21.11.2013. Im zweiten Teil der Bücher der Saison stellen wir die meistbesprochenen Gedichtbände, Tagebücher, Reportagen und Essays vor. Darunter: Dichter der Neuen Berliner Avantgarde, ein höchst inspirierendes Philosophenduo, eine heilige Kuh des New Journalism und ein überaus unterhaltsamer Literaturprofessor, der Dostojewski verabscheute.
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Sachbuch Kultur LyrikKritiker Christian Matz porträtiert in der
FAZ den 1978 in Greifswald geborenen Dichter
Steffen Pop als führendes Mitglied der Neuen Berliner Avantgarde, der sich vor allem aus Lyrikern des Kookbooks Verlag zusammensetzt. Popp versteht "Poesie als Lebensform", so Matz. Für ihn erweist sich der Dichter in seinem Band
"Dickicht mit Reden und Augen" als "Morphologe der Poesie", als jemand, der am Umgang mit natürlichen Materialien, etwa Stein oder Farbe, poetische Verfahrensweisen studiert. Was genau damit gemeint ist,
erklärt Beate Tröger im
Freitag an dem titelgebenden Gedicht "Dickicht mit Reden und Augen", das mit den Versen beginnt: "Möglichkeit und Methode überschneiden sich / ein kühner Satz bricht sich im Wald, fortan er hinkt / kein Sprung ins Dickicht dringt". In der
Zeit gibt Florian Kessler zu, dass das manchmal schwer zu verstehen ist. Doch dass Popp stets unberechenbar bleibt und seinen pathetischen Dichterton mit Vorliebe durch "Profan-Läppisches" unterläuft, macht für Kessler den unwiderstehlichen Charme dieser Lyrik aus.
Hier einige Gedichte, gelesen von Steffen Popp selbst, bei
lyrikline.
Erik Lindners Band
"Nach Acedia" zeigt einen Dichter, der mit Worten Lichter setzen kann wie Edward Hopper mit Farbe, schreibt ein enthusiastischer Nico Bleutge in der
FAZ. Für Ulf Stolterfoht, der das Nachwort geschrieben hat, ist das Besondere an den Gedichten des niederländischen Autors, dass sie, "was immer sie vordergründig verhandeln mögen, ein großes Thema haben, und dieses Thema ist das Glück. Wie man es erreicht, wie man es behält, vor allem aber: wie man es erkennt." Bei
Lyrikline kann man einige Gedichte,
vom Autor selbst gelesen, hören (Übersetzungen ins Deutsche findet man dort auch). Eine Googlesuche nach Erik Lindner führte uns zu diesem Film auf Youtube. Er ist Teil einer sehr schönen Reihe,
"Dichter in de Buurt" (
Dichter in der Nachbarschaft):
Für den
Welt-Kritiker
ist Ron Winkler ein "kluger Flaneur auf dem Prospekt der Poésiephilie". Signaturen-Kritiker Jan Kuhlbrodt
erkennt in ihm einen politischen Dichter, "der durch Worte die Worte selbst einem machtvollen und zeitgeistigen Zugriff entzieht". Und für
NZZ-Rezensentin Angelika Overath ist er ein "poetischer Pyrotechniker". Sie ist entzückt von Winklers "Flirt mit dem höheren Unsinn" und seiner Experimentierlust. So werden im Band
"Prachtvolle Mitternacht" aus Schneeflocken "Schnocken aus Flee" und "in einem anderen Außen werden Lichter / mit Tannen geschmückt". Overath denkt dabei an Schwitters und Morgenstern und lässt sich bereitwillig über die Grenzen der logischen Vorstellung hinweg treiben.
Hier liest Winkler einige seiner Gedichte bei
lyrikline. Sehr gut besprochen wurde auch
Hendrik Rosts Band
"Licht für andere Augen" den Roman Bucheli in der
NZZ für seine "glasklaren" Gedichte, die Selbstironie und die "unbedingte Weltzugewandtheit" lobt (
mehr bei lyrikline).
TagebücherDer
"Briefwechsel 1961-1981" zwischen
Hans Blumenberg und
Jacob Taubes ist von allen überregionalen Tageszeitungen besprochen worden, außer von der
FAZ. Und er hat es in sich, verspricht
Zeit-Rezensent Alexander Cammann. Hier Taubes, der Weltenbummler, der Gott und die Welt zu kennen schien, selbst aber wenig wissenschaftlich schrieb, dort Blumenberg, der geniale Stilist, dem Taubes" Unproduktivität und moralisches Gehabe in der Öffentlichkeit zu schaffen machten. Beide fanden sich dennoch zu einem höchst inspirierenden Duo zusammen, das bei Suhrkamp die Reihe Theorie mitgestaltete und in der Uni-Politik mitmischte - immer wacker gegen den "heideggerianischen Strippenzieher" Hans-Georg Gadamer, so ein amüsierter Oliver Müller in der
SZ.
FR-Rezensent Hans-Martin Lohmann bekommt beim Namen Taubes heute noch einen Koller. In der
taz geniert sich Micha Brumlik ein wenig über den "Kammerdienerblick", den ihm die Lektüre aufnötigt. Aber interessant findet er sie doch sehr.
Imre Kertész"
"Letzte Einkehr" haben wir schon im letzten Bücherbrief vorgestellt. Es ist ein "Echolot in die Abgründe", schreibt in der
FAZ Hubert Spiegel. Das Alter und der körperliche Verfall machen Kertész zu schaffen, am meisten aber die Aufregung nach der Verleihung des Literaturnobelpreises. Das Leben als "domestizierter literarischer Außenseiter" erscheint ihm wie eine unglaubliche Entfremdung, erklärt Andreas Breitenstein in der
NZZ. In der
SZ schließlich kann Lothar Müller verständlich machen, warum die Lektüre nicht einfach deprimierend, sondern ein Gewinn ist: Ihm erscheinen die Tagebücher als Bühne, auf der sich das öffentliche, das schreibende und das alternde Selbst des Autors begegnen und damit als wunderbare Möglichkeit, sich in das "Kertész-Geflecht" zu begeben. Und noch eine Empfehlung von Lothar Müller:
"Die Erkundung Brasiliens" das "reich illustrierte" Tagebuch des Forschungsreisenden
Friedrich Sellow, hat den
SZ-Rezensenten hingerissen. Wie Sellow sich im Netzwerk internationaler Forscherkreisen bekannt machte, wie er nach Brasilien reiste und dort mit großem Eifer Pflanzen, Gesteinsproben und andere Objekte sammelte, Portugiesisch und Indianersprachen lernte, hat Müller ebenso beeindruckt, wie beigefügte Aufsätze über Sellow, die ihm viel über den neugierigen Blick europäischer Forscher auf Brasilien verraten haben.
ReportagenFAZ-Rezensent Patrick Bahners ist fix und fertig.
James Agee hat ihn geschafft. Der damals 27-jährige Dichter, Journalist und Filmkritiker zog 1936 im Auftrag einer amerikanischen Zeitschrift mit dem Fotografen
Walker Evans los, um das elende Leben dreier Baumwollpflückerfamilien zu dokumentieren. Das Ergebnis,
"Preisen will ich die großen Männer" ist ein Klassiker, der den New Journalism begründete, fast dreißig Jahre bevor es den Begriff gab. Die 62 Fotos von Evans sind karg, direkt und unmittelbar, "Ikonen des Fatalismus", so Bahners. Agee dagegen, der im Gegensatz zu Evans, der im Hotel übernachtete, bei den Familien schlief, mit ihnen lebte und arbeitete, schien für seinen Text keine rechte Form zu finden. Er wuchert nach allen Seiten aus, ständig sagt er "ich" und thematisiert seine Zweifel an der eigenen Darstellung. Und doch, so der erschöpfte Rezensent, ist die Wirkung am Ende schlagend: "Seite für Seite beugt man sich über die Geschichte der drei heiligen Familien, in tiefer Faszination oder Trauer." Einige von Evans" Fotos findet man leicht über Googles Bildersuche. Susanne Kippenberger schrieb 2009 im
Tagesspiegel ein
sehr schönes Porträt Agees, der, wie man lernt, nur bei einer Textsorte kein Problem mit der Form hatte: "Wenn er über Filme schrieb, flutschte es nur so, "wie Scheiße durch eine Gans", wie ein Kollege bewundernd bemerkte". Vielleicht wären die Filmkritiken auch mal eine Übersetzung wert? Und auch die Kritiken des so anschaulich formulierenden Kollegen?
Gerd Ruge ist deutsches Reporterurgestein.
"Unterwegs" beim Verlag,seine politischen Erinnerungen erzählen von seinen Anfängen im Kalten Krieg, als er in den fünfziger Jahren aus Jugoslawien, Korea, Indochina und Moskau berichtete, ab 1962 aus den USA, ab 1972 aus China und ab 1977 immer wieder aus Russland. Ob bei der Kubakrise oder den Rassenunruhen nach der Ermordung Martin Luther Kings - Ruge war vor Ort und konnte teils erschütternde, teils unterhaltsame Anekdoten dazu liefern, lobt
SZ-Rezensentin Friederike Bauer. Diesein der
Welt gibt eine ganz gute Vorstellung von dem Reporter Ruge, der sich nach Maos Tod selbst ein Bild von der Situation macht, indem er die Leute auf der Straße beobachtet. Sehr gut besprochen auch
Liao Yiwus Geschichten aus der chinesischen Wirklichkeit,
"Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch" beim Verlag,In der
NZZ bemerkt Ludger Lütkehaus die Verbitterung, staunt aber auch über die große Vitalität, die die Geschichten ausstrahlen.
Taz-Rezensentin Susanne Messmer, die selbst einige Zeit in China gelebt hat, findet die chinesische Realität zu schwarz dargestellt, dennoch: "Man kann dieses Buch nicht schlecht finden", seufzt sie. Den Reportageband
"Secondhand-Zeit" beim Verlag,der mit dem
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichneten weißrussischen Autorin
Swetlana Alexijewitsch haben wir schon im Bücherbrief empfohlen: Alexijewitsch komponiert, wie es ihre Art ist, für diesen Band Interviews mit Zeitzeugen zu einem vielstimmigen Chor, der vom Leben in der Sowjetunion und der Enttäuschung über die Perestroijka singt. In der
FAZ war Regina Mönch
schockiert: Unfassbar, dass so viele trotz der stalinistischen Gräuel der Sowjetunion nachtrauern.
EssaysMit diesen
"Vorlesungen über russische Literatur" genauer über Gogol, Lermontow, Turgenjew, Dostojewskij, Tolstoi, Tschechow und Gorkij verdiente sich
Vladimir Nabokov seinen Lebensunterhalt an amerikanischen Colleges. In der
Zeit beneidet Michael Maar die Studenten, die damals staunend - das ist er sich sicher - an Nabokovs Lippen hingen. Die Vorlesungen sind "überaus unterhaltsam",
versichert Uli Hufen im
Deutschlandfunk. Denn Nabokov sei kein Literaturwissenschaftler gewesen, "sondern in erster Linie ein Literaturliebhaber, passionierter Leser und Fan". Auch wenn er - vor allem Dostojewski gegenüber - ziemlich boshaft sein kann, so Maar: In dieser "weltbesten" Nabokov-Edition finde man echte Schätze.
Viel Lob auch für
Ulrike Draesners Essays über
"Heimliche Helden" beim Verlag,die Autoren von Kleist über James Joyce und Thomas Mann bis zu Gottfried Benn gewidmet sind. Als "unerschöpfliches Leseerlebnis" preist Nicole Henneberg in der
FAZ die kunstsinnigen und immer auch sehr witzigen Essays. In der
SZ bewundert Eberhard Geisler vor allem die Fähigkeit der Autorin, bei aller wissenschaftlichen Untermauerung immer Erzählerin zu bleiben.
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