Willkommen zu den besten Büchern des Monats! Sie wissen ja: Wenn Sie Ihre Bücher über den
Perlentaucher bei
buecher.
de bestellen, ist das nicht nur bequem für Sie, sondern auch hilfreich für den
Perlentaucher, der eine Provision bekommt.
Den Bücherbrief in seiner vollen Pracht können Sie auch per
E-Mail betrachten. Dazu müssen Sie sich
hier anmelden.
Weiterempfehlen können Sie ihn natürlich auch.
Weitere Anregungen finden Sie in den
Büchern der Saison vom
Herbst 2014, unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Herbst 2014, den
Leseproben in
Vorgeblättert, in der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag" und in den älteren
Bücherbriefen.
LiteraturEdouard LouisDas Ende von EddyRoman
S. Fischer Verlag 2015, 208 Seiten, 18,99 EUR
In Edouard Louis" Roman "Das Ende von Eddy" stoßen zwei emanzipative Diskurse aufeinander, der der
Klasse und der der
sexuellen Orientierung. Und wenn das geschieht, und der Autor es gut macht, knallt es: "Das Ende von Eddy" war in Frankreich auch deshalb ein solcher Skandalerfolg, weil im Diskurs der klassischen Linken die einfachen Leute auch immer gute Leute sind und nicht zum Beispiel Homosexuelle diskriminieren. Dummerweise sieht es in der Wirklichkeit, die Louis in seinem autobiografischen Roman beschreibt, nicht so aus. "Es gibt das Thema der Sexualität
nie unabhängig vom Thema des Milieus, der Klasse, das ist ein und dasselbe", sagt Louis im
Interview mit dem Fischer-Blog
Hundertvierzehn. "Sein Buch handelt vom tiefsten Frankreich, vom kaum sichtbaren, Front National wählenden Norden und seinem Lumpenproletariat, wie er es mit Marx nennt", schreibt Annabelle Hirsch in der Sonntags-
FAZ. Sie bewundert die Distanzierung vom eigenen Schicksal, die ihm mit dem
Werkzeugkasten Pierre Bourdieus in der Hand gelingt und die seine Schilderung des Elends eines schwulen kleinen Jungen in der nordfranzösischen Provinz um so plastischer vor Augen stellt. Ina Hartwig berichtet in der
SZ, wie Louis von
Institutionen der Republik gerettet wurde - heute studiert er an der Ecole Normale Supérieure, eine "große Schule", die man erst nach strengsten Prüfungen betreten darf.
Lizzie DoronWho the Fuck is Kafka?Roman
dtv 2015, 256 Seiten, 14,90 EUR
In "Who the Fuck is Kafka" erzählt die israelische Autorin Lizzie Doron von ihrer komplizierten und eigentlich fast unmöglichen Freundschaft zu dem
palästinensischen Filmemacher Nadim. Während dieser sich nie ganz entschließen kann, die Israelin zu mögen, schafft sie es nie ganz, ihre Vorurteile zu überwinden. Und beide bleiben fest im Griff einer geradezu
neurotischen Paranoia gefangen. Sehr lebendig und unterhaltsam erzählt Doron, wenn man den RezensentInnen Glauben schenken mag, von den absurdesten Begebenheiten. Im
Funkhaus Europa macht Esther Willbrandt jedoch sehr deutlich, dass einem das Lachen mitunter im Halse stecken bleibt. In der
taz sieht Alexandra Senfft den Roman "dicht an der Realität" erzählt. Den Titel
erklärt Doron in einem Interview mit
Deutschlandradio Kultur übrigens so: Sie und Nadim trafen sich mit einer EU-Politikerin, und während Nadim von all den Schikanen erzählte, denen er ausgesetzt ist, rief die Europäerin immer wieder:
Das ist doch Kafka! Am Ende war der Palästinenser genauso genervt wie die Israelin und fragte, als sie allein waren: "Lizzie, wer zur Hölle ist Kafka?"
Robert KischMöbelhausEin Tatsachenroman
Droemer Knaur Verlag 2015, 320 Seiten, 12,99 EUR
"Der Krieg, das Geld, die Gier", so die mit großen Worten nicht sparende Überschrift zu Volker Weidermanns Besprechung des Romans, für die er gleich die ganze Aufmacherseite des
FAS-Feuilletons verbrauchte. Ein literarisches Meisterwerk? Nun ja, ein Roman, von dem sich Weidermann,
wie zuvor schon Peter Unfried in der
taz, womöglich auch aus Betroffenheit berühren ließ. Denn hier wird der
Alptraum des bestallten Journalisten erzählt, die Entlassung im Zeitalter einer schrumpfenden Branche, die traurige Erfahrung, dass man nicht als Person, sondern Vertreter eines mächtigen Mediums umworben war und die verständliche Angst vorm Abstieg, in diesem Fall
zum Möbelverkäufer, der von Provisionen abhängt. "Und dann ist das alles plötzlich weg. Er ist raus. Die anderen sind noch drin", durchschauert es Weidermann, der das Buch als
Tatsachenroman über den so gnadenlosen Kapitalismus unserer Zeit liest. Der Protagonist, einst ein angesagter Feuilletonautor und Magazinredakteur, ist nur "zweimal falsch abgebogen, das reicht schon in diesen Tagen". Und dann? Möbelhaus. "Unterwürfig sein, empfehlen, lügen,
sich klein machen." So wie ein freie Autor gegenüber einem mächtigen Redakteur vielleicht? Der ehemalige Journalist mit dem Pseudonym scheint es jedenfalls recht krass vor Augen zu stellen. Meisterhaft, kühl und emphatisch nennt Weidermann das Buch am Schluss, und sehr gruselig.
Frank SchulzOnno Viets und das Schiff der baumelnden SeelenRoman
Galiani Verlag Berlin 2015, 336 Seiten, 19,99 EUR
In seinem zweiten Fall begleitet der Hamburger Privatdetektiv Onno Viets als Leibwächter einen verliebten Künstlerfreund auf einer Kreuzfahrt. Das Leben auf See fanden die Rezensenten ganz hinreißend eingefangen:
schönste Gegenwartsdiagnostik "auf der Schwelle zur Depression", lobte in der
Welt Richard Kämmerlings. Dass es am Ende zu einer Katastrophe kommt, muss man den Rezensenten glauben, über den Schluss verraten sie nichts. Als "Sprachkunstwerk ist das alles kaum zu toppen", versichert ein hochamüsierter Dirk Knipphals in der
taz. Knipphals schließt sich damit den Herren Regener und Henschel an, die den Kollegen Schulz für seinen
Sprachwitz feierten. Wie bei Wolf Haas, verspricht Richard Kämmerlings, nur dass Schulz
besser Plattdeutsch kann.
Marcel OphülsMeines Vaters SohnErinnerungen
Propyläen Verlag 2015, 320 Seiten, 22 EUR
Marcel Ophüls ist wandelnde Zeitgeschichte: Seine Erinnerungen reichen noch zurück bis in die
frühe Nazizeit, von der französischen und amerikanischen Emigration ganz zu schweigen, und dann noch vom
großartigen Vater. Nebenbei hat Ophüls allerdings ganz nebenbei mit seinem Dokumentarfilm "Le chagrin et la pitié" die
französische Vergangenheitsbewältigung mit angestoßen - der Film wurde unter Präsident Giscard d"Estaing verboten und darum umso berühmter. Das alles hindert Ophüls nie, in seinen Memoiren den selbstironischen Plauderton aufzugeben (siehe das
"Vorgeblättert" im
Perlentaucher). Verena Lueken feiert in der
FAZ die Intelligenz, die Präzision, die
selbstironische Offenheit und die Beobachtungsgabe des Autors, um sich bestens zu unterhalten. Anke Sterneburg liest das Buch in der
SZ als auf Nabelschau und Nostalgie verzichtende Verbindung von Persönlichem und Universalhistorie durch
das Kino.
SachbuchRichard J. EvansVeränderte VergangenheitenÜber kontrafaktisches Erzählen in der Geschichte
Deutsche Verlags-Anstalt (DVA) 2014, 224 Seiten, 19,99 EUR
Es ist ja eigentlich nicht erstaunlich, dass Richard J. Evans, einer der renommiertesten Historiker der Nazizzeit und des Zweiten Weltkriegs, sich die Frage nach der
kontrafaktischen Erzählung stellt. Die Frage: "Was wäre geschehen, wenn..." steht ja gerade im Zentrum der Zeitgeschichte. Musste es zu den Nazis kommen?
Luis Buñuel hat sie einmal aufs schärfste skizziert, in einer Erzählung, in der
Hitlers Vater an dem Tag, an dem er eigentlich hätte Hitler zeugen sollen, betrunken nachhause kommt und einschläft.
Wer (britische und angloamerikanische konservative, männliche Historiker vor allem) und
warum (Erklärungsmacht manifestieren!) alternative Geschichtsszenarien entwirft, lernt
Welt-Rezensent Erhard Schütz bei Evans und nebenher auch so einiges über den
deutschen Weg in die großen Kriege und das britische Verhältnis zu Deutschland. Und natürlich lernt er, was jeder Historiker ihm versichert: Schuster, bleib bei den Leisten und erzähle auf keinen Fall kontrafaktisch. Auch Ruth Fühner freut sich in der
FR über die nicht nur politische, sondern auch
methodologische Begründung des geringen Nutzens kontrafaktischen Erzählens in der Geschichtsschreibung.
Ian Buruma"45Die Welt am Wendepunkt
Carl Hanser Verlag 2015, 412 Seiten, 26 EUR
In Deutschland endete der Krieg im
Frühjahr 1945, in Japan erst im Herbst, und allenthalben herrschte
Chaos: Diebstahl und Schwarzmarkt, Militärgerichte und Lynchjustiz, Gerettete und Besiegte, Vertriebene und Heimkehrer. Was als Stunde Null bezeichnet wird, erstreckte sich tatsächlich über ein ganzes Jahr. "Year Zero" lautet denn auch der englische Originaltitel des Buches, in dem der niederländisch-britische Historiker
Ian Buruma die Ereignisse des Schicksalsjahres im globalen Querschnitt erfasst und erfahrbar macht. Burumas Ansatz ist dabei narrativ, etwa indem er sich mehr auf Romane als auf offizelle Dokumente stützt oder die
Erfahrungen seiner eigenen Familie einfließen lässt, wie Paul Stänner im
DLF hervorhebt. Als eine "historische, psychologische und moralische Betrachtung über
Varianten von Rachebedürfnis und dessen gelegentliche Läuterung zu Gerechtigkeit"
fasst der Globalhistoriker Jürgen Osterhammel das Thema des Buches in der
FAZ zusammen. Und im
Dradio Kultur lobt Eike Gebhardt Burumas "bewundernswerte Zurückhaltung" und verständnisvolle Empathie, die den Band zu einer "
spannenden Mentalitätsgeschichte der Nachkriegswelt" machen.
Jan AssmannExodusDie Revolution der Alten Welt
C. H. Beck Verlag 2015, 493 Seiten, 29,95 EUR
Die Exodus-Erzählung ist nicht nur ein Schlüsseltext des Alten Testaments, sondern auch die Gründungserzählung der modernen Welt, meint der Ägyptologe
Jan Assmann. Dabei geht es ihm nicht um die historische Wahrheit des Buches Exodus, sondern um seine
Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. "Assmann findet dafür die schöne, aufschließende Formel: "Wahr ist, was sich bewährt",
zitiert Hannes Stein in der
Welt den Ansatz des Autors. Dabei gehe es ihm um das Neue, das im Buch Exodus in die Religion eingeführt wird, nämlich die
Bundesidee, also die Vorstellung eines liebenden Gottes, der sich leidenschaftlich und eifersüchtig für sein Volk einsetzt. Verbunden mit der Gewalt Gottes ist die Frage nach dem
gewalttätigen Potenzial der Religion, die angesichts des islamistischen Terrors so relevant ist wie eh und je,
meint Christiane Florin im
DLF. Für ihn sind Assmanns Einlassungen dazu "eleganter und brisanter als vieles, was nach den Anschlägen von Paris über die Gewalt der Religion veröffentlicht wurde". "Ein
fulminantes Werk"
lobt der
Alttestamentler Bernhard Lang in der
NZZ das Buch, das im Februar die Sachbuch-Bestenliste von
SZ und
NDR anführte.
Reinhard Seiß (Hg.)
Harry GlückWohnbauten
Müry Salzmann 2014, 240 Seiten, 48,00 EUR
Rund 18000 Wohnungen hat der österreichische Architekt
Harry Glück entworfen, seine Prinzipien - möglichst viel Grün und Freiraum für alle - sind heute noch (oder wieder) Ideale des urbanen Wohnens. Im Gegensatz zu den meisten städtebaulichen Großprojekten steht bei Glück die Funktionalität an erster Stelle, weswegen seinen Gebäuden lange der
Ruf des Hässlichen anhaftete - zu Unrecht, wie
Reinhard Seiß meint. Zudem veränderten sich ästhetische Vorstellungen, während die Nutzbarkeit eines Gebäudes ein bleibender Wert sei. In Zeiten rasant steigender Großstadtmieten kommt diese Würdigung von Glücks
sozialem Wohnungsbau gerade recht, freut sich Laura Weißmüller in der
SZ. Patricia Grzonka
sieht in der
NZZ die Bauten in den prächtigen Fotostrecken von Hertha Hurnaus auch ästhetisch rehabilitiert, nicht vollauf zufrieden ist sie hingegen mit den zum Teil redundanten Textbeiträgen.