Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.09.2003. In der FAZ rechnet A.L. Kennedy nach, wie viel Blut an Tony Blairs Händen klebt: 47 940 Liter. In der SZ verabschiedet sich Per Svensson vom Astrid-Lindgren-Land. Die NZZ berichtet, wie in den USA mit Verschwörungstheorien Pingpong gespielt wird. Die taz analysiert die "manichäische Licht-Finsternis-Symbolik" des Osama bin Laden.

FAZ, 12.09.2003

Blut, überall Blut. Die britische Schriftstellerin A. L. Kennedy (mehr) macht die makabre Rechnung auf (hier Kennedys Blood Count im Original im britischen Guardian), wie viel Blut nach dem Irak-Krieg an Tony Blairs Händen klebt - natürlich nur im britisch zurückhaltenden, also übertragenen Sinne. Aber auf den Liter genau. Erster Posten sind die irakischen Zivilisten. "Der menschliche Körper enthält im Schnitt viereinhalb Liter Blut. Da die Iraker aber (aufgrund von Hunger und Streß und weil sie Arabisch sprechen) diverse gesundheitliche Probleme hatten, sollte man vielleicht vier Liter pro Erwachsenen berechnen ..." Letzter Posten sind die Briten. "Dr. Kellys Beitrag nicht mitgerechnet, kommen wir also auf eine Gesamtmenge von mindestens 47 940 Litern Menschenblut, die an Blairs Händen kleben, den Händen des Mannes, der nach wie vor unser Land regiert - Blut, das ich nicht anders sehen kann als einen dunklen, gerinnenden See von Elend und Verlust, in dem unser Premierminister ertrinkt."

Schwere Geschütze: Der Theologe Klaus Berger (ein Interview) rechnet mit dem alltagsfernen Mythos von der Ökumene ab, für ihn ist der heutige Ökumenismus nichts anderes als ein "Nachfolgemythos des Sozialismus", eine "wirklichkeitsfeindliche Fata Morgana, die konkrete Begegnungen vermeiden hilft. Man darf bescheiden fragen, wie denn die Schwärmerei von der Gleichheit aller Religionen sich auf das Verhältnis zur nächsten Türkenfamilie in der Nachbarschaft auswirkt."

Weitere Artikel: Joachim Müller-Jung vermutet, dass der Nationale Ethikrat auf eine deutsche Biobank hinarbeitet, die sich an dem britischen Vorbild orientieren soll. Das deutsche Intendantentheater, schimpft "G. St." im Kommentar, ist weniger eine Sacher der Kunst als glatter Hosenböden. Überwiegend ermüdend fand Oliver Jungen das sechste "Deutsch-Israelisch-Palästinensische Autorentreffen" in Idar-Oberstein. Andreas Platthaus gratuliert dem Tübinger Philosophen und Ethiker Otfried Höffe (mehr) zum Sechzigsten. Ebenso alt wird der poetische Weltschriftsteller Michael Ondaatje (mehr), vor dem sich Felicitas von Lovenberg verneigt. Tobias Döring schreibt zum Tod des englischen Lyrikers C. H. Sisson (hier der Nachruf im Guardian) der seinen Grabspruch glücklicherweise selbst verfasste: "Here lies a civil servant. He was civil / To everyone, and servant to the devil." "hhm" meldet zudem, das Random House sein Bücher bald in Supermärkten verkaufen will.

Die Medienseite gehört ganz dem Fußball, beziehungsweise den Kommentatoren: Die FAZ geht in zahlreichen Kurzporträts dem Wesen von Netzer, Delling, Hartmann & Co auf den Grund. Netzer etwa ist "Materialist", Hartmann natürlich der "Duzer". Hans Heinrich Obuch freut sich dagegen, dass nach dem Sieg der Nationalmannschaft jetzt wieder alle - Fußball, Fernsehen und Nation - vereint sind.

Auf schönste Weise und auf der letzten Seite vereint das restaurierte Schloss Köpenick (mehr zu den Arbeiten) Klassizismus und Barock, informiert uns Ilona Lehnhart. Dieter Bartetzko singt ein Loblied auf die Tatkraft des obersten deutschen Denkmal-Aktivisten Günter Kiesow. Jürgen Kaube warnt die Hochschulen vor den Politikern und ihren maßlosen Spargelüsten.

Besprochen werden Tom Schreibers Filmdebüt "Narren", Kris Defoorts überzeugend in Szene gesetzte Oper "The Woman Who Walked into Doors" bei der Ruhrtriennale, Grzegorz Jarzynas Firlefanz-Inszenierung von Brechts "Dickicht" an der Berliner Schaubühne, und Bücher, darunter Artur Daniel Liskowackis in Polen vielbeachteter Roman "Sonate für S.", Egon Flaigs Untersuchung über "Ritualisierte Politik" im Alten Rom sowie zwei brillant skeptische Studien über die Heilsversprechen der modernen Medizin (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 12.09.2003

Andrea Köhler berichtet von der Welle an Bezichtigungsliteratur, die derzeit den amerikanischen Büchermarkt überschwemmt - von Ann Coulters "Liberale Lügen über die amerikanische Rechte" bis zu Al Frankens "Lies And The Lying Liars Who Tell Them". "Glaubt man diesen Bestsellern, haben sowohl rechte Think-Tanks als auch linke Lobbyisten, Rupert Murdoch und das Weisse Haus oder auch die 'jüdische Elite' Medien, Markt und Politik im Griff. Wobei beide Seiten selbstverständlich keine Mittel scheuen, die Berichterstattung 'gleichzuschalten'. Das Pingpongspiel mit Verschwörungstheorien ist ein eingespieltes Ritual." Coulters Vorschlag allerdings, das Redaktionsgebäude der New York Times (für Coulter die "Bagdad Times") in die Luft zu jagen, fand allerdings selbst bei Freunden wenig Beifall.

Carsten Krohn sieht das Hochtief-Hochhaus in Frankfurt in Gefahr. Der Konzern will den von Architekt Egon Eiermann entworfenen und bislang denkmalgeschützten Wolkenkratzer abreißen lassen. Paul Jandl berichtet, wie der neue Direktor Wolfgang Kos das Historische Museum in Wien auf Vordermann bringen will.

Besprochen werden Ausstellungen des belgischen Konzeptkünstlers Marcel Broodthaers in Wien und Köln und neue Filme, darunter John McTiernan "Basic", Nigel Coles "Calendar Girls" und "Okay" von Jesper W. Nielsen.

TAZ, 12.09.2003

Als "mönchischen Dissidenten" interpretiert Arno Frank die Inszenierung von Osama Bin Laden seiner selbst auf dem jüngst in Umlauf gebrachten Video: "Pünktlich zum Jahrestag der Attentate läuft die USA als bestens geschmierte Bildmaschine im roten Bereich. Und was macht Osama Bin Laden, der große Widersacher der Weltmacht? Pünktlich zum Jahrestag zeigt sich der Erzterrorist bei einer beschaulichen Bergwanderung." Bin Laden stilisiere sich damit als einer, der "der von ihm bekämpften Zivilisation abgewandter nicht sein könnte. Wie ein moderner Zarathustra bedient sich Bin Laden einer manichäischen Licht-Finsternis-Symbolik, um sich als wichtigsten Gegner einer gottlosen Modernität in Erinnerung zu bringen."

Auf der Meinungsseite räsoniert Werner Bergmann anlässlich immer wiederkehrender Antisemitismusdebatten von Martin Walser bis Ted Honderich über Nutzen und Logik des Skandals. "Wer antisemitische Einstellungen ins Latente abdrängt, indem er ihre öffentliche Äußerung riskant macht, bestärkt das Stereotyp vom großen jüdischen Einfluss. (...) Doch die Kommunikationslatenz wurde (und wird) immer wieder durchbrochen. Und dieser Bruch der Norm des Anti-Antisemitismus kann zum Skandal gemacht werden. Dies ist relativ leicht und für den Skandalisierer auch meist ohne Risiko möglich, da Antisemitismus seit 1945 als Symbol für das moralisch Böse gilt."

Auf den Tagsthemenseiten wird mit einem Interview mit Intendant Michael Schindhelm und einem Bericht das neue Opernhaus in Erfurt inauguriert. Als "Vatersucherin" porträtiert Sandra Löhr Sophie Templer-Kuh, die Tochter des Anarchisten und Psychoanalytikers Otto Gross (mehr zu beiden hier).

Auf den Kulturseiten bewertet Esther Slevogt schließlich zweimal Brecht: einmal im "Retro-Look" am Berliner Ensemble und einmal "anders" an der Schaubühne. Ziemlich langweilig fand Thomas Winkler ein Berliner Konzert der Fantastischen Vier, die "mit Streichern" rappten ("Nö, nö, HipHop war das bestimmt nicht"). Susanne Messmer bespricht das neue Album der Berliner Sängerin Peaches, die sich "als Femme fatale und gitarrenbewaffnetes Flintenweib" inszeniere - und es klappt! Und Andreas Merkel feiert das zweite Album der britischen Band Zoot Woman gleichen Namens als "Meisterwerk".

Und hier TOM.

FR, 12.09.2003

"Hurra! Es geht aufwärts", weiß Knuth Hornbogen von der Tagung des "International Council of Societies of Industrial Design" in Hannover zu berichten. Einen mitreißenden Auftritt habe der Philosoph Slavoj Zizek aus Ljubljana gehabt, der die Designer aufforderte, "unsichtbare Mechanismen zum Vorschein bringen". Was er noch einmal am Beispiel der Toilettenschüssel exemplifizierte: "Denn es könne ja kein Zufall sein, dass ausgerechnet die deutschen Toilettenbecken die Exkremente zur Ansicht präsentierten - gelten die Dichter und Denker doch als Analytiker. Ganz anders die Franzosen. Sie würden ihre Ausscheidungen, ganz im Sinne revolutionärer Entschlossenheit, im Plumpsklo herunterspülen. Was sie wiederum von den Engländern unterscheidet. Die betrieben nämlich sanitäre Anlagen, welche höchst ökonomisch auf Effizienz getrimmt sind."

Weiteres: Ina Hartwig unternimmt einen "literarischen Streifzug" durch Sankt Petersburg und Moskau. Dort hat sie unter anderem erfahren, dass kleine Auflagen nicht mit Leserschwund, sondern inzwischen "stark individualisierten" Leserinteressen zusammenhingen. Zur Interpretation steht heute der Adorno-Satz: "Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen", den Dirk Baecker in Zusammenhang mit dem (von Lichtenberg stammenden und in den "Minima Moralia" als Zwischenüberschrift auftauchenden) Begriff "Zwergobst" bringt. Verena Mayer verfolgte einen "trostlosen" Prozess gegen eine Frau, die die Wohnung einer anderen Frau in Brand gesetzt haben soll. Frank Keil dagegen freut sich, dass Harald (Schmidts ihr Harald, in diesem Falle) nach der Sommerpause endlich wieder antritt.

Besprochen werden eine große Dürer-Ausstellung in der wiedereröffneten Albertina in Wien, eine Inszenierung von Brechts "Im Dickicht der Städte" an der Berliner Schaubühne und Tom Schreibers "surrealistischer Karnevalsfilm" "Narren" und Politische Bücher: drei Publikationen zur Armut von Kindern, Hans-Jürgen Heinrichs Analyse "Die gekränkte Supermacht. Amerika auf der Couch" und der Rückblick der AG Grauwacke auf 23 Jahre "Autonome in Bewegung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 12.09.2003

Der Feuilletonchef der schwedischen Abendzeitung Expressen, Per Svensson, hofft, dass seine Landsleute nach dem Mord an Anna Lindh nun endlich in der gewaltsamen Realität angekommen sind. Denn viele glaubten immer noch, in einem friedlichen Resort zu leben. "Als wäre Gewalt und Mord etwas grundsätzlich Unschwedisches, als wäre in Schweden nicht schon ein Ministerpräsident auf offener Straße umgebracht worden, als wäre das Land nicht in den neunziger Jahren von zahlreichen rassistischen und neonazistischen Gewalttaten erschüttert worden, als wären die Krawalle beim EU-Gipfeltreffen in Göteborg vor zwei Jahren nicht selbst nach kontinentalen Maßstäben extrem brutal gewesen, als wäre Schweden immer noch ein Astrid-Lindgren-Land."

Ist der Zionismus am Ende?, fragt der ehemalige Sprecher der Knesset, Avraham Burg. Seine Antwort fällt eindeutig aus: "Israels derzeitiger Premierminister verkörpert beide Seiten der Medaille: moralische Fragwürdigkeit sowie offene Missachtung der Gesetze - gepaart mit der Brutalität der Besetzung und dem Niedertrampeln jeder Chance auf Frieden. Die einzig mögliche Schlussfolgerung lautet, dass die zionistische Revolution tot ist."

Als "Kulturinstitution" und "Gesellschaft der heiteren Melancholiker mit beschränkter Haftung" porträtiert Thomas Steinfeld den Hanser-Verlag in seiner durchaus liebevollen Gratulation zu dessen 75-jährigem Bestehen ("Wollte man ein Wort finden, das all diese Eigenschaften programmatisch erfasst, so müsste man sagen: Dieser Verlag kultiviert die 'mittlere Schwere'"). Dorothee Müller berichtet über ein Treffen von 600 internationalen Designern in Hannover, und Alexander Kissler resümiert das Weltfriedenstreffen in Aachen. Burkhard Müller erklärt die immens wichtige italienische Einrichtung der "bella figura" - sehr (und schön) philosophisch heute. "Kalt" ließen Holger Liebs die Inszenierungen der IAA in Frankfurt. Nichtsdestotrotz arbeitet er sich akribisch und scheinbar widerspruchsfrei an einer Analyse des Gesehenen ab ("Innerlichkeitspathos will jedenfalls beim Veyron noch nicht aufkommen").

Zur regelrechten Huldigung gerät Heribert Prantels Gratulation zum 95. Geburtstags seines ehemaligen Rechtsprofessors Werner Flume. Carl-Friedrich von Weizsäcker würdigt in einem kurzen Nachruf Edward Teller. Gemeldet wird, dass Mario Adorf nebst weiterer Mitinitiatoren (darunter SZ-Chefredakteur Hans Werner Kilz) die Wormser Festspiele verlassen werden, sollte Dieter Wedel tatsächlich deren Intendant werden (hier); dass Claus Peymann in Berlin bleiben will (hier); und dass der diesjährige Journalistenpreis des Deutschen Anglistenverbandes an Sigrid Löffler (hier) geht.

Besprochen werden eine "großartige Retrospektive" von Rudolf Wachter in der Hypo-Kunsthalle München, das Festival Ars Electronica in Linz, drei Bände von und über Heidegger, ein "Lexikon der Gegenwart" als Sonderausgabe der gerade verkauften Schweizer Monatszeitschrift DU und eine CD-Version der Forsythe Saga (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).