23.10.2001. Literatur / Sachbuch
Sachbücher
Literatur / Sachbuch
Sachbücher
Bei den Sachbüchern ist es ein wenig ähnlich wie in der Literatur: Das Buch für die Insel war nicht dabei. Aber wer einen
Lastenesel mit auf die Insel nehmen darf - der könnte glatt einen ganzen Koffer vollpacken!
Geschichte und Kulturgeschichte Hier gab es immerhin einen eindeutigen Favoriten: Wolfgang Schivelbuschs "
Kultur der Niederlage" gehört zu den meist besprochenen Büchern in den Beilagen. Schivelbusch untersucht, wie die amerikanischen Südstaaten nach 1865, Frankreich nach 1871 und Deutschland nach 1918 mit ihren
militärischen Niederlagen umgingen. Die Kritiken waren gespalten. Franziska Augstein, die Tochter des Spiegel-Herausgebers, betrachtet das Buch in der
SZ aus einer dezidiert linken Perspektive und findet es
apolitisch, ja reaktionär in seinem Assoziationsreichtum. Auch Stefan Reinecke (
taz) findet manche Parallelziehung Schivelbuschs zwischen den einzelnen Ländern
ziemlich gewagt, aber eben auch
brillant. Die Lektüre scheint ihm gerade deshalb Spaß gemacht zu haben. Äußerst positiv dann Ulrich Speck in der
FR, der die Hauptthese des Buchs schön zusammenfasst: "Der Sieger trägt zwar den Sieg davon, der Verlierer aber die
Chance zur Erkenntnis." Sehr positiv, trotz mancher Einwände, auch die Kritiken in der
NZZ und in der
FAZ.
Die
Kulturgeschichte war mal wieder reich an Einfällen. Die
Zeit bespricht etwa Otto F. Bests "
Sprache der Küsse" bislang zwar als einzige, aber Hella Kempers Kritik ist anregend: Sie lobt gerade das
vergleichsweise Trockene der Lektüre, die seriöse historische Aufbereitung des Themas. Allerdings hätte sie sich ein paar
Illustrationen gewünscht. Weniger positiv war Ulrich Stocks Reaktion auf eine
Geschichte des Penis, ebenfalls in der
Zeit: "
Unter dem Feigenblatt" von Maggie Paley. Er findet es zu Amerika-fixiert. Einige der wenigen Bemerkungen zur europäischen Geschichte des Organs falle zu
Kafka und sei überdies
wenig schmeichelhaft: "acht Zentimeter".
Viel besprochen dagegen - zeigen sich da etwa die eigentlichen Vorlieben unserer Rezensenten? - ist Niklaus Largiers "
Lob der Peitsche", das im Untertitel eine "Kulturgeschichte der
Erregung" verspricht. Das Instrument scheint darin aus allen politischen, psychologischen und theologischen Facetten vorgeführt zu werden. Christina Braun fühlte sich durch das Buch zu einer sehr ausführlichen Besprechung in der
NZZ inspiriert. Sie lobt die
vielen Illustrationen des Bandes, hebt aber hervor, dass er doch vor allem die religiösen Aspekte des Themas - die
Selbstgeißelung - zu privilegieren scheint. In der
FAZ hat der berühmte Historiker Hans Ulrich Gumbrecht ("1926") höchstpersönlich den Band besprochen. Er kann sich an der "soliden Sachkenntnis" des Autors, seiner
erstaunlichen Belesenheit und vor allem seinem
bemerkenswerten Darstellungstalent nicht genug erfreuen. Endlich mal eine Lektüre, die Erregung und Erbauung verbindet!
Politik Eins ist sicher: Dies ist ein Herbst der
Politikerbiografien. Ist die Leserschaft etwa auf der Suche nach dem starken Mann? Charles Williams'
Adenauer-Biografie wurde bisher nur von Daniel Koerfer in der
Zeit besprochen, und dies auch noch recht kritisch:
Richtig geärgert hat er sich über die Behauptungen des Autors, Adenauer habe den Kalten Krieg wesentlich mitgeschürt, Chancen für eine
Wiedervereinigung in den 50er Jahren erfolgreich vereitelt und sämtliche Positionen im Staatsdienst mit ehemaligen
NSDAP-Mitgliedern besetzen lassen.
Dass Gregor Schöllgens Biografie über
Willy Brandt mit großem Interesse erwartet wurde, zeigt schon der Name eines der Rezensenten:
Hans-Jochen Vogel, Nachfolger im Amt des SPD-Vorsitzenden, hat das Buch für die
SZ gelesen. Er kommt zu einem abgewogenen Urteil:
Gut lesbar sei der Band, aber gestört hat Vogel gerade, was andere vielleicht am meisten interessiert - dass Schöllgen offensichtlich auch ausführlich auf
Brandts Privatleben und auf seine Rivalität zu Helmut Schmidt und Herbert Wehner eingeht. Daniel Koerfler sieht die Sache in der
taz dann auch entspannter und liest das Buch als sensibles
Psychogramm eines 'Gescheiterten'. Recht positiv auch die Besprechung von Rainer Blasius in der
FAZ. Er verteidigt die persönliche Darstellungsart Schöllgens mit dem Argument, dass es hier darum gehe, eine komplexe Politikerfigur einem
breiten Publikum nahezubringen.
Äußerst gewichtig, nämlich 1.427 Seiten dick, ist John C.G. Röhls "
Wilhelm II." Und dies ist bereits der zweite Band eines monumentalen Unterfangens. Johannes Willms erwartet in der
SZ von dem Band eine "umfassende Revision des preußisch-deutschen Geschichtsbildes der Epoche vor 1815 bis 1933", allerdings nicht so sehr wegen der Wertungen des Autors, sondern wegen des
ungeheuren Materialreichtums, der das Buch zur Quelle für weitere Historiker werden lässt. In der
FR feiert Wilhelm von Sternburg den Band schlicht als
Standardbiografie. Und in der
Zeit äußert sich Volker Ullrich
schwer beeindruckt von dem Band, auch wenn er findet, dass der britische Historiker manchmal über der Konzentration auf seine Hauptperson den
historischen Kontext vernachlässigt.
Ohne Kommentar sei auf Thomas Kunzes Band über die
letzten Jahre Erich Honeckers, auf Evelyn Rolls Buch über
Angela Merkel und auf die
Erinnerungen Rainer Barzels hingewiesen.
Philosophie Allüberall abgefeiert wurde Jürgen Habermas' Band "
Die Zukunft der menschlichen Natur", in dem seine Einlassungen zur
Bioethikdebatte versammelt sind.
Bravourös findet ihn die
Zeit, die anderen sehen ihn
kritischer.
Auch französische Philosophen spielen eine große Rolle in dieser Saison. Die
NZZ und die
FAZ liefern ausführliche Kritiken von Michel Foucaults "
Dits et ecrits", auch ein großes Vorhaben, denn hier werden in den nächsten Jahren die verstreuten Essays und Interviewäußerungen des Poststrukturalisten versammelt. Bernhard Dotzler zeigt sich in der
NZZ anlässlich des ersten Bandes erstaunt, welch
große Rolle die Literatur im Oeuvre Foucaults spielte. Andreas Platthaus sieht ihn in der
FAZ schon in den frühen Jahren als
Streiter für das wilde Denken. Platthaus lobt auch ausdrücklich die sicherlich nicht einfache
Übersetzung dieser Schriften.
Zu annoncieren ist auch ein nachgelassener Band eines der "
trübsinnigsten Menschen des 20. Jahrhunderts". In den "Cahiers" des ungarisch-französischen Philosophen Cioran finden sich bisher unbekannte "Maximen und Gedankensplitter" des für die Schwärze seines Denkens berühmten Autors. Wolf Lepenies beginnt seine Kritik des Bandes "
In der Seele ein Deserteur" in der
SZ rundheraus negativ - und erliegt am Ende doch der Faszination, als er Ciorans
Sinn fürs Lächerliche entdeckt. Auch Jürg Altwegg findet in der
FAZ, dass die Aphorismen des Bandes hinter den bisher veröffentlichten nicht zurückstehen. Die Themen sind nicht neu, schreibt er: "Ekel vor der Geburt",
"Abscheu vor der Ehe". Aber Altwegg ist süchtig: Der Leser, glaubt er, "wird auch noch die hundertste Schilderung einer
schlaflosen Nacht nicht missen wollen".
Gesellschaft Eine Amerikanerin auf den Spuren Günter Wallraffs? Barbara Ehrenreich hat sich für "
Arbeit poor" in unterbezahlten
"McJobs" in den USA verdingt, um die Lebensbedingungen der "Working Poor" zu erkunden. Glaubt man den Kritiken, so ist dabei eine äußerste lesenswerte, auch
witzige und
gut dokumentierte Reportage herausgekommen. Lutz Ellrich nennt das Buch in der
FR zwar ein wenig
narzisstisch, aber er zeigt sich beeindruckt von der Lektüre und teilt das Resümee der Autorin: "Die freiheitlichste Nation der Erde ist eine tief gespaltene Gesellschaft". Dirk Knipphals lobt in der
taz die
distanzierte Professionalität von Ehrenreichs Text ("dies ist Journalismus, Baby") und nennt das Buch als einen der seltenen Blicke auf die
Hinterhofseite von Amerikas Reichtum.
Kunst Im Bereich Kunst findet vor allem Joachim Fests Porträt des Künstlers
Horst Janssen große Beachtung. Die
SZ findet das Buch "eines der schönsten" und den
Berserker plastisch widergegeben. Die
FAZ konstatiert einen "
perfekten Gegensatz zwischen Künstler und Porträtisten" und meisterhafte Darstellung.
Großes Lob gibt es aber auch für David Hockneys "
Geheimes Wissen" über die Techniken der alten Meister. Die
SZ ist von der Darstellung Caravaggio als modernem Filmregisseur überzeugt, die
FAZ sieht in dem Buch eine
anrührend schöne Geschichte. Schließlich freut sich die
SZ, dass Erwin Panofskys
wegweisendes Monumentalwerk "
Altniederländische Malerei" nach fünfzig Jahren endlich auch in deutscher Übersetzung erschienen ist, während die
FAZ Fred Lichts "
Goya" nicht nur
gefährlich schön, sondern auch "eminent klug und fesselnd geschrieben" findet.
Naturwissenschaften
Von den naturwissenschaftlichen Büchern wird vor allem Lise Eliot Studie über die Entwicklung des kindlichen Gehirns empfohlen. Die
SZ sieht in "
Was geht da drinnen vor?" einen gelungenen Bildungsroman, die
FR findet das Buch
gerade richtig, um "Erziehung nicht für sinnlos, aber auch nicht für allmächtig zu halten". Die
Zeit würdigt außerdem den Bericht des Biologen Robert M. Sapolsky "
Mein Leben als Pavian" als ein
aufregendes Buch, als
ergreifend gar die Beschreibung der
an Tuberkulose verendenden Primaten.
Anklang findet auch Richard Hamblyns Buch über den Wetterforscher Luke Howard. Die
SZ nennt "
Die Erfindung der Wolken" eine
fesselnde Erzählung, die
Zeit hält die Verbindung von Wissenschaftsgeschichte und Porträt für äußerst gelungen - und damit für
typisch britisch.
Geteiltes Echo findet Heinz-Dieter Hausteins "
Weltchronik des Messens". Während die
NZZ in diesem Buch ein Standardwerk und
merkwürdiges Faszinosum sieht, bemängelt die
FAZ, dass manches weniger mit Messen zu tun hat als mit
Rechnen. Dagegen lobt die
FAZ "
Werkzeuge und Wissen" von Harold Dorn und James E. McClellan als bestens gegen
praxistauglichen Einheitsbrei. Und die
SZ würdigt noch Hans Werner Ingensieps "
Geschichte der Pflanzenseele" als
spannende botanische und philosophische Spurensuche.
Literatur / Sachbuch Die
vollständig ausgewerteten Literaturbeilagen vom Herbst 2001 finden Sie
hier. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.