", fragt Markus Messling vom Institut für Romanische Philologie der FU Berlin und bietet folgende Antwort: Es liegt am "eklatanten Widerspruch zwischen Reden und Handeln westlicher Politik" im Nahen Osten. "Seit Jahren betonen amerikanische und europäische Politiker mit dem Impetus aufgeklärter Überlegenheit die Notwendigkeit der Demokratisierung der Staaten im Nahen Osten. Gleichzeitig treibt der Westen weiterhin (Waffen-)Handel mit zahlreichen Autokratien in der Golfregion und stützt ausgerechnet das verfassungslose" und "bis in die Knochen korrupte" saudische Regime, Mubarak in Ägypten und - seit neuestem - Libyens Gaddafi. Demokratische Bestrebungen in Ägypten und auch dem Iran würden dagegen ignoriert aus Angst, die Islamisten könnten bei freien Wahlen gewinnen.

Weitere Artikel: Helmut Müller-Sievers beschreibt die Unterschiede zwischen den Absolventen der amerikanischen Business-Schools, die politisch hauptsächlich Republikaner produzieren, und den Absolventen der juristischen Fakultäten, die gern von Demokraten besucht werden. Rudolf Walther mokiert sich über Stadttouren in München ("Hitler's Munich. Third Reich Tour").

Besprochen werden eine Ausstellung in Wien über die "Baustelle Südafrika", eine Ausstellung der Rembrandt-Zeichnungen im Residenzschloss in Dresden und Bücher, darunter Sandor Marais Roman "Die Nacht vor der Scheidung" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 18.08.2004

Auf den Forumsseiten befindet der Schriftsteller Hans Christoph Buch zur Situation im Sudan: "Der Bürgerkrieg in der westsudanesischen Provinz Darfur ist kein Genozid. Der Vergleich mit Ruanda, "wo Hutu-Milizen 1994 innerhalb weniger Wochen 800.000 Tutsi und gemäßigte Hutu abschlachteten, ist falsch". Doch "dass es sich um keinen Völkermord handelt, macht die Sache nicht besser: Die ethnische Vertreibung in Darfur ist die schlimmste Krise der Gegenwart, begleitet von Morden und Massakern, Vergewaltigungen und Entführungen - Sklavenjagden haben in diesem Teil Afrikas eine unselige Tradition." Allerdings, so Buch, greifen die Theorien, die hier Ölinteressen oder einen Glaubenkrieg am Werk sehen, nicht, "weil im Westsudan Moslems gegen Moslems kämpfen. Opfer wie Täter bekennen sich zum Islam, beide Seiten haben die Arabische Liga als Vermittler akzeptiert. Die Rebellen wollen ihre Glaubensbrüder überzeugen, dass sie Opfer eines Völkermords sind, während die Regierung Zeit gewinnen will, um UN-Sanktionen zu unterlaufen und in Darfur vollendete Tatsachen zu schaffen: Politik der verbrannten Erde."

SZ, 18.08.2004

In der Rechtschreibdebatte versucht Gustav Seibt, Haupt- und Nebensächlichkeiten der Orthografie voneinander zu trennen, Pedanterie von Dramatik: "Eine für alle Seiten akzeptable Lösung wird man nur finden, wenn man den ganzen politisch-pseudopädagogischen Summs des neu aufgeflammten Streits weglässt, und sich auf die sprachlich-sachlichen Kernpunkte konzentriert. Es müsste einmal auch ohne das gehen, was Nietzsche 'Moralschleim' nannte. Ein hundertprozentiges Zurückgehen zum Duden von 1991 muss also gar nicht sein. Harmonisierungen wie die zwischen rad- und autofahren sind selbstverständlich ebenso unbedenklich wie eine konsistentere Groß- und Kleinschreibung. Und was liegt an der Frage, ob 'Schifffahrt' mit drei f geschrieben werden soll? Herzlich wenig. Inakzeptabel bleiben, trotz allen Herumdokterns, die neuen Regeln zur Getrenntschreibung, denn sie bedeuten einen absurden Angriff auf den deutschen Wortschatz. Wer keine 'Schwerbehinderten' kennt, ist schon beim Abfassen eines Schwerbehindertengesetzes schwer behindert."

"Die Buchmesse hat jetzt schon viel politische Bewegung in die arabische Welt gebracht, denn es mussten Kompromisse geschlossen und Einigungen erzielt werden. Und das ist nur der Anfang. Wir wollen mehr Dialog, mehr Übersetzungen, mehr Diskussionen über die arabische Gegenwartskultur", sagt der Patriarch der arabischen Literatur, der Präsident des arabischen Verlegerverbandes Ibrahim al-Moallem im Interview mit Werner Bloch (hier ein Porträt von Al Ahram).

Weiteres: Alex Rühle empfiehlt Otto Schily einen Besuch in der spanischen Enklave Ceuta in Marokko, wo Nato-Draht und bewaffnete Posten unerwünschte Flüchtlinge fernhalten sollen: "Der Zaun, der die Stadt und Europa vor den Flüchtlingen schützen soll, wirkt wie ein Magnet. Er avancierte binnen weniger Jahre zu einem der berühmtesten Bauwerke Afrikas." Sonja Zekri versucht die Abgebrühtheit einzuschätzen, mit der wir auf die von Rekord zu Rekord steigenden Ölpreise reagieren: "Man muss sich nur die Panik der Wirtschaftswunderkinder vor Augen führen und die klammheimliche Befriedigung der Konsumskeptiker, um den Grad unserer Kaltschnäuzigkeit ermessen zu können." Thomas Thiemeyer beobachtet, wie die These von der gelungenen Integration der Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr ihren Boden verliert. Jens Bisky berichtet von den Vorschlägen der Architekten Kleyer, Koblitz, Winkelmüller, für den Neubau der Topographie des Terrors Zumthors Türme stehen zu lassen. Susan Vahabzadeh fragt, warum es noch immer so wenig Regisseurinnen in Hollywood gibt. Petra Steinberger fürchtet durch den Abzug amerikanischer Truppen aus Deutschland den Verlust von einem "weiteren Stück Welt".

Besprochen werden die Aribert-Reimann-Uraufführung mit den Wiener Philharmonikern und Christoph Eschenbach in Salzburg und Bücher, darunter Neues zu Faust und Wilhelm Meister (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 18.08.2004

Die Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik (mehr hier) erbaut die Anhänger der ehemaligen Rechtschreibung mit der beispielhaften Geschichte einer chinesischen Schriftreform, die die Schreibung der Zeichen erheblich erleichtert hätte, aber nach Unwillensäußerungen aus der Bevölkerung 1986 zurückgenommen wurde: "Die Begründung: Trotz der langen Erprobungsphase hätten sich die verkürzten Schriftzeichen der neuen Liste nicht durchsetzen können. Weder die Bevölkerung noch die Wissenschaftler hätten sich auf die in der zweiten Liste vorgeschlagene Schreibweise einigen können." Wenig später kam der Computer, der die Verkürzung der Zeichen offensichtlich überflüssig machte, und "der Schritt zurück hat sich als Schritt in die Zukunft erwiesen".

Weitere Artikel: Ulf von Rauchhaupt greift den Fall des Paläoanthropologen Reiner Protsch auf, der wissentlich oder aus Schlamperei Schädel falsch datierte, um die These zu untermauern, dass der moderne Mensch schon früh ins heutige Deutschland vorgedrungen sei. Gina Thomas berichtet in der Leitglosse, dass der von Kathryn Gustavson angelegte Gedächtnisbrunnen für Lady Di im Hyde Park wegen seiner Gefährlichkeit jetzt von sechs Parkwächtern überwacht wird. Die klassische Philologin Dorothea Frede beklagt ausführlich einen geplanten Abbau geisteswissenschaftlicher Professorenstellen in Hamburg. Hans-Dieter Seidel erklärt Kästners "Fliegendes Klassenzimmer" zu seinem Lieblingsbuch. Gerhard Rohde stellt ein neues Klassik-Festival in Bad Reichenhall vor. Von Peter von Matt wird ein Nachwort zu Erzählungen Dürrenmatts vorabgedruckt. Gemeldet wird, dass Google mit Google Print einen neuen Service einrichten will, der auch zur Konkurrenz für Amazon werden könnte.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld über den Tod des Cutters Mahmoud Hamid Abbas, der in Falludscha unter anderem für das ZDF arbeitete. Dieter Bartetzko gratuliert dem Schauspieler Volker Lechtenbrink zum Sechzigsten.

Auf der letzten Seite schwärmt Otto Kallscheuer über das Festival Time in Jazz, das in der Nähe des sardischen Städtchens Berchidda verlassene Feld- und Wiesenkirchen zur inneren Einkehr wiedererweckt ("Als dann der erste Trompetenton da ist, glasklar wie ein barockes Kornett, da will sich unser Kirchlein noch mal gut fünfhundert Meter in den Himmel heben") Gregor Schuhen polemisiert gegen den Aufbau-Verleger Bernd F. Lunkewitz, der seine seit langem in Arbeit befindliche Schiller-Ausgabe nur dann herausbringen will, wenn er tausend Subskribenten findet. Und Christian Schwägerl singt ein Loblied auf den Genetiker Jens Reich, obwohl dieser das therapeutische Klonen nicht rundheraus verdammt.

Besprochen werden Antoine Fuquas "King Arthur"-Film, eine aus Seife gebaute Paraphrase auf das Bernsteinzimmer der Künstlerin Ingeborg Lüscher in Wattens/Tirol und eine Ausstellung über die maritimen Abenteuer von Tim und Struppi im National Maritime Museum von Greenwich (ehrlich!).

Übrigens: Werner Spies' heftige Polemik gegen die Moma-Ausstellung aus der gestrigen FAZ ist jetzt online.