David Mitchell

Der Wolkenatlas

Roman
Cover: Der Wolkenatlas
Rowohlt Verlag, Reinbek 2006
ISBN 9783498044992
Gebunden, 668 Seiten, 24,90 EUR

Klappentext

Aus dem Englischen übersetzt von Volker Oldenburg. Ein amerikanischer Forschungsreisender macht Mitte des 19. Jahrhunderts auf einem Schiff im Pazifik die Erfahrung, dass, wer Gleichheit und Brüderlichkeit predigt, leicht gekreuzigt, gevierteilt und verbrannt wird. Einen jungen britischen Musiker verschlägt es 1931 auf der Flucht vor Gläubigern nach Belgien, wo er nicht nur einem berühmten Komponisten beim Verfassen seines Meisterwerks hilft, sondern auch dessen Frau begattet. Ein Atomwissenschaftler in den siebziger Jahren ist auf der Flucht vor seinen Mördern und spielt einer schönen Journalistin Berichte über Sicherheitslücken in einem neuartigen Atommeiler an der amerikanischen Westküste zu. In der Jetztzeit landet ein Londoner Schund-Verleger irrtümlich in einem Irrenhaus. In naher Zukunft wird eine geklonte koreanische "Fabrikantin" wegen des Verbrechens verhört, ein Mensch sein zu wollen. Und im Hawaii einer fernen Zukunft wird ein junger Ziegenhirt Zeuge des endgültigen Falls der Menschheit. Sechs Leben in fast tausend Jahren: und doch ein einziges Abenteuer - denn diese Geschichten sind allesamt miteinander verbunden, bedingen einander, entwickeln sich aus einander. "Der Wolkenatlas" ist ein ebenso raffiniert wie unterhaltsam fabulierter globaler Kontinuum-Roman, der nichts weniger als Gegenwart und Zukunft der westlichen Zivilisation zum Thema hat. Von der naiven Welterkundungssehnsucht des 19. Jahrhunderts über das Geniedenken und das Scheitern des Individuums im 20., die industriellen Allmachtsphantasien im 21. und schließlich die fällige Zerstörung der Welt in der Zukunft - Mitchell erfindet für all das eine eigene Ausdrucksform, ja eine eigene Sprache und Gattung.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.03.2007

Mit allen Wassern gewaschen scheint Kolja Mensing dieser Roman von David Mitchell. Dem experimentierfreudigen Autor gelingt es seines Erachtens, sechs in verschiedenen Zeiten spielende Erzählstränge unvermittelt abbrechen zu lassen, um sie später souverän wieder aufzunehmen und zu Ende zu führen: an das Tagebuch eines amerikanischen Forschungsreisenden des 19. Jahrhunderts und den Briefroman eines britischen Musikers schließt sich ein Siebziger-Jahre-Thriller an, der dann in Form eines Manuskripts auf dem Schreibtisch eines Londoner Verlegers landet, bevor sich der Leser in einem düsteren Science-Fiction-Szenario wiederfindet und schließlich vom Ende der Welt liest. Thematische Klammer der verschiedenen Episoden ist für Mensing der schmale Grat zwischen Kultur und Barbarei. Beeindruckt hat ihn vor allem die "raffinierte" Architektur des Romans und sein "filigranes Gewebe" aus Zitaten und intertextuellen Verweisen. Eine mögliche Kritik an dem Roman findet er in dem Buch mit "entwaffnender Ironie und charmanter Selbstbezüglichkeit" vorweggenommen. So bleibt ihm nur noch die Feststellung: "Dieser durch und durch perfekte Roman braucht keinen Rezensenten. Vielleicht braucht er nicht einmal einen Leser."
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 24.01.2007

Für Kai Wiegandt stellt "Der Wolkenatlas" von David Mitchell ein kühnes Unterfangen dar, und er bescheinigt dem englischen Autor großes Potential, auch wenn er manche seiner Talente noch für entwicklungsfähig hält. Am meisten hat den Rezensenten die Konstruktion dieses Romans beeindruckt, in dem es in fünf verschiedenen Geschichten, die zwischen Anfang des 19. Jahrhunderts bis in eine ferne Zukunft spielen, um "Ausbeutung" in verschiedenen Ausprägungen geht. Mitchell erzählt diese fünf Geschichten chronologisch jeweils bis zur Hälfte, um sie dann rückwärts in die Vergangenheit laufend zu Ende zu bringen. So beginnt und endet dieser Roman, der ein Epos im engeren Sinn darstellt, weil er den Versuch unternimmt, statt Einzelschicksalen eine ganze Welt zu erfassen, wieder in der Vergangenheit, erklärt Wiegandt fasziniert. Nicht ganz so gelungen wie dieses originelle Konstrukt findet er die an Pynchon und DeLillo erinnernden Variationen des Erzähltons, der sich der jeweiligen Zeit und der Persönlichkeit der Hauptfigur der Episode anschmiegt. Hier fehlt es dem Autor noch an Tempo und Einfällen, kritisiert Wiegandt mild, der aber insgesamt durchaus für den Roman eingenommen ist.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 05.12.2006

Einen der herausragenden Romane des Jahrzehnts annonciert Rezensent Jürgen Brocan. Gleich sechs in Raum und Zeit verschiedene Erzählstränge führe das "ungeheure" Talent David Mitchell erst am Ende des Romans "trickreich" zusammen. Als gewissermaßen erwachsen gewordenen Postmodernismus beschreibt der Rezensent die abenteuerliche Konstruktion von Mitchells nun drittem Roman, der an "Chaos" nicht nur durch teilweise gemeinsames Personal anknüpfe. Auch die Themen Lüge und Ausbeutung seien erneut zentrale Anliegen des Autors. Die sechs Erzählungen sind zudem schon vor dem Finale "schicksalhaft" verbunden, da die Helden und Heldinnen den Text der zeitlich vorausgehenden Geschichten lesen würden. Wie beim Schmetterlingseffekt der Chaostheorie, so der Rezensent, führten solche Kontaminationen schließlich zu einem "comic-haften" Weltuntergangsfinale des Romans. Dieser David Mitchell, staunt und lobt der Rezensent, schreibe anspielungsreich, ohne aber Interpretationen mitzuliefern, er stecke voller "schnurriger" Ideen und liebe zudem dezent platzierte Seitenhiebe.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 04.10.2006

Bei allen Qualitäten einen Hauch zu virtuos findet Harald Fricke David Mitchells "Wolkenatlas", in dem sechs Erzählstränge zu einem Roman verstrickt werden: Vom Tagebuch einer Südseereise aus dem Jahr 1850 über einen Komponisten, der dieses in den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts entdeckt, hin zu einer Verschwörung der Atomindustrie in den Siebzigerjahren und in ein englisches Pflegeheim der Gegenwart sowie darüber hinaus zu zwei in der Zukunft angesiedelten Episoden. All diese Schichten sind "unauffällig und mit leichter Hand verschraubt" und haben einen jeweils eigenen, exakt getroffenen Ton, lobt der Rezensent. Jedoch bemängelt er das Fehlen einer Einheit stiftenden eigenen Erzählhaltung inmitten der Multiperspektivik: "Viele Stile, keine Ziele." Ein Übermaß an postmoderner Spielerei, bei zuwenig Substanz, findet er und schreibt Mitchell ein gestrenges "Ornament allein genügt nicht" ins Stammbuch. Talent ließe sich dem Autor bei alledem aber keineswegs abstreiten.