02.01.2012. Albrecht Selge flaniert durch Berlin. Christina Maria Landerl streift durch Wien. Josh Weil liebt seinen Deutz-Traktor. Mary Bauermeister experimentiert mit Karlheinz Stockhausen. Doug Saunders erkundet die Geburtsstätte der neuen Mittelschicht. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Januar.
Willkommen zu den besten Büchern des Monats! Sie wissen ja: Wenn Sie Ihre Bücher über den
Perlentaucher bei
buecher.
de bestellen, ist das nicht nur bequem für Sie, sondern auch hilfreich für den
Perlentaucher, der eine Provision bekommt.
Den Bücherbrief in seiner vollen Pracht können Sie auch per
E-Mail betrachten. Dazu müssen Sie sich
hier anmelden.
Weiterempfehlen können Sie ihn natürlich auch.
Weitere Anregungen finden Sie in den
Büchern der Saison vom
Herbst 2011, unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Herbst 2011, den älteren
Bücherbriefen, den
Leseproben in
Vorgeblättert und der Krimikolumne
"Mord und Ratschlag".
LiteraturAlbrecht Selge Wach Roman
Rowohlt Verlag 2011, 252 Seiten, 19,95 Euro
Man
flaniert wieder, am liebsten durch Berlin. In der
SZ hat Gustav Seibt Anfang Dezember
Klaus Bittermanns "Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol" und
David Wagners "Welche Farbe hat Berlin?" die beide Orte in Berlin festhalten, die es schon nicht mehr gibt oder bald nicht mehr geben wird. In Albrecht Selges Debütroman "Wach" ist es ein
chronisch schlafloser Angestellter einer Berliner Shoppingmall, der nachts durch die Straßen zieht. Weniger eine Geschichte beschreibt Selge hier, als ein Geflecht aus "Beobachtungen,
Denkfragmenten, Erlaufenem", so Kilian Trotier in der
Zeit. Stilsicher und mit "fein dosierter Komik" schildert Selge die Eindrücke und Erlebnisse seines Protagonisten, lobt Rainer Moritz in der
NZZ. Und
SZ-Rezensent Gustav Seibt wird dieses "handwerklich perfekte" Buch wohl als "
Erinnerungsspeicher" aufbewahren.
Josh Weil Das neue Tal Novelle
DuMont Verlag 2011, 125 Seiten, 17,99 Euro
Eine Novelle über einen
alten Mann, der seinen Traktor, einen alten
Deutz, besser behandelt als sich selbst. In der
FAZ bewundert Lena Bopp, wie Josh Weil ein Psychogramm seiner Hauptfigur zeichnet, ohne in psychologische Analysen zu verfallen. Und Weil schildert nicht nur das
Vergehen der Zeit, wie
SZ-Rezensent Christopher Schmidt es noch nie zuvor gelesen hat. Mit großer Bewunderung liest Schmidt auch die kenntnisreichen und achtsamen
Detailschilderungen - von Tieren, Pflanzen oder Einzelteilen des Traktors. Ein "fantastischer" Schriftsteller, der aus dieser kleinen Erzählung "wahre Kunst" mache, meint der ganz hingerissene Kritiker. "Das neue Tal" ist übrigens im amerikanischen Original Teil einer Novellensammlung. "Der Rest muss her,
aber schnell",
fordert Christoph Schröder nach der Lektüre auf
Zeit online.
Christina Maria LanderlVerlass die StadtSchöffling und Co. Verlag 2011, 136 Seiten, 16,95 Euro
SZ-Rezensent Nico Bleutge hat sich ganz und gar verloren in diesem "funkelnden kleinen Buch" von Christina Maria Landerl, das wohl keine Geschichte im gradlinigen Sinne erzählt, aber doch ein Leitmotiv hat: die Suche nach der
verschwundenen Margot. Schauplatz - und Hauptfigur - der Geschichte ist
Wien, das in kurzen Erzählsequenzen durchstreift wird: "Auf diese Weise entsteht ein Gefühl für den brüchigen Boden, auf dem ihre Figuren durch den
Alltag stromern",
lobt Susanne Schaber in der
Presse. In der
Wiener Zeitung bewundert Andreas Wirthensohn die Leichtigkeit, mit der Landerl erzählt.
Mansura Eseddin Hinter dem Paradies Roman
Unionsverlag 2011, 189 Seiten, 19,90 Euro
Für
NZZ-Rezensentin Angela Schader
ist dies schon allein deshalb ein faszinierender Roman, weil die 1976 geborene ägyptische Schriftstellerin Mansura Eseddin einen Blick auf die
ältere Generation wirft, der kritisch, aber nicht bitter ist. Die Hauptfigur ist eine Journalistin, die nach gescheiterter Ehe und angesichts des drohenden Todes ihres Vaters ihr Heimatdorf im Nildelta besucht. Auch eine Jugendfreundin, eine Art
Doppelgängerfigur, spielt eine wichtige Rolle. Manche Erzählfäden muss man als Leser selbst aufnehmen und weiterspinnen, so Schader, aber die Mühe lohne sich in jedem Fall, schon allein wegen der prächtigen Skizzen aus dem
dörflichen Milieu. Auch ein Stück
Wirtschaftsgeschichte erzählt Eseddin,
erfährt man von Brigitte Voykowitsch im
ORF. Der Roman "zeigt, welche verheerende Rolle das Aufkommen der
Ziegelfabriken und der dadurch ausgelöste Goldrausch gespielt haben", zitiert sie die Autorin. "Aus den gesellschaftspolitischen Entwicklungen wird aber auch klar, warum die Revolution in diesem Jahr - der sogenannte
Arabische Frühling - eine Notwendigkeit war."
Mary Bauermeister Ich hänge im Triolengitter Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen
C. Bertelsmann Verlag 2011, 336 Seiten, 21,99 Euro
Mary Bauermeister war von 1967 bis 1973 mit Karlheinz Stockhausen verheiratet. Davor lebte sie einige Jahre mit Stockhausen und dessen damaliger Frau in einer
menage a trois, Kinder inklusive. Bauermeister war in dieser Zeit bereits eine international erfolgreiche Künstlerin. In ihrem Kölner Atelier traf sich die Avantgarde der internationalen Kunst- und Musikszene, neben Stockhausen etwa John Cage, Nam June Paik und Christo. Wie
Kunst und Leben sich beeinflussten, und wie
enthusiastisch man in den Sechzigern und Siebzigern mit beidem
experimentierte, davon erzählt sie in diesem Buch.
SZ-Rezensent Wolfgang Schreiber war schwer beeindruckt und er hat viel gelernt über die
Kunst- und Musikavantgarde in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Comic Bastien VivesPolinaReprodukt Verlag 2011, 206 Seiten, 24 Euro
Der französische Comickünstler Bastien Vives (hier
sein Blog) erzählt die Geschichte von Polina, die mit sechs Jahren an der
Ballettschule aufgenommen und von einem strengen Lehrer unterrichtet wird, bis sie sich als junge Frau von ihrem "Guru" löst und nach Berlin geht, informiert uns
SZ-Rezensent Christoph Haas. Er ist hingerissen von diesem Comic, der seine Geschichte mit
wenig Farbe und
kühnen Strichen erzähle. Auf
Youtube findet man ein fast siebenminütiges
Interview mit Vives zu "Polina", allerdings auf Französisch. Auch
einige Bilder aus dem Comic sind zu sehen.
SachbuchDoug SaundersArrival CityKarl Blessing Verlag 2011, 576 Seiten, 22,95 Euro
In den Arrival Cities, also in den Vierteln - und manchmal Slums - mit
eingewanderter Bevölkerung aus dem eigenen oder einem anderen Land entscheidet sich laut Doug Saunders das Schicksal der Menschheit. Seine These ist bei näherem Hinsehen durchaus einleuchtend: "Scheitert die Arrival City, wird sie zum sozialen Brennpunkt, zur Brutstätte von Kriminalität und hybridem Extremismus, zum Elendsviertel", heißt es im Klappentext, "blüht sie auf, wird die Arrival City zur
Geburtsstätte der neuen Mittelschicht, der stabilen Wirtschaft und des sozialen Friedens einer Stadt." Der kanadische Journalist Saunders hat für seine große Reportage
über zwanzig Städte besucht und kommt zu einem optimistischen Resümee. Michael Mönniger liest das Buch in der
SZ als "ermutigendes Gegenstück" zu Mike Davis' apokalyptischem Buch
"Planet der Slums" Die
Dynamik, die Saunders in den Slums, Shanty-towns und Favelas am Rand der Mega-Städte erkennt, scheint ihm hoffnungsvoll. Mit Wolfgang Uchatius in der
Zeit teilt er den Eindruck einer Reihe von Doppelungen im Buch: Aber es ist ihm doch wichtig, die Erkenntnis festzuhalten, dass
Verstädterung nicht an sich böse ist. Ähnlich liest sich Sandra Pfisters
Resümee im
Deutschlandradio.
Hamed Abdel-SamadKrieg oder FriedenDie arabische Revolution und die Zukunft des Westens
Droemer Knaur Verlag 2011, 240 Seiten, 18 Euro
Hamed Abdel-Samad gehört nicht zu jenen Autoren, die immer automatisch den Westen für alle Probleme der islamischen Welt verantwortlich machen. Er berichtete zur
Hochzeit der Proteste in Ägypten mit Begeisterung über über die Demokratiebewegung - aber er verweigert sich aller Augenwischerei: Es geht darum, dass die arabischen Länder ihre Autonomie gewinnen, und das geht nicht, wenn man stets Sündenbocke für Schuldzuweisung sucht. Laut Kai Mürlebach in der
SZ betont Abdel-Samad, dass die Proteste in den arabischen Ländern ihre
je eigenen Ursachen haben. Das widerlegt nebenbei auch eine Angst des Westens, so der Rezensent, nämlich, dass es sich beim Islam um einen homogenen Block handeln könnte. "Es ist erstaunlich, dass in den
Mutterländern der Demokratie das Vertrauen in demokratische Prozesse so gering ist. Verlaufen diese fair, ist auch von den Islamisten kein großer Schaden zu erwarten", versichert Abdel-Samad in einem
Artikel zum Thema in der
Presse.
Rodney BoltLorenzo Da PonteMozarts Librettist und sein Aufbruch in die Neue Welt
Berlin Verlag 2011, 560 Seiten, 28 Euro
Wer glaubt, in
Zeiten des Umbruchs zu leben, sollte sich ein bisschen mit dem
18.
Jahrhundert beschäftigen. Lorenzo da Ponte zum Beispiel verließ sein heimatliches Venezien, auch wegen des dort grassierenden Antisemitismus, konvertierte zum Katholizismus, erhielt gar Priesterweihen, schrieb die
Libretti für Mozarts drei berühmteste Opern - die diesen Libretti eine Menge verdanken -, emigrierte dann nach London und die USA. Er hat berühmte Memoiren verfasst. Aber in Rodney Bolts Biografie, versichert Manfred Schwarz in der
SZ, lernt man noch viel mehr über dieses faszinierende Leben. Dankbar über den ein oder anderen
kulturgeschichtlichen Exkurs, genießt der Rezensent dies pralle Leben und rät den jungen Spießbürgern von morgen zu dieser Lektüre statt zum Bausparvertrag. Da Pontes "Geschichte meines Lebens", die zuletzt als
Insel-Taschenbuch erschien, sollte man parallel lesen.
BildbandVivian MaierStreet PhotographySchirmer und Mosel Verlag 2011, 123 Seiten, 39,80 Euro
Eine schöne und tragische Geschichte und trotzdem wahr: Mehr als vierzig Jahre lang verdiente die Französin Vivian Maier in Amerika ihr Geld als
Kinderfrau, dabei aber fotografierte sie unaufhörlich die Menschen und Straßen von Chicago und New York. Auf über
hunderttausend Fotografien wuchs der Bilderschatz an. Der Historiker John Maloof stieß 2007 bei einer Versteigerung auf ihn, als Maier die Rechnung für den Lagerraum nicht mehr zahlen konnte. Und kaum war sie tot, begriffen die Kritiker, was ihre Fotografien wert sind. In der
FAZ hat
Wolfgang Kemp die Fülle und
Qualität der Aufnahmen glatt umgeworfen. Hymnen auf die exzentrisch-herbe Kinderfrau, die ihr Leben lang Männerkleider und eine
Rolleiflex um den Hals trug, erschienen auch im
Independent, in der
New York Times und im
Chicago Magazine. Auf der ihr gewidmeten
Website sind eine ganze Reihe ihrer fantastischen Bilder versammelt.