Heute in den Feuilletons

Päckchen mit Diddlmäusen und Kuschelhasen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.12.2012. Die Kunstgeschichte versagt im Internet, meint Jim Cuno vom J. Paul Getty Trust In The Daily Dot. In The American Scholar erklärt William Deresiewicz, was einen Intellektuellen von einem Akademiker unterscheidet. Und unvermeidlich in diesen Tagen: Weihnachten. The Daily Beast erzählt, warum Camille Paglia Christopher Hitchens so wenig mag: Er hat Religion kritisiert. Dennoch kreieren wir einen eigenen und unverwechselbaren Weihnachtssound. So dass selbst Richard Sennetts Sohn an den Weihnachtsmann glaubt.

NZZ, 24.12.2012

Martin Meyer denkt über die Beschleunigung der Zeit nach, über die kommunikative Überfütterung und den Verlust an Gestaltungsmacht: "Im Hintergrund dämmert eine gewisse Ermüdung, derweil es umgekehrt just darauf ankäme, Orientierung zu gewinnen, um die Zukunft zu packen. Soziologen sprechen schon länger von einem rasenden Stillstand. Eine letzte Bastion von Autorität beansprucht der Staat, der nunmehr dafür einzustehen hätte, dass wenigstens die Grundausstattung eines anständigen Daseins gewährleistet bleibt. Mit Freiheit und Eigenkraft hat dies wenig zu tun."

Weiteres: Uwe Justus Wenzel liest Thomas Hauschilds Geschichte des Weihnachtsmanns und erinnert auch an die - natürlich vom katholischen Klerus initiierte - Verbrennung des Père Noël 1952 auf einem Scheiterhaufen in Lyon. Der Schriftsteller Norbert Hummelt erzählt vom "Winter des Jahrhunderts", 1962/1963, als sogar der Rhein zufror.

Aus den Blogs, 24.12.2012

Die bekannte Feministin (oder Postferministin?) Camille Paglia basht den armen toten Christopher Hitchens, lernen wir in einer Kritik ihres letzten Buchs in The Daily Beast: Hitchens' Kritik an Religion sei so modisch. Und so schlecht für die Kunst: "That cynical posture has become de rigueur in the art world-simply another reason for the shallow derivativeness of so much contemporary art, which has no big ideas left."

Kunstgeschichte versagt im Internet, meint Jim Cuno vom J. Paul Getty Trust In The Daily Dot. Zwar nütze man das Netz zur Selbstdarstellung und Akquise von Publikum: "But we aren't conducting art historical research differently. We aren't working collaboratively and experimentally. As art historians we are still, for the most part, solo practitioners working alone in our studies and publishing in print and online as single authors and only when the work is fully baked. We are still proprietary when it comes to our knowledge. We want sole credit for what we write."

Pünktlich zu Weihnachten stellt William Deresiewicz im American Scholar noch einmal klar, was einen Intellektuellen von einem Akademiker unterscheidet: "An intellectual is not an expert, and a public intellectual is not an expert who condescends to speak to a wider audience about her area of expertise. An intellectual is a generalist, an autodidact, a thinker who wanders and speculates. As Jack Miles puts it in a stellar essay on the question, 'It takes years of disciplined preparation to become an academic. It takes years of undisciplined preparation to become an intellectual.'"

Welt, 24.12.2012

Die Übersetzerin Claudia Ott erzählt im Interview, wie sie das Manuskript zu "101 Nacht" entdeckte und was es damit auf sich hat: "Ich fühlte mich wie eine Archäologin, die einfach so einen Schatz findet. Ich hatte ja nicht danach gesucht. Ich bin auch nicht die Erste, die diese Handschrift gesehen hat. Aber ich konnte wohl als Erste erkennen, was für eine wissenschaftliche und literarische Sensation darin steckt. Diese Version von '101 Nacht' ist das bei Weitem älteste Textzeugnis, sie ist fast 600 Jahre älter als alle bislang bekannten Handschriften. 15 der 17 Geschichten in dieser Handschrift sind im Deutschen bisher völlig unbekannt."

Weiteres: Suhrkamp hätte einfach auf Hans Barlachs "Erlösungsbedürftigkeit" reagieren müssen, lernt Tilman Krause aus dem Interview der SZ mit Rainald Goetz (mehr hier). Karl-Heinz Göttert erklärt, warum der Geburtstag des Herrn vom Januar in den Dezember verlegt wurde. Manuel Brug stellt Gustav Kuhns Festspielhaus im Tiroler Dorf Erl vor, das am 26. Dezember eröffnet wird. Wolf Lepenies schreibt zum Tod von Peter Wapnewski. Besprochen wird Herbert Fritschs Inszenierung von Gogols "Revisor" am Münchner Residenztheater.

Aus den Blogs, 24.12.2012

Und, Weihnachtsbaum schon geholt, alle Geschenke besorgt? Dann viel Spaß mit unseren weihnachtlichen Fundstücken aus den Weiten des Netzes:

Keine Lust auf Selber-Singen? Joko & Klaas sollte man lieber nicht zum scheußlichen Vorsingen bestellen, besser fährt man mit den Liedern, die Indie-Musiker und Weihnachtsfanatiker Sufjan Stevens bei Bandcamp zusammengestellt hat. Und hier haben emsige Blogger die "12 Discs of Christmas" gesammelt - mit Video- und Hörbeispielen. Weit weniger traditionell, dafür indie-elektronisch fiepsend und surrend geht es auf der dritten "Christmas Compilation" zu, das uns das Netlabel Totokoko zu Weihnachten schenkt (hier die erste und die zweite).

In Focus erzählt in großen Bildern, wie man weltweit Weihnachten feiert. Einige hübsche Weihnachtspostkarten aus der Sowjetunion finden wir hier. Hier (aber auch hier) lässt sich's mit dem Weihnachtsmann ins All reisen. Wer darauf keine Lust hat, fand ihn vermutlich schon immer ziemlich gruselig. Tom Sutpen bringt einen Weihnachtsbaum von Andy Warhol. Besser spät als nie: Auch Fritz Lang und sein Filmteam von "Metropolis" übermitteln zum Feste nur das Beste. Rita Hayworth will dem in nicht nachstehen und dekoriert schon mal den Baum. Deutlich neumodischer: Christmas GIFs in rauhen Menge im gleichnamigen Blog. Beim Retronaut finden wir unterdessen die erste kommerzielle Weihnachtskarte aus dem Jahr 1843:



Falls es heute Abend keine Geschenke gibt, liegt der Weihnachtsmann wohl gerade in Florida in der Sonne oder watet im Wasser (oder aber seine Strategie ging am Ende doch nicht auf). Bei Public Domain Review gibt es einen tollen Artikel über den Weihnachtsmann in allerlei Illustrationen im Laufe der Zeit. Sehr schön ist etwa diese japanische Illustration aus dem Jahr 1914:



Kein Weihnachten ohne Charles Dickens' "Christmas Carol"! Bei archive.org finden wir eine schöne illustierte Ausgabe zum Online-Schmökern. Bereits im letzten Jahr empfahlen wir zu Weihnachten die von Vincent Price gelesene Fassung, außerdem gibt es auf youtube eine Verfilmung aus Stummfilmzeiten:



Leben wir im "goldenen Zeitalter der animierten Weihnachtsgrußkarten"? Zumindest Cartoon Brew stellt diese Behauptung auf und versammelt zahlreiche kurze, liebevolle, freche Grüße diverser Animationsstudios. Und bei Animated Review finden wir noch viele weitere.

Bizarres
aus dem Keller der Filmgeschichte: In diesem Spektakel legt sich der Weihnachtsmann mit den Marsianern an. Der mexikanische Trashfilm "Santa Claus versus the Devil" wiederum ist so zuckersüß auf niedlich getrimmt, dass es schon wieder weh tut. Auch Insekten feiern Weihnachten, erfahren wir in dieser Kostbarkeit des russischen Animationsfilms von 1913 (mehr Kuriositäten hier bei BoingBoing):



Na, dann: Ab unter den Weihnachtsbaum! Der Perlentaucher wünscht schöne Feiertage!

TAZ, 24.12.2012

Die taz stärkt die eher unbesinnliche Seite von Weihnachten. Autorin Sarah Khan zum Beispiel erzählt, wie niederschmetternd Heilig Abend in St. Pauli ist: "Die Matrosen sitzen Heiligabend auf hoher See vor ihren Radios, hören im Rundfunk die Weihnachtsgrüße der Angehörigen, so herzergreifend mit sentimentalen Männerchorwerken versetzt, dass es dem härtesten Freier die Auslagen in der Herbertstraße vermiest. Die Nutten, allein unter sich, packen derweil Päckchen mit Diddlmäusen und Kuschelhasen für ihre grenzdebilen Kinder, um die sie sich sonst einen Scheiß scheren. Zur Weihnacht kocht im sankt-paulianischen Gemüt ein besonders schleimiger Sud, der den Körper fast auf menschliche Temperatur bringt. Falls aber ein Nuttenfingernagel beim Einpacken der Geschenke abbricht, ergeht ein Orkan an Verwünschungen über die Diddlmaus, und es zeigt sich, wie schwarz die Milieuseele wirklich ist. "

Der Soziologe Richard Sennett lehnt im Interview das Konzept Weihnachten recht grundsätzlich ab: "Für mich ist das alles nur Mythologie. Weihnachten ist einfach ein schöner Tag, um spazieren zu gehen. Ich habe meinem Sohn nie erzählt, dass es den Weihnachtsmann gibt. Er hätte mir das sowieso nie geglaubt."

Außerdem unterhält sich Kai Schlieter über den Horror Familienfest mit Klaus Witt, der dreißig Jahre lang im Gefängnis gesessen hat. Zu Wort kommen auch Grünen-Chefin Claudia Roth ("Ich bin die alte Perlenkette"), der Walfänger-Jäger Paul Watson, die Theologin Ellen Ueberschär und der alternative Investmentbanker Alfred Platow. Isolde Charim geht der Frage nach, ob eher Kinder oder Erwachsene am Weihnachtsmann hängen.

Und Tom.

SZ, 24.12.2012

In einer Freisinger Ausstellung über Jesusfiguren in Frauenklöstern erfährt Rudolf Neumaier einiges über die mütterliche Beziehung, die Nonnen zu den von ihnen umgehegten "Trösterlein" entwickeln. Jazz-Saxofonist Heinz Sauer gesteht Karl Lippegaus, dass er kaum noch Jazz hört, da diesem "seine Emotionalität, seine Vitalität" abhanden gekommen sei. Fritz Göttler gratuliert dem Avantgarde-Filmemacher Jonas Mekas zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden Ang Lees Verfilmung von Yann Martels Roman "Schiffbruch mit Tiger", Lutz Hübners Stück "Richtfest" am Schauspiel Bochum, ein Konzert der Berliner Philhamoniker unter Kirill Petrenko (dessen "traumwandlerische Intensität und Präzision des Hörens und Gestaltens ... an Grenzen des noch Möglichen" reichen, schwärmt Wolfgang Schreiber), Herbert Fritschs Gogol-Inszenierung "Der Revisor" am Münchner Residenztheater und Thomas Hauschilds Buch "Weihnachtsmann. Die wahre Geschichte" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 24.12.2012

Zu Weihnachten mahnt Nils Minkmar, das Phänomen des Burnout nicht als ein privates, sondern als ein "ein gesellschaftliches, ein ökonomisches, ideologisches, kurz: ein politisches Problem" zu verstehen und zu bekämpfen. Swantje Karich fragt sich in der Leitglosse, ob man Institutionen wie den Frankfurter Kunstverein tatsächlich noch braucht. Hannes Hintermeier hat bei einigen Verlegern zu Suhrkamp nachgefragt - sie rufen wie erwartet zu Vernunft und Rettung des Hauses auf. Andreas Platthaus erzählt die Geschichte des Hauses Suhrkamp als ein kurzes Märchen. Mark Siemons konstatiert Verwirrung in der chinesischen Blogggerszene nach der Entscheidung der Zensurbehörden, den an sich verbotenen Film "V for Vendetta" der Geschwister Wachowski im Staatsfernsehen zu zeigen. Dieter Bartetzko besucht die neue, vom Kölner Büro Kister Scheithauer Gross entworfene Synagoge in Ulm. Tilman Spreckelsen schreibt zum Tod des Germanisten Peter Wapnewski.

Besprochen werden Ang Lees Verfilmung von Yann Martels Roman "Schiffbruch mit Tiger" in 3D (mehr hier) und ein Buch des Papstes.