07.02.2011. Esther Kinsky nimmt uns mit in den Banat, Georges-Arthur Goldschmidt liest Kafka, Milada Souckova führt uns in eine Schule des Erzählens, Edward Said bespricht Musik ohne Grenzen, Karen Duve isst anständig und Jan Wagner besingt eine Schnecke, Hamed Abdel-Samad prophezeit den Untergang der islamischen Welt. Dies alles und mehr in den besten Bücher des Monats Februar.
Willkommen zu den besten Büchern des Monats! Sie wissen ja: Wenn Sie Ihre Bücher über den
Perlentaucher bei
buecher.de bestellen, ist das nicht nur bequem für Sie, sondern auch hilfreich für den
Perlentaucher, der eine Provision bekommt.
Den Bücherbrief in seiner vollen Pracht können Sie auch per
E-Mail betrachten. Dazu müssen Sie sich
hier anmelden.
Weiterempfehlen können Sie ihn natürlich auch.
Weitere Anregungen finden Sie in den älteren
Bücherbriefen, den
Büchern der Saison vom
Herbst 2010, unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Herbst 2010, der Krimikolumne
"Mord und Ratschlag" und den
Leseproben in
Vorgeblättert.
LiteraturEsther KinskyBanatskoRoman
Matthes und Seitz 2011, 246 Seiten, 19,90 Euro
2004 zog Esther Kinsky nach
Battonya, einer kleinen ungarischen Stadt im Banat, fast an der Grenze zu Rumänien. Eine Handlung zum Nacherzählen gibt es nicht. Kinsky erzählt von den Menschen, die dort leben, den umliegenden Ortschaften - im Mittelpunkt aber steht die flache
Landschaft des Banat, die sie mit "ruhigem, tiefem Blick" vor uns entfaltet, lobt Anja Hirsch in der
FAZ. Für sie ist Kinskys Buch vor allem ein
Sprachereignis: "Man riecht, schmeckt, hört, sieht dieses Land", notiert die Rezensentin. So denkt auch Ursula Rütten, die im
ORF die "poetische Prosa" und das Einfühlungsvermögen Kinskys hervorhebt. Ihr hat Esther Kinsky die Suche nach der richtigen Form
so beschrieben: "Nicht dass ich die bewusst gesucht habe, aber diese unglaubliche Langsamkeit,
dieses Schwebende, das erschien mir damals so, ja tatsächlich, unwirklich, wie ein Traum oder wie ein Film von Bela Tarr".
Milada SouckovaBel CantoRoman
Matthes und Seitz 2010, 288 Seiten, 22,90 EUR
Milada Souckovas 1943 erstmals erschienener Roman "Bel Canto" ist zwar erst einmal besprochen worden, aber Alena Wagnerova hat in der
NZZ eine so
informative Rezension vorgelegt, dass wir sofort neugierig auf diese "bedeutendste Außenseiterin der tschechischen Nachkriegsmoderne" wurden. "Bel Canto" scheint für diese Einordnung ein gutes Beispiel zu sein. Es geht um eine
Opernsängerin, Giulia, die nicht den Erfolg hat, den sie ihrer Ansicht nach verdient hätte und das auch ausführlich begründet. Doch erzählt sie nicht selbst, sondern überlässt dies einem
männlichen Ich-Erzähler, der ihre Klagen und Träume weitergibt, aber auch ironisch kommentiert. Der ständige Wechsel der Erzählperspektiven hat, so Wagnerova, zur Folge, dass der Leser nicht nur Giulias Geschichte erfährt, "er nimmt damit auch teil an einer
Schule des Erzählens, in der vor ihm eine breite Palette der Möglichkeiten, wie man einen Stoff darstellen kann, ausgebreitet wird". Das gelingt nicht in allen 27 Kapiteln des Buches gleich gut, so Wagnerova, aber die Lektüre lohnt es ihrer Ansicht nach auf jeden Fall.
Georges-Arthur GoldschmidtMeistens wohnt der den man sucht nebenanKafka lesen
S. Fischer Verlag 2010, 141 Seiten, 16,95 EUR
Auch zu diesem Buch gibt es nur eine Besprechung, aber im Gegensatz zu Souckova ist Georges-Arthur Goldschmidt kein Unbekannter in Deutschland. Der Mann hat
ganz wunderbare Bücher geschrieben, von seinen autobiografischen Romanen bis zu den kleinen Büchern über die
deutsche Sprache, die nicht nur für Deutsche und Franzosen eine lehrreiche Lektüre sind, sondern vielleicht auch für arabische Muttersprachler (es gab vor einigen Jahren einen Artikel - war es in der
NZZ? In der
FAZ? - der erklärte, dass das Arabische, ähnlich wie das Deutsche, auf
Zusammensetzungen beruht, die die Sprache unglaublich flexibel und anschaulich machen. Wenn sich jemand erinnert, würden wir uns über einen Hinweis sehr freuen!). Dies hier ist ein Band über
Kafka. Keine Interpretation einzelner Werke, wie Lothar Müller in der
SZ betont, eher eine Anschmiegung an die Texte, die nicht auf Deutung hinauswill, sondern paraphrasiert, die das eigene Leben - vor allem Goldschmidts Erfahrung der
körperlichen Züchtigung im Internat - an die Romane und Erzählungen Kafkas rückt, ohne dabei je aufdringlich zu sein.
Iwan Bunin Am Ursprung der Tage Frühe Erzählungen 1890 - 1909
Dörlemann Verlag, Zürich 2010, 286 Seiten, 24,90 Euro
()
Reinstes Leseglück bescherten den Rezensentinnen diese frühen Erzählungen
Iwan Bunins, von denen einige zum ersten Mal überhaupt ins Deutsche übersetzt wurden. Sehr sinnlich, sehr suggestiv erzähle Bunin, als Spross einer verarmten Adelsfamilie selbst auf dem Land aufgewachsen, von Bauern und Gutsbesitzern, Bettlern und Tolstoianern, wie Ilma Rakusa in der
NZZ schwärmt. Aber da gibt es kein Vertun: "Ihre Leichtigkeit wiegt schwer." In der
FR bewundert Judith von Sternburg die "
unangestrengte Meisterschaft" des späteren Nobelpreisträgers. Im
Deutschlandradio war Karla Hielscher von den "hochpoetischen Prosatexten"
hingerissen. Als meisterhaft wird auch Dorothea Trottenbergs Übertragung gelobt.
Michael KöhlmeierMadalynRoman
Carl Hanser Verlag 2010, 174 Seiten, 17,90 Euro
Kein Februarbuch ist das, aber die Besprechungen waren zeitlich so auseinandergerissen - zwei im August, eine im Oktober, eine im November, eine im Februar - dass es sich nie so recht anbot für einen Bücherbrief. Egal, jetzt aber! Alle waren sie begeistert von Michael Köhlmeiers Roman über die
erste große Liebe der 14-jährigen Madalyn zu einem "ratlosen, kleinen Betrüger" (
NZZ). In die Sache verwickelt - ganz gegen seinen Willen - wird ein
älterer Schriftsteller, der als Retter und Tröster zur Seite stehen muss. "Äußerst charmant" findet das Christoph Schröder in der
SZ beschrieben. Die
FR schwärmt von der "immensen Intensität", mit der Köhler erzählt. Manchmal
fast zu raffiniert findet Beatrice von Matt in der
NZZ, dem Text dann doch erliegend. Und bei Gabriele Killert (
Zeit) erwacht die Sehnsucht nach den "
ganz großen Gefühlen".
Jan WagnerAustralienBerlin Verlag, Berlin 2010, 102 Seiten, 18 Euro
()
In allen vier Himmelsrichtungen erkundet
Jan Wagner in diesem Gedichtband die Welt, er reist durch Raum und Zeit, über Wiesen und Kontinente, besingt
Pflaumenbäume,
Murmeltiere und Segelschiffe. Selten hat ein Gedichtband solch euphorische Reaktionen hervorgerufen. Bei Gustav Seibt stellte sich "unweigerlich gute Laune" ein, wie er in der
SZ meldet. Für ihn ist Wagner nicht nur ein großer Könner, ein Meister der Klänge und Worte, sondern auch in seiner unabgeklärten
Weltenfreundlichkeit auch sehr sympathisch. In der
FAZ ist Wiebke Porombka einfach hingerissen von der umwerfenden Klarheit und Schönheit der Gedichte, etwa über die Schnecke, ein "
kleines grasschiff, immer in schräglage", "zieht sie einen silberschweif / hinter sich her, ähnlich den fallenden / sternen - nur langsamer, / langsamer". Weil Jan Wagner auch ein großartiger Rezensent ist, wollen wir noch auf einen Gedichtband hinweisen, den er kürzlich in der
FR empfohlen hat:
Constantin Virgil Banescus Band
"Der Hund, die Frau und die Liebäugler" ().
SachbuchHamed Abdel-SamadDer Untergang der islamischen WeltEine Prognose
Droemer Knaur Verlag 2010, 240 Seiten, 18 Euro
Hamed Abdel-Samad hat in gewisser Weise die Ereignisse in
Ägypten, Tunesien, Jemen, Jordanien und Syrien vorausgesagt: "Der Untergang der islamische Welt hieß sein schon im November erschienenes Buch, dass in den deutschen Zeitungen kaum Niederschlag gefunden hat. Die Ereignisse geben ihm zumindest zum Teil recht. Ob jetzt gleich die islamische Welt untergeht, wie er in Anlehnung an
Oswald Spengler glaubt, oder nur die islamisch begründeten Diktaturen muss sich noch herausstellen. Kernpunkt der These von Samad ist, dass in der islamischen Welt der Glaube die politische Situation prägt: Wer
ohne zu fragen an Gott glaubt, glaubt auch ohne zu fragen an den Vater oder den Staatslenker. Eine ungesunde Situation, findet Samad, die nicht nur die Politik, sondern auch die Gesellschaft vergiftet. Christian Meier fand diese Diagnose in der
Zeit zu
oberflächlich. In der
FAZ hatte Wolfgang Günter Lerch immerhin das Gefühl, dass Samad hier einen
wunden Punkt berührt. Im Interview mit der
Welt erklärte Samad: "Viele Muslime sitzen da und ernähren sich von Ressentiments, Gekränktsein und Kränkung. Das ist
keine gesunde Nahrung."
Karen DuveAnständig essenEin Selbstversuch
Galiani Verlag, Berlin 2011, 335 Seiten, 19,95 Euro
()
Wahrscheinlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis
billiges Fleisch ebenso geächtet ist wie Zigaretten. Zumindest die Literaten rücken Tierquälern und Profiteuren der Massentierhaltung auf den Leib. Nach David Foster Wallace (
"Am Beispiel des Hummers") und Jonathan Safran Foer (
"Tiere essen") protestiert nun Karen Duve mit "Anständig essen" gegen eigentlich unappetitliche Essgewohnheiten. Ein Jahr lang hat Duve im Selbstversuch eine
andere Ernährung getestet, erst Bio, dann vegetarisch, vegan und schließlich frutarisch gegessen. In der
taz lobte Karen Krüger die gut recherchierten Berichte aus Legebatterien und Mastbetrieben. In der
FR freute sich Kathrin Hartmann, mit wieviel Witz die Autorin die
Ausreden und Irrationalitäten eines gedankenlosen Fleischkonsum entlarvt. In der
Zeit empfahl Iris Radisch das Buch sehr nachdrücklich, in der Gewissheit, dass nach der Lektüre niemand mehr im Supermarkt zur
Hähnchen-Grillpfanne für 2,99 Euro greift.
Edward SaidMusik ohne GrenzenC. Bertelsmann Verlag, München 2010, 356 Seiten, 22,95 Euro
()
Edward Said war nicht nur Literaturwissenschaftler und einer der wichtigsten palästinensischen Intellektuellen, er war auch
Pianist und Musikkritiker. Der Band "Musik ohne Grenzen" versammelt die Essays, die Said im Laufe der Jahre für die
New York Times oder
The Nation über Komponisten, Interpreten und ihre gesellschaftliche Verortung verfasste. Für Wolfran Goertz erweist er sich damit als Musikkenner von großer Urteilskraft, wie er in der
Zeit lobt. Immer wieder möchte Goertz "Endlich sagt das mal jemand!" ausrufen, wenn er bei Said vom
Konservatismus in der Konzertkultur liest, von
überschätzten Pianisten und dem Niedergang der Musikpädagogik. In der
FAZ zeigt sich Jürgen Kesting weniger einverstanden: Neben gravierenden Mängel bei Übersetzung und Lektorat moniert er vor allem "
haarsträubende" Urteile.
Amy ChuaDie Mutter des ErfolgsWie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte
Nagel und Kimche 2011, 256 Seiten, 19,90 EUR
Amy Chua, amerikanische Juraprofessorin in Harvard, beschreibt in diesem Erfahrungsbericht einer
ehrgeizigen Mutter ihre recht drastischen Erziehungsmethoden: Sie akzeptierte nur Bestnoten, ließ ihre Kinder jeden Tag stundenlang Geige und Klavier üben, verbot ihnen fernzusehen oder bei Freunden zu übernachten. Bei einer Tochter hatte sie damit Erfolg, die andere rebellierte öffentlich. In der
Zeit stellte Elisabeth von Thadden fest, dass Chua sich mit
Selbstironie und keineswegs als Erfolgsmutter beschreibt. Auch ihr Erziehungsideal ist der Rezensentin vertraut: Kultur und vor allem
klassische Musik sind für Chua der Schlüssel zu einem erfolgreichen Leben. Dass Chua jedoch nur am Aufstieg ihrer eigenen Kinder interessiert ist, fand Thadden so unangenehm, dass sie das Buch am Ende ablehnte. In der
FAZ kam Sandra Kegel
zu dem Urteil: "So findet man vielleicht
Erfolg. Aber
nicht sein Glück." Petra Steinberger
in der SZ und Katja Irle
in der FR stellten in ihren Artikeln eher die Verunsicherung westlicher Eltern angesichts solch
entschlossener Immigranten heraus: Was nützt es, fragen sich diese laut Steinberger, "dass meine Kinder einmal kreativ sind und mitfühlend und sozial kompetent, dass das richtig so ist und gut, wenn ihnen
diese kleinen Leistungsmaschinen so weit voraus sind?"
Bascha MikaDie Feigheit der Frauen Rollenfallen und Geiselmentalität. - Eine Streitschrift wider den Selbstbetrug
C. Bertelsmann Verlag 2011, 256 Seiten, 14,99 Euro
Eine Debatte hat sich an Bascha Mikas Buch nicht entzündet, auch wenn es bereits einen kleinen Medienrummel ausgelöst hat. Zu abgestoßen fühlten sich die meisten Rezensentinnen von den Hau-drauf-Parolen Mikas, die den
Frauen selbst die Schuld gibt an ihrer Misere: Großartige Ausbildung, dann kommen die Kinder und sie sitzen, vom Einkommen des Mannes abhängig, zu Hause rum. Über "
platteste Frauenklischees" ärgert sich Johanna Adorjan in der
FAZ (die zwei lage Spalten braucht, um nachzuweisen, dass das Buch einen Streit nicht lohnt). In der
Zeit bescheinigt Susanne Mayer Mika kolossale Ahnungslosigkeit über die Situation von arbeitenden Frauen. Cora Stephan
brachte es in der
Welt so auf den Punkt: "Die alte Leier wird nicht dadurch aufregender, dass hier nicht Vati, sondern
Mutti vom Krieg erzählt." Ebenfalls in der Welt
fand Silke Scheuermann das Buch als einzige Rezensentin lesenswert: "Die Leserin muss sich nicht jeden Schuh anziehen, der in Mikas Thesenladen angeboten wird - es schadet aber nicht,
sich selbst zu prüfen, ob da nicht doch so etwas wie eine 'Lust am Leiden' in einem schlummert."
Joseph VoglDas Gespenst des KapitalsDiaphanes Verlag, Zürich 2010, 224 Seiten, 12 Euro
()
Zumindest das Feuilleton hat
Joseph Vogl mit seiner Schrift über die große Chimäre des Finanzkapitalismus überzeugt: Märkte sind nicht vernünftig, sie funktionieren nach keiner Logik, auf ihnen herrscht
pure Irrationalität. Selbst die Unterscheidung zwischen realen und fiktiven Werten ist auf den Finanzmärkten aufgehoben. In der
FAZ hofft Tomasz Kurianowicz, dass sich möglichst viele die Nase an diesem Text
blutig schlagen werden. In der
FR begrüßt Christian Schlüter diese Entzauberung der reinen Wirtschaftslehre und fordert eine "Säkularisierung des ökonomischen Wissens". In der
Zeit bewundert Thomas Assheuer die "
unterkühlte Eleganz", mit der Vogl das kapitalistische Denken seziere, merkte aber kritisch an, dass bei Vogl Politik keine Rolle spiele.
Hörbuch Thomas BernhardAutobiografische SchriftenAudio Verlag 2010, 15 CDs, 70,00 EUR
Epochal! Fünf Erzählungen, je gelesen von Ulrich Matthes, Wolfram Berger, Peter Simonischek, Burghart Klaußner und Gerd Voss. In der
Zeit würdigt Alexander Cammann jeden einzelnen und hebt hervor, dass alle zusammen die
Ursprünge von Bernhards Obsessionen ausleuchten. Auch Alexander Kissler vergibt in der
SZ höchstes Lob an jeden der Interpreten, deren Tonfall so unterschiedlich ist: von
Unterkühlung bis zu
Grandezza. Beide Rezensenten sind sich einig: laut vorgelesen versteht man Bernhard am besten.