07.06.2023. Anne Rabe rechnet in "Die Möglichkeit von Glück" mit der gewalttätigen Erziehung in der DDR ab, Andrej Blatnik erzählt herrlich lakonisch von Aufbruch und Resignation in Slowenien nach der Wende, Jan Carson lässt einen digitalen Brandstifter im fiebrigen Belfast des Jahres 2014 zündeln und Martin Schulze Wessel erzählt die russische Geschichte als von Obsessionen geprägte Imperialgeschichte. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Juni.
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Lyrikkolumne "Tagtigall", dem
"Fotolot", in den
Kolumnen "Wo wir nicht sind" und
"Vorworte", in unseren
Büchern der Saison, den
Notizen zu den jüngsten
Literaturbeilagen und in den älteren
Bücherbriefen.
LiteraturJan CarsonFirestarterRoman
Liebeskind Verlagsbuchhandlung. 384 Seiten. 24 Euro
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Ins so heiße wie reizbare Belfast im Sommer 2014 entführt uns die irische Autorin Jan Carson. Anhand verschiedener Figuren erzählt Carson von einem "digitalen
Brandstifter", der mit Videos die politisch aufgeheizte Bevölkerung zum Verbrennen nicht nur der traditionellen Bonfire-Holztürme, sondern auch von Krankenhäusern oder Menschen anstiftet. Vor allem geht es um zwei Väter, von denen einer in dem Online-Brandstifter seinen Sohn zu erkennen glaubt, und der andere überlegt, seiner Tochter chirurgisch die Zunge zu entfernen, weil ihre Mutter eine
gefährliche Sirene war.
FAS-Kritikerin Susanne Romanowski liest hier magisch-realistische, "fiebrige" Prosa, der es kunstvoll gelingt, "bürokratische Mechanismen und
explosive Identitätsfragen" zu verbinden.
FAZ-Kollege Tobias Döring lobt die fragmentierte, zersplitterte Erzählweise dieses von Stefanie Schäfer meisterhaft übersetzten Mosaiks. Und in der
FR bewundert Sylvia Staude, wie virtuos Carson das
Übernatürliche in den Alltag einflicht. Im
Guardian empfiehlt Claire Kilroy den "originellen" Roman.
Anne RabeDie Möglichkeit von GlückRoman
Klett-Cotta Verlag. 384 Seiten. 24 Euro
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Während
Katja Hoyer mit
"Diesseits der Mauer" (
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Dirk Oschmann mit
"Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung" (
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mehr hier), blickt die Dramatikerin Anne Rabe in ihrem Debütroman deutlich kritischer auf das System: "Die Gewalt im Sozialismus hatte viele Gesichter", sagt Rabe, die für ihren Roman viele Jahre in Archiven forschte, im
FAZ-Gespräch mit Katharina Teutsch: "Sie zeigte sich ... vor allem in einem autoritären Erziehungsstil, der nicht nur an staatlichen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Jugendwerkhöfen praktiziert wurde, was zum Teil bekannt und gut beschrieben ist. Was weniger offen diskutiert wird: Auch in den Familien wurde Widerspruch eher sanktioniert als dialektisch verwertet. Teilweise aus Tradition. Teilweise aus den politischen Umständen heraus: 'In einer Diktatur ist es von Vorteil, deine Kinder
zu Gehorsam zu erziehen'". In ihrem Roman, einem Mix aus Essay, Archivrecherche und Autofiktion, lässt Rabe eine Ich-Erzählerin auf die sich auflösende DDR zurückblicken - und Teutsch, die das Buch auch für den
Dlf besprochen hat, findet Rabes Aufarbeitung von DDR- und Nachwendegeschichte schon deshalb überzeugend, weil sich die Autorin mit
Kontinuitäten faschistischer Gewalterfahrung befasst. Berührend scheinen der Kritikerin zudem die episodischen Rückblicke der Erzählerin auf die lieblose Kindheit und Jugend zwischen Jugendwerkhof und Familie, weil sie den
verkürzten westdeutschen Blick auf die Verhältnisse erkennen lassen. Im
RBB Kultur empfiehlt Gerrit Bartels den Roman.
Andrej BlatnikPlatz der BefreiungRoman
Folio Verlag 2023, 240 Seiten, 25 Euro
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Wer über die Auswirkungen der Wende nicht immer nur vom deutschen Standpunkt aus lesen will, dem sei dieser Roman des
slowenischen Autors Andrej Blatnik empfohlen. Mit der
Wende 1989 brach auch Jugoslawien auseinander und das moderne Slowenien entstand. Von dieser Zeit erzählt Blatnik: Alles ist noch ungewiss, niemand weiß,
in welche Richtung sich die Dinge entwickeln werden. Der namenlose Hauptprotagonist weiß es auch nicht. Er hat gerade sein Studium beendet, möchte Schriftsteller werden und arbeitet schließlich als - offenbar sehr gut verdienender - Werbetexter. Seine Orientierungslosigkeit prägt auch die Beziehung zu der Frau, die er liebt und doch auf Distanz hält, notiert Dorik Akrap in der
taz. Die von Fragen und Unsicherheiten getragene Geschichte gibt ihr das Gefühl, mittendrin zu sein in dieser merkwürdigen Zeit, in der der
Wert der Freiheit plötzlich in Geld gemessen wird. Oder doch nicht? Auf für den
FR-Kritiker Norbert Mappes-Niediek ist dies ein "großer Roman" über
Aufbruch und Resignation nach der Wende. "Herrlich lakonisch" beschreibe der 1963 geborene Blatnik das Geschehen ohne Gefühlsduselei und Ostalgie. In der
FAZ ist Tilman Spreckelsen beeindruckt, wie Blatnik die Folgen des Umbruchs immer wieder bis hinein ins Private beschreibt. Um die spezifisch slowenischen Umstände zu begreifen, ist außerdem der
Anmerkungsapparat des Übersetzers Klaus Detlef Olof ausgesprochen hilfreich, lesen wir.
Anna Maria OrteseDer Hafen von ToledoRoman
Friedenauer Presse. 729 Seiten. 34 Euro
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Die italienische Schriftstellerin Anna Maria Ortese, immerhin mit dem Premio Strega ausgezeichnet, wurde erst in ihren letzten Lebensjahren bekannter. Nun ist die 1914 geborene Autorin, die auch als Bezugspunkt von Elena Ferrante gilt, hierzulande zu entdecken. Am besten mit diesem im Jahr 1975 erschienenen Roman, der mit seinen über 700 Seiten Lektüre für einen langen Sommer verspricht. Wie ein "
verwinkelter Palazzo mit mehreren Treppenaufgängen" erscheint
SZ-Kritikerin Maike Albath der Text, dessen Handlung sie kaum zusammenfassen kann: Es geht um die dreizehnjährige rebellische Damasa, eine "verführerische Kindsfrau", die sich im fiktiven Toledo, unschwer erkennbar als Neapel der vierziger Jahre, ihren Visionen hingibt und versucht zu sich selbst zu finden. Während der politische Hintergrund nur angedeutet wird, entfalte das Werk eine "
Poetologie des Wundersamen", so Albath, die auch dank Marianne Schneiders "schimmernder" Übersetzung in den Bann dieses wunderbar eigensinnigen Romans gezogen wird. Orteses Opus magnum mag dem Leser zwar einiges abverlangen, räumt Rainer Moritz im
Dlf Kultur ein, gerade weil die Autorin zwischen Erzählebenen und -figuren hin- und herspringt. Der "graue Schleier
existenzieller Einsamkeit", der die Ich-Erzählerin Dasa umgibt, berührt den Rezensenten dabei aber ebenso wie die Schilderung sozialer Ungleichheit.
Norman ManeaDer Schatten im ExilRoman
Carl Hanser Verlag. 320 Seiten. 28 Euro
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Für den in der
NZZ rezensierenden Schriftsteller Jan Koneffke ist dieser späte Roman des rumänischen Autors Norman Manea nicht weniger als eines der ganz großen Werken der Gegenwartsliteratur. Manea verknüpft hier seine eigene Biografie mit Figuren der Weltliteratur, verrät uns der Klappentext: Der Held, der im Text nur als "Passagier" oder "Exilant" betitelt wird, flieht vor dem diktatorischen
Regime Ceauşescus erst nach Berlin, dann in die USA. Er begegnet einer Vielzahl von unterschiedlichen Menschen, seiner Halbschwester Tamar etwa, die wie er als Kind den Holocaust überlebte. Mit ihr lebt er in einer zugleich "traumatisierten" und "affektiv-erotischen" Verbindung, schreibt Koneffke: So schmerzhaft die Geschichte des Paares im Buch ist, so
erfrischend ironisch und unlinear wird sie erzählt, meint er.
FAZ-Kritikerin Carlota Brandis bewundert zudem die Form des collageartigen Textes: Neben der multiperspektivisch erzählten Handlung finden sich Gedichte, Briefe und andere literarische Texte. So spiegelt die fragmentarische Struktur die "Ambivalenz und
Zerrissenheit"
des Exils wider, meint sie. Im
Standard fordert Alexander Kluy den Literatur-Nobelpreis für Manea: "Exil, Fremde, Schatten, Brüche, Abbrüche, mit all diesem hantiert Manea
hochartistisch. Dabei ironisch. Und selbstironisch. Und hochliterarisch - das ganze Buch ist im Grunde ein
Wirbelwind der Anspielungen, der Verfremdungen, des Spiels mit Literatur."
Katharina MevissenMutters StimmbruchMit 7 Monotypien von Katharina Greeven
Klaus Wagenbach Verlag. 128 Seiten. 22 Euro
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Dieses schmale Büchlein ist keineswegs ein "Roman über das Altern", versichert uns Jochen Schimmang in der
FAZ. Vielmehr liest er in dem zweiten Roman der jungen Autorin Katharina Mevissen die Geschichte einer Emanzipation, einer besonderen allerdings: Erzählt wird auf 112 Seiten die Geschichte der titelgebenden Mutter, einer Frau im
Herbst ihres Lebens. Ihr Körper schmerzt, die Zähne fallen aus, aber die Heldin resigniert nicht, sondern stürzt sich in ein
neues Leben. Sie verlässt ihr Dorf, zieht in die Stadt, bietet Telefonsex an oder gibt
Balladen auf dem Sprungbrett eines Schwimmbads zum Besten, resümiert Schimmang amüsiert.
FAS-Kollegin Anna Vollmer bewundert vor allem die "unvergleichlichen" Töne und Bilder und die Leichtigkeit und Emotionalität, mit der Mevissen übers Altern schreibt. Und im
Dlf hebt Jan Drees die atmosphärische Dichte des Romans hervor. Bewegt ist er vor allem von der
unerschütterliche Würde dieser Frau, die ihm ein wenig Hoffnung schenkt.
SachbuchMartin Schulze WesselDer Fluch des ImperiumsDie Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte
C.H. Beck Verlag. 352 Seiten. 28 Euro
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"Putin ist kein Betriebsunfall der
russischen Geschichte", schrieb kürzlich in der
FAZ der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel, der bis zu Peter I. zurückreichende geschichtliche Kontinuitäten sieht. Dass es Putin mit dem Überfall auf die Ukraine keineswegs um den persönlichen Machterhalt, sondern um imperiale Herrschaftsansprüche geht, legt ihm der Autor in diesem vielleicht wichtigsten Sachbuch des Monats dar: Für den in der
SZ rezensierenden Ukraine-Historiker
Andreii Portnov ist dieses "meisterhafte" Buch denn auch nicht weniger als der Auftakt zu einer ersehnten "
Zeitenwende" in der deutschen Historiografie. Absolut prägend, neu und klug findet Portnov die Perspektive, aus der Schulze Wessel auf die russische Geschichte als von Obsessionen geprägte
Imperialgeschichte. Berücksichtigt und historisch präzise dargelegt werden dabei etwa die Ursprünge der eingeschränkten deutschen Sichtweise auf Osteuropa, die Wurzeln und der Fortbestand des russischen Denkens seit dem 18. Jahrhundert oder die Parallelen der Unterdrückung zunächst Polens im 19. Jahrhundert und dann der Ukraine im 20. Jahrhundert. Als "
minuziöse Gegendarstellung" zu Putins willkürlicher Geschichtsverfälschung liest auch Christian Thomas in der
FR das Buch, in dem Schulze Wessel argumentativ glänzend gegen eine "Jahrhunderte andauernde Entwertung" Polens und der Ukraine durch Russland anschreibe. In der
FAZ empfiehlt Felix Ackermann das Buch als kluge Mischung aus "Diplomatie-, Ideen- und Kulturgeschichte".
Ingke BrodersenLebewohl MarthaDie Geschichte der jüdischen Bewohner meines Hauses
Kanon Verlag. 288 Seiten. 26 Euro
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Dem Rückgang der Kritiken in den Zeitungen fallen vor allem solche Bücher zum Opfer wie dieses der Historikerin und ehemaligen Leiterin des Verlags Rowohlt Berlin, Ingke Brodersen. Bisher wurde es nur in der
FAZ von Peter Stephan Jungk besprochen. Brodersen erzählt die Geschichte des
Miethauses in der Berchtesgardener Straße in Berlin-Schöneberg, in dem sie selbst wohnt und das einst ein sogenanntes "Judenhaus" war: Hierhin wurden all die
jüdischen Familien zwangseingewiesen, die aus ihren eigenen Häusern vertrieben worden waren, ein Ghetto sozusagen. 24 der Bewohner starben in Todeslagern oder auf dem Weg dorthin. In mehrjähriger Recherchearbeit hat die Autorin ihre Schicksale rekonstruiert, kommt ihnen dabei "immer näher", so Jungk, bis ihm die Jahre des Naziterrors "
erschreckend präsent" werden. "Was dieses Buch von anderen über die Schoa unterscheidet", erklärt der beeindruckte Rezensent, "ist das Verfahren der Autorin, autobiografische Momente mit einfließen zu lassen ... vor allem bezüglich ihres Umgangs mit Flüchtlingen aus Bosnien, Syrien, Afghanistan. Sie vergleicht deren Schicksal in keiner Weise mit der unbedingten Vernichtungsgefahr, in der sich Juden im nationalsozialistischen Deutschland befanden. Aber sie lässt erkennen, welche
Abgründe der Verlorenheit sich für die ihrer Heimat Beraubten auftun". In der
ARD-Mediathek steht ein
Beitrag zum Buch online.
Ha JinDer verbannte UnsterblicheDas Leben des Tang-Dichters Li Bai
Matthes und Seitz Berlin.
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Es gibt wenig verlässliche Quellen und viele Gerüchte über das Leben des
Dichters Li Bai im China des 8. Jahrhunderts - eine große Herausforderung also für den Autor dieser Biografie, den chinesischen Schriftsteller Ha Jin. Aber er hat sie gemeistert, versichern uns die Kritiker. Dem
FAZ-Kritiker Uwe Ebbinghaus etwa ermöglicht das Buch eine "lebendige Teilhabe" am
wilden Leben des Dichters. Als eine Art Legende erzählt uns Ha Jin das Leben Li Bais, angereichert mit Selbstbeschreibungen und detailreichen Schilderungen der historischen Umstände. Den größten Teil seines Lebens verbrachte er
auf Wanderschaft und versuchte, politisch einflussreich zu werden - als "
Meister der Gelage", der oft schon mittags betrunken war, geriet er allerdings oft in Konflikte mit seinem Umfeld, erfährt der Kritiker, der auch die Sinnlichkeit von Bais Lyrik bewundert: Ebbinghaus kann die Verse beinahe "riechen und schmecken". Auch
FR-Kritiker Martin Oehlen folgt mit Ha Jin gebannt den farbig geschilderten Lebensetappen, für die sich der Autor häufig auf die Verse des Dichters bezieht, ohne sich jedoch über dessen Selbststilisierungen zu täuschen, so Oehlen. Maßlos in der Kunst wie ihm Leben, politisch immer wieder aufs falsche Pferd setzend und unfähig zur Anpassung - so schildert ihn Ha Jin. Ob es ein glückliches Leben war? Jedenfalls ein lesenswertes, denken sich die Kritiker.
Regina ScheerBittere BrunnenHertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution
Penguin Verlag. 704 Seiten. 30 Euro
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Es ist schon erstaunlich, dass diese monumentale Biografie, die immerhin den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse erhalten hat, bisher nur von Alexander Cammann in der
Zeit und Bernd Noack im
Spiegel besprochen wurde. Liegt es am Umfang des Buches? Die Historikerin Regina Scheer schildert die Lebensgeschichte Hertha Gordon-Walchers, die sie gut kannte und immer wieder zu persönlichen Gesprächen traf. Scheer erzählt uns die Geschichte der jungen Jüdin, die sich in den 1910er Jahren den Sozialisten anschließt, als Sekretärin von
Clara Zetkin arbeitete und als Vertraute
Rosa Luxemburgs oder Bertolt Brechts galt. Mit der KPD hatte Gordon-Walcher durchaus ihre Schwierigkeiten, 1928 wurde sie nach der stalinistischen Wende aus der Partei ausgeschlossen. Sie emigrierte in die USA, kehrte jedoch zurück in die DDR, der sie trotz ihrer dauerhaft randständigen Position in der SED lebenslang treu blieb. Cammann liest das Buch als
wahrhaft historischen Pageturner und würdigt besonders, dass die große Erzählerin Scheer dauerhaft Distanz wahrt und sich nicht von "nostalgischer Revolutionsromantik" anstecken lässt. Erst so ist das Blickfeld frei für eine spannende
Geschichte über die Linke in Deutschland, in der übrigens auch ein gewisser Willy Brandt (den Gordon-Walcher wegen seiner Hinwendung zur Demokratie als Verräter betrachtete) vorkommt. Für
Spiegel-Kritiker Bernd Noack ist das Buch ein so spannendes wie "schmerzliches Stück über das Scheitern. Über den Glauben an die gute Sache und das Unvermögen, sie auf den steinigen Weg zu bringen."
Elizabeth DuvalNach TransSex, Gender und die Linke
Klaus Wagenbach Verlag. 224 Seiten. 24 Euro
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Dieses Buch der Spanierin Elizabeth Duval, selbst Transfrau, wurde von
FAZ und
taz gleichermaßen empfohlen.
taz-Kritikerin Julia Hubernagel attestiert dem Buch gar eine Zukunft als
Grundlagenwerk: Duvals Beitrag zu Debatten um Trans-Themen liest sich für sie
angenehm unaufgeregt, etwa wenn es um die Fragen geht, wer welche (angeblichen) Geschlechterstereotype ausleben darf und wem auf Toiletten Diskriminierung entgegenschlägt (oft Lesben, die sich nicht geschlechterkonform verhalten, schreibt sie). Auch die These, das Subjekt habe nicht die Wahlfreiheit, sich auszusuchen, wer es sein möchte, sondern nur die Freiheit, sich selbst zu finden, ist für die Kritikerin anschlussfähig. Als "
Knall" von einem Buch würdigt Martin Eimermacher in der
FAZ das Werk, das seiner Meinung nach die festgefahrene Debatte um das Thema Transgender aufsprengt: Ihr Material von Aristoteles über Marx bis Butler souverän beherrschend, räume Duval auch mit Vorbehalten zu den neuen Gesetzen zur Geschlechtsumwandlung auf, wende sich aber ebenso gegen den Begriff der "
Selbstbestimmung", den sie für eine Verzerrung der "sozialen Tatsache" hält, die das Geschlecht sei, wie Eimermacher wiedergibt. Auch Duvals Ausführungen zu Transitionen als einer "Flucht vor dem Geschlecht" in Anlehnung an die Klassenflucht findet er erhellend. Vor allem aber schätzt er, dass die Autorin
sämtliche Fraktionen angeht und dabei auch die eigene Blase nicht verschont.