08.02.2002. Grau, sepia, blau und lang: Bertrand Taverniers "Laissez-passer". Menschelndes Roadmoavie aus Australien: "Beneath Clouds" von Ivan Sen. Kluge Zensoren hätten ihn verboten: Zang Yimous Film "Happy Times". Und die Sicherheitsleute der Berlinale geben eine Vorstellung als Draculas Kutscher.
Freitag, 18 Uhr
Grau, sepia, blau und lang: Bertrand Taverniers "Laissez-passer"
Vielleicht sollte man
endlich aufhören, Filme über diese Epoche zu drehen. Kann sich irgendjemand erinnern, in den letzten Jahrzehnten auch nur
einen gelungenen Film über die Nazi-Zeit gesehen zu haben? Im Gegenteil: Man sollte einmal darüber philosophieren, warum die
dramatischste Zeit unserer jüngeren Geschichte im Kino die
langweiligste ist.
170 Minuten! Nun hat sich also auch
Bertrand Tavernier, der schon so schöne, so elegische, so spannende Filme gemacht hat, an der Besatzungszeit die Finger verbrannt. Sein Film basiert auf den Erinnerungen Jean Devaivres, der in der von den Deutschen betriebenen Pariser Filmgesellschaft Continental als Assistent Maurice Tourneurs arbeitete. Eine andere Hauptfigur ist Jean Aurenche, ein Drehbuchschreiber, der berühmt war für seine Dialoge und Repliken. Der eine entscheidet sich endgültig, in die gaullistische
Resistance zu gehen, nachdem er erfahren hat, dass ein kommunistischer Freund von den Genossen an die Nazis verraten wurde - er hatte das unverzeihliche Verbrechen begangen, schon
vor 1941 Widerstand zu leisten, als die KP wegen des Hitler-Stalin-Pakts noch
kuschte. Der andere, Aurenche, wird als ein sympathischer, durchaus patriotischer Filou und Frauenheld dargestellt, der unter den Nazis arbeitet, aber auch darunter leidet.
Es ist der Versuch einer Ehrenrettung, der für jeden, der sich in der französischen Filmgeschichte nicht auskennt, etwas furchtbar Abstraktes haben muss: Aurenche, das war die Hassfigur der
Nouvelle Vague. Der "junge Husar" Francois Truffaut war in den fünfziger Jahren, lange bevor er Filme machte, durch eine Diatribe gegen Aurenche und sein
Cinema de qualite berühmt geworden. Tavernier dagegen kam aus einer anderen Kapelle, nicht von den "Cahiers de cinema", sondern von der Filmzeitschrift "Positif", die Aurenche, aber auch den Kommunisten und der "französischen Qualität" seinerzeit näherstand. In der französischen Öffentlichkeit haben die Verwalter des Nouvelle-Vague-Erbes durchaus noch Gewicht. Truffauts Verdikt gegen Aurenche, von dem er sich später selbst distanzierte, hängt dem Autor bis heute an. Aber wen interessiert es außerhalb der engeren Klüngel des französischen Kinos?
Der Film ist in den epochenüblichen Grau-, Sepia- und Blautönen gehalten. Er ist zerfahren zwischen guter politischer Absicht und der eigentlichen Insider-Lust Taverniers, sich in Szenenbildern berühmter Filme jener Zeit zu bewegen: Einmal wird gar eine Szene mit
Michel Simon nachgedreht - aber unter uns, wer kennt ihn hier noch? Tavernier ist ein zu guter Regisseur von Gegenwartsfilmen. Man sollte ihn vor seinen Nostalgien in Schutz nehmen.
Thierry Chervel "Laissez-passer", von Bertrand Tavernier, mit Jacques Gomblin, Denis Podalydes, Charlotte Kady, 170 Minuten.
Termine.
Homepage des Films.
Freitag, 13 Uhr
Beneath Clouds (Wettbewerb)
Australien ist groß, die Wege sind weit. Aber ist das ein guter Grund, eine nette kleine Kurzgeschichte auf Spielfilmlänge
auszuwalzen? Genau das nämlich hat der junge australische (Aborigine-)Regisseur Ivan Sen in seinem Debüt versucht. Der Plot lässt sich in zwei Sätzen erzählen: der junge
Aborigine Vaughn bricht aus einem Straflager aus, um seine sterbende Mutter in Sydney ein letztes Mal zu sehen, und die junge
Weiße Lena macht sich auf den Weg eben dorthin, sie sucht ihren Vater. Die beiden begegnen sich am Rande einer der langen staubigen Straßen durch spärlich besiedeltes Gebiet, auf denen sich der Rest von "Beneath Clous" vor allem abspielen wird.
Ein
Roadmovie also. Roadmovies haben den Vorteil, dass die Struktur - man geht oder fährt eben immer weiter - schon mal vorgegeben ist, und den Nachteil, dass diese Struktur, dramaturgisch gesehen, eher eine Nicht-Struktur ist. Es geht eben auch immer einfach nur weiter, man begegnet anderen Menschen, mal wird's gefährlich, mal komisch, das ganze ist beliebig metaphorisch oder spirituell aufladbar. Die
Spiritualität hält sich diesmal in Grenzen, leicht Heaven-geschädigt ist man dafür wenigstens dankbar. Jedoch
menschelt es um so mehr, die beiden kommen sich näher, diskutieren
Rassenfragen und werden am Ende doch zum Symbol der möglichen Annäherung von Schwarz und Weiß.
Über längere, entschieden zu lange Strecken passiert in "Beneath Clouds" aber fast gar nichts. Sen präsentiert die australische Landschaft in
tourismusfreundlich schönen Bildern, hat auch die meist schlicht illustrative Musik ko-komponiert, die beiden Jungdarsteller in ihren ersten Rollen sind gerade in ihrer etwas
unbeholfenen Verstocktheit sehr überzeugend. Beneath Clouds ist beileibe kein ganz schlechter Film, für ein Debüt sogar bemerkenswert. Ob man Ivan Sen einen großen Gefallen damit getan hat, ihn gleich in den Wettbewerb der Berlinale zu schicken, das wird man aber fragen dürfen.
Ekkehard Knörer (von
Jump-cut)
Beneath Clouds, von Ivan Sen, mit Danielle Hall, Damian Pitt, Jenna Lee Connors und Simon Swann, 85 Minuten
Foto: Verleih
Termine Freitag, 12 Uhr
Heute in der Presse: Großes Thema in den Berlinale-Berichten ist bereits "Laissez-passer", der Film von
Bertrand Tavernier, der vom französischen Kino unter der
deutschen Besatzung handelt und heute gezeigt wird. Im
Tagesspiegel schreibt Ralph Eue bereits recht
ungnädig: "Trotz umfassendster Vertrautheit,
nobelster Absichten und größter Anstrengungen atmet 'Laissez-Passer' über weite Strecken die
Steifheit und Kälte eines
ungeheizten Ateliers."(Mehr Berlinale-Berichte im
Tagesspiegel hier) In der
taz weiß Dorothea Hahn aus Paris: "Entgegen den Beteuerungen der offiziellen Europäer ist das Kapitel des NS-Regimes, der Besatzung und des Widerstandes noch lange nicht 'umgeblättert'." (Mehr zur Berlinale in der
taz hier) In der
FAZ hat Michael Althen dazu ein
Interview mit Bertrand Tavernier geführt, das leider nicht im Netz steht.
Über
Zhang Yimous Wettbewerbsfilm "Happy Times"
schwärmt Anke Sterneborg in der
SZ, er "lässt die Szenen mit einer verspielten
Leichtigkeit ineinander fließen, die noch keiner seiner Filme aufwies". In der
FR sieht Heike Kühn in diesem Film erstmals eine Generation auftreten, die "die chinesische
Lebenslüge ins unverhofft
Gute wendet".
Sehr
gut bespochen wird in SZ und FAZ
Paul Greengrass' "Bloody Sunday" über jenen Sonntag im Januar 1972, an dem britisches Militär in der Stadt
Derry 13 Demonstranten erschoss. "Die Luft ist elektirisert in diesen Bildern, fast meint man, die sprühenden Funken auf der Haut zu spüren",
heißt es in der
SZ. Michael Allmeier lobt in der
FAZ (leider nicht im Netz) die besonders die Bildführung von
Ivan Strasburg.
Von
Amos Kolleks neuem Film "Bridget" sind taz und Tagesspiegel restlos enttäuscht. "Ein seltsam
uninspirierter Film, in dem das Elend schon eine gewisse
Routine hat",
findet Birgit Glombitza in der
taz. Im
Tagesspiegel moniert Jan Schulz-Ojala die
abstruse Geschichte und dass "Thomsons fragil-groteske
Schönheit zur Karikatur" verzerrt werde. Die
Berliner Zeitung findet den Film zudem "selten berührend, häufig
frivol".
Freitag, 10 Uhr
Happy Times (Wettbewerb)
Der
Potsdamer Platz ist praktisch dafür gemacht,
chinesische Filme zu zeigen. Wenn er das Kino verlässt, fühlt sich der Zuschauer nicht weniger fremd als in einer chinesischen Großstadt. Die sehen auch oft aus, als wären sie an einem Tag entstanden. Nur dass man hier zwischen all den neuen Gebäuden nicht plötzlich von einem bemalten Papierdrachen gejagt wird. Aber die Sicherheitsleute vor dem Berlinale-Palast in ihren schwarzen Capes mit den hohen roten Kragen, die aussehen wie
Draculas Kutscher, sind keinen Deut weniger fremdartig. Auf meinen befremdeten Blick antwortet einer mit "Buh".
Und dann das: In
Zhang Yimous neuem Film
"Happy Times" fühlt man sich als Europäer überhaupt nicht fremd. Die Personen könnten auch aus einem französischen oder amerikanischen Film kommen. Der Rentner Zhao sucht über eine Anzeige eine Ehefrau,
eine Dicke, die ihn nachts warmhält. Die Dame, die sich ihm präsentiert, ist sehr dick. Sie hat einen Sohn, der noch dicker ist und eine Stieftochter, deren erster Auftritt einem die Sprache verschlägt: Jung, mager, hilflos und widerborstig schlurft sie ins Zimmer. Sie ist so
dürr, dass ihr Schamhügel sich als einzige Rundung unter der weißen Baumwollunterhose abzeichnet. Wu Ying ist blind. Doch gegen die Tyrannei der Stiefmutter wehrt sie sich mit den einzigen Mitteln, die sie hat:
Schroffheit und Verachtung.
Die Dicke schiebt das Mädchen erfolgreich an Zhao ab. Der hat ihr nämlich vorgemacht, er sei Besitzer eines Hotels. Wu Ying soll dort als Masseuse arbeiten. Zhao, der in Wirklichkeit bettelarm ist, ist sauer. Was soll er mit ihr anfangen? Außerdem findet er das Mädchen reichlich
unverschämt. Wie die zwei sich dann miteinander anfreunden und wie Zhao mit seinen Freunden - ebenfalls alles mittellose Rentner - ein grandioses
Täuschungsmanöver inszeniert, um dem Mädchen vorzutäuschen, sie arbeite tatsächlich als Masseuse in einem Hotel, das könnte auch der Stoff für eine amerikanische Filmkomödie sein. In Amerika hätte der Film allerdings ein Happy End.
Es heißt, dass Zhang Yimou mal wieder Probleme mit der
Zensur hatte, weil seine Geschichte unter
armen Leuten spielt. Das hätte niemanden beunruhigen sollen. Das Erstaunliche an dem Film ist, wie es der Regisseur schafft, seine Helden in einem Raum voller Menschen als Individuen auszuzeichnen. Das Mädchen, abgesondert durch seine Blindheit, scheint sich auch unter Menschen in einem eigenen Raum zu bewegen. Nur einmal darf Zhao diesen Raum betreten: Die beiden stehen auf einer belebten Einkaufsstraße. Sie haben gerade das erste Mal eine freundliche Unterhaltung geführt. Wu Ying will jetzt wissen, wie Zhao aussieht. Mitten auf der Straße fängt sie an, sein Gesicht
abzutasten. Zhang Yimou hat die Szene aus einiger Entfernung aufgenommen. Passanten strömen an dem Paar vorbei, drehen sich um, gucken unsicher in die Kamera. Aber die beiden stehen da und merken nichts. Sie sind nicht Teil der Menge. Kluge Zensoren hätten diese Szene verboten.
Anja Seeliger
Happy Times, von Zhang Yimou, mit Zhao Benshan, Dong Jie, Fu Biao u.a. 96 Minuten.
Termine